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Überschreiten der letzten Grenze Über Selbstmord im Holocaust

Kerstin Kellermann

Vor dem Whiteread-Mahnmal am Wiener Judenplatz wurden in der Gedenkveranstaltung „Das Echo der Namen“ am Abend des achten November 2021 die Namen jener Menschen verlesen, die ihrem Leben wegen der Nazis ein Ende gesetzt hatten.

Inhalt

Goldenes Licht, gelb schimmernde Glasfenster mit Davidsternen darin. „Betreten wir das Gebiet mit Vorsicht und Respekt“, wurde am Anfang gesagt, denn die Wiener Selbstmorde in der Nazizeit seien noch nicht viel erforscht. Das Symposium Erzwungener Freitod im Misrachi Haus befasste sich wissenschaftlich erstmalig mit jenen von den Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden verfolgten Menschen, die sich während der NS-Herrschaft das Leben genommen hatten, um Ausgrenzung, Erniedrigung, Verfolgung beziehungsweise Deportation zu entkommen. „Rabbi Wassermann kommt extra aus Jerusalem angereist, um bei unserer Tagung dabei zu sein“, lächelte der Eröffnungsredner. Wir befanden uns im Misrachi Haus am Wiener Judenplatz, und in jener Nacht vom achten auf den neunten November 2021 blieben alle Lichter in der Misrachi Synagoge eingeschaltet – um zu zeigen, dass es „den Nazis nicht gelungen ist, den Juden das Licht auszulöschen“, wie Rabbi Wassermann betonte. Die Fenster leuchten nach draussen.

 

Éva Kovacs, die stellvertretende Direktorin für wissenschaftliche Angelegenheiten am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) berichtete, Simon Wiesenthal habe insgesamt drei Selbstmord-Versuche überlebt. Wiesenthal schrieb: „Was für eine Bitterkeit in mir war… Jetzt mache ich nichts mehr, dachte ich, aber ich habe noch versucht, mich an der Unterhose aufzuhängen, ich versuchte sie zu drehen, zu drehen, doch der Knoten löste sich.“ In weiterer Folge beschloss er für sich: „Ich glaube, mir ist es erlaubt zu leben“ und nahm „den Imperativ des Erinnerns und Recherchierens“ an.

 

Die selbstgemordeten Frauen

„Erst Anfang der 1990er Jahre begann man zu recherchieren, besonders schlecht dokumentiert ist der Freitod“, berichtete der Leiter des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Gerhard Baumgartner stellvertretend für seinen erkrankten Mitarbeiter, Winfried Garscha, der die Namen der SelbstmörderInnen sammelt. In dem Vortrag ging es um die „Verletzung des eigenen Ichs und den Verlust des Weltvertrauens“. Und um das Ziel, in Würde zu sterben, wenn die „gesamte Existenz von Staats wegen in Frage gestellt wird“. Baumgartner sprach von „den Selbstgemordeten“: „Der Selbstmord wurde an ihnen verübt.“ Wobei unter jenen Menschen, die „erst durch die Nazis zu Juden erklärt wurden“, die Selbstmordrate doppelt so hoch war wie bei jenen, die sich „als jüdischstämmig verstanden“: ein wichtiges Resultat der Recherchen. 1.100 Juden und Jüdinnen setzten in Wien ihrem Leben ein Ende, 135.000 flohen, 48.000 wurden aus Wien deportiert. Das Dokumentationsarchiv zählt SelbstmörderInnen zu den Shoah-Opfer dazu.

 

Eine äusserst wichtige Erkenntnis der Tagung war, dass sich sehr viele Frauen umgebracht hatten; die meisten von ihnen im Alter zwischen fünfzig und sechzig Jahren. (Anm. der Verf.: Diese Frauen sahen wohl aus finanziellen Gründen keinen Ausweg und hatten niemanden, der ihnen half, zu fliehen.) Unter „normalen“ Umständen beträgt der Frauenanteil bei Selbstmorden allein 20 bis 24 Prozent, in der Nazizeit gab es aber einen „deutlichen Überhang“, mit mehr als der Hälfte Frauen. Auch die Zeitpunkte erwiesen sich als geschlechtsspezifisch unterschiedlich: Männer setzen ihrem Leben vorrangig im Jahre 1938 ein Ende, Frauen vor allem ab dem Beginn der Massendeportationen in den Jahren 1941 und 1942. Besonders an Tagen, wo Deportation nach Theresienstadt stattfanden, waren es fünfmal mehr Frauen als Männer, die sich das Licht umbrachten.

 

Stoppelfeld der Erinnerung

Sogar Kinder hegten Selbstmord-Gedanken: „Wenn uns kein Land aufnehmen will, ist es besser den Gashahn aufzudrehen“, schrieb ein Junge. „Bitte treten Sie zur Seite“, rief Egon Friedell, als er aus dem Fenster seiner Wohnung in der Gentzgasse 7 sprang, während die SA mit seiner Haushälterin sprach. Trotz seiner Abkehr vom Judentum galt er dem Nazimob als Jude. Begraben ist Friedell auf dem evangelischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs. Nicht wenige PartnerInnen aus sogenannten Mischehen brachten sich um, damit der geliebte Mensch die Wohnung behalten konnte. „Mein seelengutes braves Weiberl“, schrieb ein Mann in seinem Abschiedsbrief aus der Malzgasse, wo er unter Höllenqualen gefoltert wurde, „Mein Schicksal ist besiegelt. Wir passen jetzt nicht mehr zusammen. Ich gebe dich frei. Du hast noch dreissig Jahre zu leben.“ Viele Selbstmorde – gerade von angesehenen BürgerInnen – waren eine Reaktion auf extreme Demütigungen.

 

Hoch anzurechnen ist den VeranstalterInnen, dass sie sich auch einiges zu Resilienz und Religion überlegten – um all diesen schrecklichen, traurigen Schicksalen etwas entgegenzuhalten. Denn nicht jeder möchte so weit gehen, diese vielen Selbstmorde als Akt des Widerstands zu sehen. So sprach Michael Preitschopf vom Viktor Frankl Zentrum von erfolgreicher Suizidprävention, denn auch Viktor Frankl sei vom „Gedanken befallen“ gewesen, „an der Isar aus dem Leben zu scheiden“. Als ein Mensch, der „irgendwelche Ressourcen oder einen Glauben an einen verborgenen Sinn hatte“ machte er dennoch weiter. Der Arzt Frankl leitete in der Anstalt Am Steinhof den „Selbstmord Pavillon“ und rettete circa 3.000 Frauen vor der Deportation nach Hartheim. „Der Suizid ist ein Nein zu Sinnfrage“, schrieb Frankl später, man solle „nicht immer auf das Stoppelfeld der Erinnerung schauen“. Leid mache die Welt hellsichtig und durchsichtig, erst Ruinen zeigten den Weg zum Himmel.

 

Auswählen zu leben

Auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main, der 1928 eröffnet wurde, stehen zum Beispiel die Grabstätten von 800 Frankfurter Juden und Jüdinnen, die sich durch Selbstmord der Deportation entzogen hatten. Die Steine, alle gleich gestaltet, tragen die Inschrift „Gestorben für die Heiligung des Namens“. In Wien gibt es nichts Derartiges. Doch die Namen werden nun gesammelt, und man kann sie dem DÖW übermitteln.

 

Rav Josef Pardes erklärte gegen Ende der Veranstaltung in seiner „Halachischen Interpretation“, dass nach dem jüdischen Glauben SelbstmörderInnen für ein Jahr das Recht verlieren, dass jemand Kaddisch für sie spricht und es eine Rede bei ihrem Begräbnis gibt: „Der Eigentümer des Lebens ist G‘tt. Ich habe mein Leben gestohlen, als Selbstmörder, denn es gehört mir nicht.“ Nur wenn erkennbar sei, dass die Person während des Selbstmordes versucht habe umzukehren, die Tat bereut habe und nicht sofort gestorben sei, wäre es anders. Ein sehr tröstlicher Gedanke. „Wir suchen das Positive“, resümiert Pardes, „man muss auswählen, zu leben. Aber immer geht es nicht“.

 

Der Arzt Viktor Frankl hätte flüchten können, er besass ein Visum für Amerika, wollte aber seine Eltern nicht alleine lassen. Sein Vater fand einen Stein aus der zerstörten Synagoge – und zwar gerade jenen Buchstaben, der das vierte Gebot: die Eltern zu ehren, symbolisiert. Das sah der Sohn als Zeichen an und blieb. Rav Josef Pardes wurde das Gebetbuch von Frankl gebracht, als dieser starb. Es wurde am Friedhof vergraben. Es ist an der Zeit, weitere Verbindungen zu suchen, Tröstliches für die Nachfahren zu finden und zu fördern.