Ausgabe

Wie Augenzeugen das Novemberpogrom erlebten

Gerhard Strejcek

Über Tatorte, Opfer und Schicksale des Nazi-Terrors 1938

Inhalt

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten im ganzen Deutschen Reich die Synagogen, hunderte Menschen wurden vom Mob verletzt oder getötet, durch Zerstörungen jüdischer Geschäfte entstand ein Schaden in dreistelliger Millionenhöhe Reichsmark. Zynisch wie der „zweite“ Mann nach Adolf Hitler, Hermann Göring, eingestellt war, liess er die Versicherungsprämien durch eine den Juden auferlegte Steuer refinanzieren.

 

Anlass für das Pogrom, das in diesem Ausmass in Europa kein Vorbild kannte, war die Ermordung eines deutschen Diplomaten in der deutschen Botschaft von Paris. Der als Bote getarnte 17-jährige, polnisch-stämmige, aber in Deutschland aufgewachsene Herschel Feibel Grynszpan, hatte am 7. November 1938 aus Rache den Legationsrat Ernst Eduard vom Rath erschossen. Der junge Mann hatte aus eigenem Antrieb gehandelt, er hatte sich aus der Obhut seines Pariser Onkels, zu dem er aus Hannover geflohen war, in ein Hotel begeben und war am nächsten Morgen unter dem Vorwand, eine wichtige Postsendung zu liefern, bis zum Legationsrat vorgedrungen, der ihn ansonsten, als einfache Partei und Bittsteller, gar nicht empfangen hätte. Grynszpans Eltern waren im Niemandsland an der Ostgrenze des Deutschen Reichs gestrandet, weil Polen die ausgewiesenen Juden nicht aufnehmen wollte. Diese unmenschliche Behandlung seiner Eltern, für die er die Deutschen verantwortlich machte, hatte den Täter zutiefst erbittert. Er wurde nach der Besetzung Frankreichs im Mai 1940 nach einigen Monaten vom Vichy-Regime ausgeliefert, zweimal scheiterte eine Anklageerhebung vor deutschen Gerichten. Das Schicksal des jugendlichen Straftäters ist im Detail unbekannt, die Spuren enden im KZ Sachsenhausen, wo Grynszpan 1943 ermordet worden sein dürfte. Für seine Eltern bedeutete es eine weitere Qual, dass sie 15 Jahre auf die Todeserklärung warten mussten.

 

Obwohl kein Kollektiv hinter der im Ausland verübten Tat stand und obwohl die meisten Juden im Reich den Mord verurteilten und für eine unnötige Provokation hielten, trat Hitler eine Racheaktion gegen alle Glaubensgenossen des Attentäters los. Das Deutsche Reich hatte sich während der fünfjährigen NS-Herrschaft bereits weit von einem Rechtsstaat fortentwickelt. Das zeigte sich unter anderem darin, dass gegen den Attentäter, auch als die Nazischergen seiner habhaft wurden, keinen Strafprozess durchgeführt wurde. Aber der Anlass war willkommen, um eine perfide Aktion der Einschüchterung, Vertreibung und Vernichtung der Infrastruktur zu starten, die sich in schändlicher Manier gegen gläubige Menschen richtete. Fast alle Wiener Tempel wurden vollständig zerstört, die Schriftrollen verbrannt oder entweiht, in der Seitenstettengasse devastierten die Eindringlinge die Einrichtung, die Galerie war ein Totalschaden.

 

In allen Teilen der Stadt brannten die Synagogen, die oft in geschlossener Bauweise in die umliegenden Wohnhäuser integriert waren. Betroffen waren die Tempel rund um das Zentrum, aber auch ausserhalb des Gürtels, wo sich jüdische Gemeinden angesiedelt hatten. Auf der sogenannten Mazzesinsel, in Bezirken Leopoldstadt und der Brigittenau, fielen die Synagogen in der Zirkusgasse, Malzgasse, Rembrandtstrasse und Tempelgasse dem Mob zu Opfer. Auch die architektonisch ansprechenden G‘tteshäuser in der Josefstädter Neudeggergase, in der Mariahilfer Schmalzhofgasse, in der Währinger Schulgasse, der Döblinger Dollinergasse und in der Turnergasse im ehemals Penzinger Bezirksteil am Wienfluss westlich von Gumpendorf (nunmehr Rudolfsheim-Fünfhaus) verschonten die Täter nicht. Nach 1945 kam es lediglich deshalb zu Strafprozessen, weil NS-Täter beim Einbruch in Kellerabteile und Kohlenkeller erkannt worden waren. Opfer der Verwüstung wurde auch die Zeremonienhalle am Neuen Jüdischen Friedhof bei Tor IV des Zentralfriedhofes.

 

Abgesehen von dem Leid, das die Brandschatzungen und Zerstörungen verursachten, gab es zahlreiche Tote infolge der Gewalttaten, begangen in bestialischer Mordlust. Der Staat, einst Hort der Sicherheit, bot keinen Schutz, sondern machte die Ordnungshüter zu Mittätern. Unschuldige Opfer, darunter viele Geistes- und Kulturmenschen, wurden aus ihren Wohnungen gewaltsam in Sammelstellen der Polizei gebracht und unter unwürdigen Bedingungen tagelang angehalten. Nirgends waren sie vor ihren Verfolgern sicher. Ein von „oben“ gesteuerter Mob machte auf den Strassen Jagd auf Juden, wo immer man ihrer habhaft wurde. Während SA und Hitlerjugend die Brände schürten und Löschaktionen der Feuerwehr behinderten, mussten die in die deutsche Schupo eingegliederten Wiener Polizisten im Auftrag der SS einige tausend Juden in sogenannten Not-Arresten unterbringen, wo es zu unvorstellbaren Szenen kam: Einschüchterung, rohe Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen folgten, die ganze Woche kam die Stadt nicht zur Ruhe. Das Hitler-Regime und seine Helfershelfer boten ein ganzes Spektrum der Unmenschlichkeit auf.

 

Ein hochrangiger Journalist als Opfer

Ein begabter Chronist, der seine Erlebnisse und die Orte der Zerstörungen aufzeichnete und die Misshandlungen dokumentierte, war der ehemalige Chefredakteur der Neuen Freien Presse und Jurist Dr. Ernst Benedikt. Seine beiden Texte, in denen er das Pogrom und seine Abreise aus Wien 1939 beschreibt, sind auf der Homepage des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands zum Download verfügbar. Sein Enkelsohn Ernst Strouhal hat Benedikts Erlebnisse in seinem jüngst erschienenen Buch Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt wieder in Erinnerung gerufen, denn eine der Schwestern war die Mutter des Autors. Benedikt, der in Grinzing eine Villa in der Himmelstrasse mit seiner Gattin Irma und vier Töchtern bewohnte, war von einem geheimnisvollen Uniformträger vorgewarnt worden. Benedikt, der wissenschaftlich arbeitete und 1936 eine Biografie des Kaisers Josef II. publiziert hatte, war trotz des Verkaufs der Zeitung im Jahr 1934, der sein Ausscheiden aus der Redaktion bewirkte, ein bekannter und immer noch einflussreicher Mann. Der nächtliche Besucher, offenbar ein Wiener SS-Angehöriger, wurde deutlich: Es sei eine grössere Aktion in Planung, die Familie solle baldigst flüchten. Doch wie viele seiner Nachbarn, von denen er einige am 10. November 1938 auf der Grinzinger Polizeistation traf – das Kommissariat und Inspektion, wie es heute heisst, existieren schon lange nicht mehr – blieb Benedikt im guten Glauben an den Rechtsstaat. Wie Franz Kafkas Held, der Bankbeamte Josef K., vermeinte er, als unschuldiger Bürger von der Staatsgewalt verschont zu bleiben, doch dem war nicht so. Vielmehr erlebte er in zwei Notarresten eine Woche des Grauens, in der er vermeinte, in die „Küche des Satans“ Einsicht zu nehmen. Offenbar lautete der Befehl an die Polizei, dass ausgewählte jüdische Bürger aller Altersstufen und Berufe zwecks Einschüchterung erfasst, gesammelt und in vorbereitete Unterkünfte verbracht werden sollten.

 

Misshandlung in „Not-Arresten“

Zunächst landete Benedikt in der ehemaligen „gedeckten Polizeireitschule“, in der sich im Jahr 1913 immerhin noch an die 300 berittene Wachebeamte betätigt hatten. Sie befand sich in Wien-Alsergrund in Zentrumsnähe in der Pramergasse. Dort traf er unter anderem den jungen Studenten Heinz Altschul, der zwei Jahre später via Grossbritannien nach Australien kam – wiederum zwangsweise – dort aber seine Frau kennenlernte und in die australische Armee eintrat. Wie es der Zufall wollte, befand sich in derselben Gasse auch lange Zeit der Sitz der Illustrierten Kronen-Zeitung, des von Gustav Davis gegründeten Boulevardblattes. Doch Benedikt hatte andere Sorgen, denn es gab keine Verpflegung und das überfüllte Quartier erschien ganz ungeeignet für die vielen Arrestanten, die sich nicht im Klaren darüber waren, was mit ihnen geschah. Es kam jedoch noch schlimmer, denn Lastwagen mit SS-Angehörigen transportierten die Gruppe weiter in Richtung Westbahnhof. Die Sorge unter dem Häuflein unbescholtener Bürger wuchs beträchtlich, denn dieser Bahnhof hatte seit den ersten Häftings-Transporten im März 1938 den Ruf, das erstes Tor zur Hölle des KZ Dachau  zu sein. Überraschenderweise mussten die Arrestanten, knapp bevor das Bahnhofsgebäude in Sicht kam, absitzen. Ziel war die am 19. Juli 1938 von den NS-Machthabern geschlossene, katholische Volks- und Realschule in der Kenyongasse. Heute befindet sich dort das Bildungszentrum Kenyongasse, in dem auch Elementarpädagogik vermittelt wird. Damals wurden die Privatschulgebäude der Schwestern vom Heiligen Erlöser (Mater Salvatoris) als Not-Arrest genutzt. Der Geschichtelehrer Philipp Hiblinger, der an der Bundesanstalt in der Kenyongasse lehrt, hat die dunkle Episode, die sich in dem Gebäudekomplex abspielte, dokumentiert. Zu früh hatten die Häftlinge aufgeatmet, nun bekamen sie in Sichtweite zum Bahnhof einen Vorgeschmack des KZ-Lebens zu spüren, tagelang zusammengepfercht und willkürlich gequält.

 

SS-Angehörige befahlen den Opfern in sadistischer Weise, einander zu misshandeln, sie enthielten den Angehaltenen Nahrung und Wasser vor, führten Scheinhinrichtungen durch, prügelten jene, die sich wehrten, spitalsreif und liessen Rabbiner und Religionslehrer Spottlieder und religiöse Gesänge absingen. Diese Details hat Ernst Benedikt in seinem Bericht minutiös festgehalten. Bei manchen ihrer Opfer bewirkten die Folterknechte das Gegenteil ihrer Intentionen und machten die seit langer Zeit assimilierten Bürger wieder zu gläubigen Menschen, die erschüttert die beim Totengebet (Kaddisch) schon öfters gehörten Verse vernahmen. In all diesem Übel gab es aber auch einige gerechte und hilfsbereite Polizisten, die Inhaftierten halfen, Nahrung zu organisieren oder Inhaftierten, die bereits nervlich und körperlich am Ende waren, zur Freiheit verhalfen. Benedikt kam erst nach sechs Tagen Haft und psychisch zerrüttet nach Hause, nachdem er die Woche inhaftiert gewesen war. Als er endlich wieder zuhause in Grinzing war, spielte er Teile von Beethovens Pathétique am Flügel, um sich zu beruhigen. Nachts jedoch litt er unter schweren Blutungen, die von einem K.O.-Schlag herrührten und er wurde in die einzige, Juden noch zugängliche Krankenanstalt gebracht. Dort halfen selbstlose Schwestern, Ärztinnen und Ärzte. Benedikt kam langsam wieder zu Kräften, auch mit der ihm eigenen Selbsttherapie: durch Schachspiel, das Rekapitulieren von Goethes Zahmen Xenien und die Lektüre von Humboldt. Die Nazi-Barbarei mit deutscher Kultur zu bekämpfen, war seine Devise.

 

Nachlese

Ernst Strouhal. Vier Schwestern, Fernes Wien, fremde Welt.

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2022.

416 Seiten, Euro 29,50.-

ISBN: 978-3552073128

Download von Benedikts Texten und Fotos der Verwüstungen auf:

https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/novemberpogrom-1938/wien