Christoph Tepperberg
Derek Penslar: Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat. Eine Biografie.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
Göttingen: Wallstein Verlag 2022.
256 Seiten, Hardcopy mit Schutzumschlag, Euro 26,80.-
ISBN 978-383-53520-49
(Englische Originalausgabe: Theodor Herzl: The Charismatic Leader.
New Haven: Yale University Press 2020; ISBN 978-0-300-18040-4)
Die Idee eines eigenen jüdischen Staates gab es schon vor Theodor Herzl. Vor dem Hintergrund der im russischen Zarenreich grassierenden Pogrome hatte Leo Pinsker (1821–1891), Journalist und Arzt aus Odessa, bereits 1882 ein Pamphlet mit dem Titel „Autoemancipation“ veröffentlicht und wurde dadurch zu einem Pionier des Zionismus. Herzl bescheinigte ihm später in seinem Tagebuch eine „verblüffende Übereinstimmung im kritischen, grosse Ähnlichkeit im constructiven Theil“. In Kenntnis von Pinskers Pamphlet, so meinte er, hätte er seine eigene, 1896 veröffentlichte, heute weltbekannte Schrift Der Judenstaat wohl nicht geschrieben (S. 110). Theodor Herzl (1860–1904) ist als Begründer des Politischen Zionismus weltberühmt geworden. Dennoch wirft sein kurzes Leben viele Fragen auf: Wie wurde aus einem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der wichtigste Anführer der zionistischen Bewegung? Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann sein, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch getrieben von tiefen, bisweilen dunklen Leidenschaften? Warum wurde er von so vielen auch traditionellen Juden als Führungs- und Kultfigur verehrt? Anhand des umfangreichen Fundus an privaten, literarischen und politischen Schriften zeigt Derek Penslar, dass Herzls Weg zum Zionismus nicht nur vom grassierenden europäischen Antisemitismus angetrieben wurde, sondern sich auch aus Herzls persönlichen Krisen erklärt. Einmal dem Zionismus verschrieben, zeigte sich Herzl jedoch als vollendete Führungspersönlichkeit, voller Charisma, Energie und organisatorischem Geschick. So wurde er für viele Juden seiner Zeit zur Projektionsfläche ihrer Bedürfnisse und Sehnsüchte.
Die biographische Literatur zu Theodor Herzl ist umfangreich. Derek Penslar bringt zwar kaum neue biographische Fakten, wohl aber neue Sichtweisen. Er legt seinen Fokus auf Herzls Innenleben. Herzls Ringen mit sich selbst auf dem Weg zum Zionismus wird als Ausdruck psychischer und innerfamiliärer Probleme betrachtet. Derek Penslar widmet sich der Frage nach Herzls Antriebs- und Strahlkraft. Mehrere Nachrufe, die vielen Schilderungen von Begegnungen mit Herzl und Beschreibungen seiner eindrucksvollen Erscheinung veranschaulichen einiges über seine Aussenwirkung. Dies wird meist nicht zeitgeschichtlich kontextualisiert, sondern eher anekdotisch abgehandelt. Penslar möchte seinen Protagonisten nicht zum makellosen Heiligen erheben, sondern will ihn auf Grundlage seiner autobiografischen Zeugnisse verstehen. So finden sich in Penslars Buch wiederholt Textpassagen, die Herzls Antrieb auf sein verzweifeltes Bedürfnis nach Sinnstiftung infolge psychischer Probleme und eines unerfüllten Sexual- und Eheleben zurückführen. Das durchgehende Psychologisieren mag nicht jedem zusagen, bringt aber fraglos eine Bereicherung der biographischen Literatur über den weltberühmten Begründer des politischen Zionismus. Das Büchlein ist mit einem Verzeichnis der Abkürzungen und einem Abbildungsnachweis (S. 239), einem Anmerkungsapparat (S. 240-252) und einem Personenregister (S. 253-256) ausgestattet.
Zu Autor und Übersetzer
Derek Jonathan Penslar, geb. 1958, ist William Lee Frost Professor für Jüdische Geschichte an der Universität Harvard. Er verfolgt einen vergleichenden und transnationalen Forschungsansatz zur jüdischen Geschichte, die er im Kontext von modernem Kapitalismus, Nationalismus und Kolonialismus untersucht.
Norbert Juraschit, geb. 1963, studiert in Tübingen und Wien Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Er übersetzt historische und politische Sachbücher aus dem Englischen und Russischen.