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Frei nach Calderon – eine Weltkarriere für die Dame mit der goldenen Stimme aus Herzliya.
Die Bezeichnung „Dame“ mag altmodisch klingen, aber Chen Reiss ganz profan nur als Frau zu bezeichnen, wäre doch unpassend. Die Künstlerin gibt wenig von ihrem Privatleben preis, auf ihrer Website1 erfährt man einiges über ihre Karriere, aber fast nichts über sie und ihre Familie, auch Wikipedia weiss nicht viel über sie. Im SWR gab sie im November 2022 ein Interview, in dem sie auch über ihr Privatleben sprach.2 Chen Reiss stammt zwar aus einem künstlerischen Elternhaus, doch ein Karrierestart in Israel hat Seltenheitswert. Die Sopranistin hat es geschafft, wenngleich sie heute London als ihr Lebenszentrum gewählt hat: Hier lebt sie mit ihrem Mann, wenn sie nicht auf Konzertreisen ist, hier gehen ihre Töchter zur Schule, hier verbringt sie die Feiertage, geht zur Synagoge – und träumt von Wien (und Paris).
Der Weltstar aus Israel trat kürzlich auch in Österreich auf: Am 10. September 2023 sang sie im Schlosstheater Laxenburg ein konzeptuelles Programm mit Werken von Robert und Clara Schumann, Felix und Fanny Mendelssohn-Bartholdy und Gustav und Alma Mahler (im Rahmen der Serenadenkonzerte des Landes Niederösterreich). Am 5. November gab es dann ein Bach-Programm im Wiener Musikverein. Wenn sie wieder einmal kommt, mein Ratschlag frei nach Karl Farkas: „Hören (und schauen) Sie sich das an.“ Das Interview mit Chen Reiss fand am 21. September 2023 via Zoom statt.
DAVID: Frau Reiss, Sie haben eine traumhafte Karriere gemacht, haben Sie sich auch eine Traumwelt erschaffen? Wenn Sie nach Hause kommen, nehmen Sie dann ein Stück dieser Traumwelt mit?
Reiss: Also, wenn ich nach Hause komme, gibt es so viel zu tun, ich kann nicht träumen, ich bin seit zehn Jahren Mutter und es ist wirklich voll „power“. Zuhause kann ich nicht träumen, ich bin mit den Kindern beschäftigt, mit dem Haus, den Emails, dem Studium. Die Bühne ist der Traum, dort ist mein Refugium.
Chen Reiss. Foto: G. Bonnard. Mit freundlicher Genehmigung: Serenadenkonzerte des Landes NÖ.
DAVID: Sie haben jetzt sehr viele Konzerte gesungen, Sie sind ja auch wieder in Wien im November, ist da ein sehr grosser Unterschied zwischen der Opernbühne und dem Konzert, wo es doch eher sachlich zugeht?
Reiss: Ja, es gibt einen Unterschied, aber auch in der Vorbereitung: Bei Konzerten bereite ich mich allein vor mit meinem Pianisten, bei der Oper gibt es wochenlang szenische Proben, wo man mit anderen Menschen zu tun hat. Das Konzertleben ist ein bisschen einsamer als die Oper, aber das ist auch in Ordnung, denn da habe ich mehr Kontrolle über meinen Zeitplan und die künstlerischen Entscheidungen, wie Kleidung, Programm, Auftritt, auch was das Repertoire betrifft.
DAVID: Sie haben Wien und Paris als Ihre liebsten Städte genannt, was fasziniert Sie dort? Was gibt es da, was es in London oder Herzliya nicht gibt?
Reiss: Für mich ist Wien eine Hauptstadt, also, es gibt alles, was man in einer Hauptstadt finden kann, aber es ist gleichzeitig ein Dorf. Alles, was man braucht, ist in zehn Minuten zu Fuss erreichbar. Ich glaube, dass es die einzige Hauptstadt Europas ist, wo man nicht ständig mit dem Verkehr kämpfen muss, ich empfinde das Leben in anderen Städten fast unerträglich. Das Leben in Wien finde ich sehr angenehm, es ist auch eine sichere Stadt, eine saubere Stadt, eine schöne Stadt, überall wo man hinschaut, sind schöne, gepflegte Gebäude, schöne Geschäfte und die wunderbare harmonische Musik ist überall dabei. Das kann ich nicht über viele andere Städte sagen. Tel Aviv natürlich ist sehr reizend, wenn man am Strand ist, aber in der Innenstadt ist es mittlerweile sehr kompliziert, weil es eine grosse Baustelle ist, man kann sich nicht bewegen, es ist sehr laut und sehr heiss. Wenn man den ganzen Tag am Strand sitzt, ist es das Schönste, was es gibt, nur, als Opernsängerin kann ich nicht am Strand singen, oder? Und Paris ist einfach eine so romantische Stadt, eine Stadt, die man zu Fuss geniessen kann, eine grössere Stadt aber so pico bello, wenn man die Schaufenster in Paris ansieht, sei es Schokoladengeschäfte oder Boulangerien oder Kleidergeschäfte, alles ist schön dekoriert, ich mag Schönheit, ich mag Harmonie. Als ich sehr jung war, war ich in New York und die Energie dieser Stadt fand ich unglaublich, aber jetzt nervt mich der Strassenlärm. Insofern ist Wien wirklich wunderbar.
DAVID: Ist für Sie diese Schönheit von Architektur, Kunst, Design und Stimme eine Einheit?
Reiss: Ja, und ich finde, wir Sänger, Musiker, wir sollten in einer schönen, harmonischen Umgebung leben, und das hat nichts mit Geld zu tun, man kann auch in einer sehr bescheidenen Wohnung leben, aber alles soll harmonisch fliessen. Dennoch finde ich es sehr inspirierend, in einem schönen Opernhaus zu singen, das gehört dazu, und es ist schwer, wenn man plötzlich in einem hässlichen Saal singen soll, da ist das Erlebnis ein anderes.
DAVID: Gibt es Rollen, mit denen Sie sich identifizieren? In welchen Opern fühlen Sie sich am wohlsten? Wie war das, als Sie das erste Mal Richard Wagner gesungen haben?
Reiss: Wenn ich eine Rolle studiere, gibt es immer Aspekte, Wörter, die in mir tiefe Gefühle erwecken. Oft denke ich, ich habe solche Sachen schon einmal erlebt oder war in einer ähnlichen Situation. Aber eine Lieblingsrolle habe ich nicht, egal was ich singe, auch im Lied oder bei christlicher Musik finde ich immer einen persönlichen Zugang. Was Richard Wagner betrifft, habe ich nie viel von ihm gesungen, es ist nicht mein Stimmfach, aber ich mag die Musik von Wagner, das hat nichts mit der Vergangenheit zu tun, ich finde, dass Musik unabhängig von der Geschichte lebt.
Führen Sie auch gern Werke von Frauen auf, die nicht so häufig auf den Spielplänen stehen?
Reiss: Ja, ich glaube, dass es viele Komponistinnen gibt, die unterschätzt werden. Für mich war die Reise durch die Musik von Fanny Hensel faszinierend, da habe ich so viele gute Stücke entdeckt und ich finde ihr Schicksal wahnsinnig traurig, denn diese Frau war sehr talentiert und auch fähig, doch sie war unterdrückt und im Schatten ihres Bruders, so war es für mich wichtig, ihr Werk ans Licht zu bringen.
DAVID: Sie haben einmal gesagt, dass der jüdische Glaube Ihnen nicht viel bedeutet, hängt das auch mit der Missachtung der Frauen in den meisten jüdischen Glaubensrichtungen zusammen?
Reiss: Also, ich habe grossen Respekt für die jüdische Religion, für die jüdische Tradition, ich bin glücklich, dass ich einer so alten Zivilisation angehöre, wenn Sie daran denken, dass wir 5784 feiern, wir also im 58. Jahrhundert sind, die christliche erst im 21. Jahrhundert. Respekt also für eine Religion, für eine Kultur, die sich so lange gehalten hat. Ich finde, es gibt in dieser Religion auch sehr viele kluge Sachen. Was mich aber sehr wütend macht, ist, wie diese Religion missbraucht wird, besonders in Israel, wo die Religiösen diesen Glauben politisch missbrauchen. Ich denke, dass die Frauen in Israel die gleichen Rechte wie in jedem demokratischen Land haben sollten, denn wenn dies nicht gewährleistet ist, ist es keine Demokratie.
DAVID: Ihre Unterrichtstätigkeit ist die natürliche Fortsetzung Ihrer Gesangskarriere. Welche schönen Aspekte hat die Musikpädagogik?
Reiss: Es gibt so viele schöne Aspekte, aber mein Zugang ist ein holistischer, ein ganzheitlicher, das heisst, wir singen nicht nur mit den Stimmbändern, sondern mit dem ganzen Körper, mit dem Geist, der Seele. Daher müssen wir darauf achten, was wir essen, welche körperlichen Übungen wir machen, wie wir atmen, und wir müssen auch eine starke Psyche haben. Als ich angefangen habe, war ich sehr nervös und hatte viel Blödsinn im Kopf, das muss man abschalten und Konzentration üben. Das gilt nicht nur für Sänger, es gibt viele Menschen auf der Welt, die im Stress sind, sich Sorgen machen. Wir müssen positive Gedanken pflegen.
DAVID: Beschäftigen Sie sich auch mit der Vergangenheit, der Vergangenheit Ihrer Familie, der Shoah?
Reiss: Sicher, es ist in meiner DNA, ich wurde damit geboren, meine Grosseltern haben ihre ganze Familie im Holocaust verloren, die Geschichte ist immer präsent. Es kommt aber darauf an, wie man auf die Geschichte blickt, mit Zorn oder Frustration, oder ich schaue, wie weit wir als Gesellschaft gekommen sind – wir akzeptieren jetzt Menschen mit anderer Religion, Kultur oder Hautfarbe, die Welt hat sich in den letzten achtzig Jahren gewaltig verändert. Das gibt mir Hoffnung, aber wir haben als Juden eine besondere Verantwortung, denn wir wissen, wie wir kämpfen mussten, welchen Horror wir durchmachen mussten, deshalb sollten wir jetzt Empathie zeigen für Menschen, die jetzt leiden. Und wir sollten offenbleiben als Gesellschaft.
DAVID: Das war ein sehr schönes Schlusswort, ich danke ganz herzlich für das Gespräch!
Anmerkungen
1 https://www.chenreiss.com/#home
2 https://www.ardmediathek.de/video/swr1-leute/chen-reiss-oder-opernsaengerin-ein-beruf-der-viel-abverlangt/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE3NjQwNTM