Hugo Kauder wurde 1888 in der mährischen Kleinstadt Tobitschau (Tovačov, heute Tschechische Republik) als Sohn des Leiters der dortigen deutschen Volksschule geboren. Das Heranwachsen in einer deutschsprachigen Lehrerfamilie jüdischen Glaubens vor dem Hintergrund des Nationalitätenkonflikts in Mähren prägte Kauders Sozialisation.
Seine Kindheit erlebte Hugo Kauder als trostlos und unerfüllt, die Lebensumstände assoziierte er später mit „ganz engen kleinbürgerlichen verhältnissen“.1 Zum Lebenssinn in dieser „einfachheit und abseitigkeit“2 wurde ihm die Musik.
Wichtige Impulse setzte der Geigenlehrer von Tobitschau, der den begabten Jugendlichen früh in die Selbständigkeit entliess und so den Keim zur Entwicklung einer musikalisch wie intellektuell unabhängigen Existenz legte: Zeit seines Lebens blieb der Autodidakt Hugo Kauder im Umgang mit der Musik und im Reflektieren unterschiedlicher Denksysteme von unkonventionellen Strategien geleitet.
1905 übersiedelte Kauder zum Studium an der Technischen Hochschule nach Wien; seine Leidenschaft jedoch galt umfangreichen Recherchen in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde: In der Transkription frankoflämischer Musik (allen voran über die Werke von Josquin Despréz [1450/1455–1521]) eignete er sich kontrapunktische Satztechniken an. Enge Bande zu Egon Lustgarten (1887–1961), dem Cousin von Kauders späterer Frau Helene Guttman (1898–1949), und zu Karl Weigl (1881–1949), der durch die Zusammenarbeit mit Gustav Mahler (1860–1911) an der Hofoper zum Mittler Mahlerscher Tradition wurde, bestimmten jene Zeit. Der stetige Austausch mit dem Mahler-Exegeten Hans Ferdinand Redlich (1903–1968) intensivierte Kauders Affinität zu Mahler.
In Wien ging Kauder ganz eigene Wege: Er war Geiger im Konzertvereins-Orchester und Bratschist im Quartett von Hugo Gottesmann (1917–1922), musizierte in Arnold Schönbergs (1874–1951) „Verein für musikalische Privataufführungen“, publizierte für die Musikblätter des Anbruch, komponierte Werke verschiedener Gattungen und erteilte Idealisten wie Josef Mertin (1904–1998), Siegmund Levarie (1914–2010), Julius Chajes (1910–1985) oder Erich Zeisl (1905–1959) Privatunterricht. Als Quintessenz seiner musiktheoretischen Überlegungen publizierte er 1932 die dem deutschen Philosophen Rudolf Pannwitz (1881–1969) gewidmete Schrift Entwurf einer neuen Melodie- und Harmonielehre. Die seit 1919 mit Pannwitz geführte Korrespondenz vermittelt Kauders Philosopheme zum zeittypischen, kosmologisch-abstrakten Diskurs und zu metaphysischen Spekulationen.
Generell formten Ansätze christlicher Tradition und die jüdische Herkunft Kauders Denken, letztlich galt ihm eine Synthese von Friedrich Nietzsches (1844–1900) „Europa-Visionen“ und Martin Bubers (1878–1965) in Kampf um Israel (1933) exponierten Maximen als Ideal.
Hugo Kauder, 1926. Foto: Anton Josef Trčka.
Wiener Meilensteine für Kauder waren die Interpretation der Phantasie für Violine und Orchester (1917) durch Hugo Gottesmann und das Wiener Sinfonie-Orchester unter George Szell (1897–1970) bei den von David Josef Bach (1874–1947) organisierten „Meisteraufführungen“ 1920, die Uraufführung der Alma Mahler (1879–1964) gewidmeten Ersten Symphonie (1921) unter Leopold Reichwein (1878-1945) im Rahmen des von Bach initiierten „Musik- und Theaterfests der Stadt Wien“ 1924, Alexander Zemlinskys (1871–1942) Dirigat des Violinkonzerts (1925) für ein „Arbeiter-Sinfonie-Konzert“ im Februar 1926 und die Verleihung des „Kunstpreises der Stadt Wien“ (Sparte Musik) im Jahr 1928.
Die Politik der Zwischenkriegszeit verfolgend, liess Hugo Kauder die Zeitgeschehnisse nie unkommentiert: Der Gedanke an „Europa“ fesselte ihn, mit der Zuspitzung nationalsozialistischen Terrors wurden Fragen zum Judentum virulent. Zeigte Kauders Schaffen bis dahin keinen Bezug zur jüdischen Identität, so galt seine Teilnahme an einer vom Zionistischen Landeskomitee Österreich im Dezember 1937 organisierten „Makkabäerfeier“ im Wiener Konzerthaus als Statement: Jüdische Künstler, der Knabenchor des Stadttempels und Mitglieder des Jüdischen Kulturtheaters interpretierten „jüdische Kunstmusik“; Kauders Engelszene – Jakobs Traum und ein Arrangement von Hatikwah, der späteren Nationalhymne Israels, waren zu hören.
IGNM-Gründung (Internationale Gesellschaft für Neue Musik), Salzburg, August 1922, v.l.n.r.: Karl Weigl, Karl Alwin, Wilhelm Grosz, Arthur Bliss, Paul Hindemith, Rudolf Réti, Ethel Smyth, Paul Amadeus Pisk, Willem Pijper, Egon Lustgarten, Egon Wellesz, Anton Webern, Karl Horwitz, Hugo Kauder.
Die „Reichspogromnacht“ im November 1938 erzwang die Flucht aus Wien: Anfang Dezember 1938 erreichte Kauder Santpoort in den Niederlanden, ab März 1939 hielt er sich in England auf und war dort wieder mit seiner Frau Helene und dem Sohn Otto (1926–2006) vereint; die beiden waren bereits im Sommer 1938 aus Österreich geflüchtet. Im Februar 1940 erreichte die Familie über Canada kommend die Vereinigten Staaten, New York wurde zur neuen Wirkungsstätte. An dem von Hermann de Grab (1903–1949) gegründeten Music House unterrichtete Kauder Komposition, 1945 war er „composer in residence“ am renommierten Black Mountain College bei Asheville, North Carolina. Kauder komponierte weiterhin beständig, unterrichtete intensiv, war als Musikschriftsteller tätig, verzeichnete Aufführungen und publizierte 1960 mit Counterpoint. An Introduction to Polyphonic Composition eine auf Kontrapunktik gerichtete Fortführung des Entwurfs einer neuen Melodie- und Harmonielehre.
Reisepass, ausgestellt am 30. September 1938, Wien.
Am 22. Juli 1972 verstarb Hugo Kauder im niederländischen Bussum, nach Wien war er nie zurückgekehrt. Auf Wiener Musiziertradition rekurrierend, sah er sich in Übersee als Mittler einer Aufführungspraxis, die er in Wien „atmosphärisch“ aufgesogen hatte; und doch blieb es ein utopisches Unterfangen, das Werk des Vertriebenen wieder in die österreichische Musiklandschaft zu integrieren:
„Als ich 1938 Wien verliess, war ich dort unbekannt als der, der ich wirklich bin, und seither bin ich auch als der, den man damals zu kennen meinte, vergessen worden. Schliessen wir nicht die augen vor diesem tatbestand, stellen wir uns vielmehr ganz darauf ein, im interesse der guten sache!“ 3
So Kauder im April 1958 an Viktor Bermeiser (1895–1968), der nach dem
Krieg vergeblich alles daransetzte, österreichische Kulturinstitutionen auf den Wiener Musikpreisträger von 1928 aufmerksam zu machen und dessen Musik nach Österreich zu holen.
Heute hält die von Siegmund Levarie mitbegründete und neben anderen von Kauders Enkeltöchtern Helen Kauder und Nina Kauder mitgetragene Hugo Kauder Society (New Haven) das Erbe des Wiener Komponisten wach: Eine von der Society organisierte Aufführung der Ersten Symphonie in der New Yorker Carnegie Hall im November 2022 brachte das in Wien entstandene Werk erstmals wieder an die Öffentlichkeit – an die hundert Jahre nach der Uraufführung und fern der eigentlichen Heimat.
Nachlese
Karin Wagner: Hugo Kauder (1888–1972). Komponist – Musikphilosoph – Theoretiker. Eine Biographie.
(= exil.arte-Schriften Bd. 4)
Wien: Böhlau Verlag 2018.
224 Seiten, gebunden, Euro 41,95.-
ISBN 978-3-205-20015-4
Link zur Hugo Kauder Society:
CD-Neuerscheinung
Mit dabei: Hugo Kauder: Erste Symphonie
Dirigent: Leon Botstein
The Orchestra Now
Label: avie-records, https://www.avie-records.com, erscheint im Frühjahr 2024.
Anmerkungen
1 Hugo Kauder an Rudolf Pannwitz, 24.02.1921 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, P–6, P–6–2) ã Hugo Kauder Society. Zit. n. Wagner, Karin: Hugo Kauder (1888–1972). Komponist – Musikphilosoph – Theoretiker. Eine Biographie. Wien 2018, S. 16. Rudolf Pannwitz übernahm von Stefan George (1868–1933) die Vermeidung von Grossbuchstaben und Interpunktionszeichen. Dies war „Erkennungsmerkmal“ unter den Anhängern Georges. Im Briefwechsel mit Rudolf Pannwitz und anderen Personen lehnte auch Kauder seine Schreibweise daran an.
2 Zit. n. ebd.
3 Hugo Kauder an Viktor Bermeiser, 25.04.1958 (Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. –183.700) ã Hugo Kauder Society. Zit. n. Wagner, Karin: Hugo Kauder (1888–1972). Komponist – Musikphilosoph – Theoretiker. Eine Biographie. Wien 2018, S. 146.
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung der Hugo Kauder Society, New Haven, CT.