Monika Kaczek
Helmut Böttiger: Czernowitz. Stadt der Zeitenwenden.
88 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet, Euro 23,50.-
ISBN: 978-3-949203-71-8
Auch als E-Book erhältlich, ISBN/ 9783949203756, Euro 16,99
In den letzten dreissig Jahren reiste Helmut Böttiger dreimal nach Czernowitz (ukrain. Tscherniwzi), einem mythischen Ort, der am östlichen Rand der einstigen Habsburgermonarchie liegt und heute zur Ukraine gehört. Bei der ersten Reise, die im Juli 1993 stattfand, folgte der Autor auch den Spuren der jüdischen Gemeinde und der Schriftsteller, welche die Region prägten.
„Paul Celan träumte in den sechziger Jahren öfter einmal davon, nach Czernowitz zurückzukehren. An seinen Jugendfreund Gustav Chomed, der am Fusse der steilen Töpfergasse wohnte, schrieb er 1961: »Nicht nur die Töpfergase war menschlich.« Das Land, »in dem Menschen und Bücher lebten«, wie er einmal über sein Land sagte, schien mitunter real einholbar sein.“ (S. 19)
Eine weitere Persönlichkeit ist Josef Burg, der seit seinem zwölften Lebensjahr in der Stadt lebte:
„Die Juden haben ihr Czernowitz geliebt. Als die Deutschen im Sommer 1941 einfielen, blieben die meisten und flohen nicht mit der Roten Armee in die Sowjetunion. Josef Burg gehörte zu der Minderheit, die sich der Roten Armee anschloss. (…) Erst in den sechziger Jahren kehrte Josef Burg, nach vielen Ortswechseln innerhalb der Sowjetunion, nach Czernowitz zurück.“ (S. 26)
Im Mai 2005 reiste Helmut Böttiger erneut in die Stadt, die er kaum wiedererkannte, weil sie nun vom Tourismus und einem starken Autoverkehr geprägt war. Ein Denkmal von Paul Celan, das vom ukrainischen Künstler Ivan Salewytsch geschaffen wurde, „scheint ein Symbol dafür zu sein, wie Czernowitz nach einer langen Phase der Geschichtsleere an eine Epoche anknüpfen möchte, die etwas Mythisches angenommen hat – und doch noch mit allen Äusserungen auf die Erfahrung historischer Starre verweist.“ (S. 36)
Die dritte Reise, die der Autor im September 2022 unternahm, um beim Lyriktreffen Meridian teilzunehmen, stand im Zeichen des Kriegs:
„Durch den russischen Einmarsch in die Krim 2014 und die Besetzung von Teilen des Donbass wurde die Frage nach der ukrainischen Identität plötzlich ganz real.“ (S. 69)
Bei diesem Treffen lernte Helmut Böttiger den ukrainischen Psychoanalytiker und Germanisten Jurko Prochasko aus Lwiw kennen, dessen Frau und Sohn bei Kriegsbeginn nach Wien flohen.
„Prochasko schildert detailliert, wie der Krieg in seinen konkreten Alltag eingreift und alle Gefühle und Gedanken okkupiert. (…) »Keinen Augenblick lang verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges«, sagt er und in solchen Momenten wird mir eindringlich bewusst, wie fragil sich mein Bild von Czernowitz, das sich über Jahre hinweg aufgebaut hat, in der aktuellen Situation ausnimmt.“ (S. 80)
Zum Autor
Helmut Böttiger, geboren 1956, ist freier Autor, Literaturkritiker und Essayist. 2013 erhielt er für sein Buch Die Gruppe 47 den Preis der Leipziger Buchmesse. Zu seinen Werken zählen Celan am Meer (2017), Das herausgenmeisselte Jahrhundertwerk. Peter Weiss und seine Ästhetik des Widerstands (2017), Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (2017), Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist (2020) und Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur (2021).