Derzeit ist im aktuellen Diskurs zur Zeitgeschichte häufig von einem Epochenbruch die Rede. Die Ära der Zeitzeugenschaft jener, die als Überlebende oder vor der NS-Herrschaft Geflohene aus eigener Erfahrung sprechen können, oder von jenen Menschen berichten, die in der Shoah ermordet wurden, geht ihrem Ende entgegen. Mit der grossen Tragödie des 20. Jahrhunderts wurde auch das reiche und vielfältige jüdische Korporationswesen an Hoch- und Mittelschulen ausgelöscht. Am 19. Oktober ist in Graz mit Prof. Harald Seewann jener Studentenhistoriker verstorben, der diesem faszinierenden und verschwundenen Milieu eine Stimme gegeben und sein Lebenswerk gewidmet hat.
Begonnen hat alles mit einer Begegnung im Graz der 1980er Jahre. Harald Seewann, der seit 1964 selbst einer studentischen Verbindung angehörte und bereits als Mitgründer des Steiermärkischen Studentenhistoriker-Vereins in Erscheinung getreten war, fand den Kontakt zum nach Graz zurückgekehrten letzten Senior der bis 1938 in der Stadt bestandenen, farbentragenden und waffenstudentischen Jüdisch-Akademischen Verbindung „Charitas“. Der Austausch der beiden löste bei Seewann, der als Verlagskaufmann und als Journalist tätig war, ein intensives Interesse aus, das auf einen kaum bekannten Forschungsgegenstand traf. Österreichische Archive erwiesen sich als wenig ergiebig, Funde in israelischen Sammlungen führten ihn zu weiteren Informationen und Kontakten von in Israel und der ganzen Welt ansässigen ehemaligen Angehörigen der ab 1882 in Österreich und den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie bestandenen studentischen Verbindungen.
Dieser aus dem buchstäblichen Nichts aufgebaute Kenntnisstand, der in mehreren Israel-Forschungsaufenthalten und durch Kontakte in die U.S.A. gewonnen wurde, breitete Seewann in der monumentalen, fünfbändigen Reihe „Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden“ auf rund 2.400 Druckseiten aus, die zwischen 1990 und 1996 im Eigenverlag erschienen sind. Dazu kommt eine grosse Zahl weiterer Publikationen, zuletzt ist heuer ein Band zur Wiener „Unitas“ erschienen, eine Studie zur „Makabäa“ war in Vorbereitung.
Die Republik Österreich stellte sich angesichts dieser gewaltigen publizistischen Leistung mit der Verleihung des Berufstitels „Professor“ 2007, seine Geburtsstadt Graz 2016 mit der Würde eines Bürgers der Stadt Graz ein. In der Laudatio wurde ausgeführt:
„Ihm ist es zu verdanken, dass in letzter Stunde aus noch vorhandenen Archiv-Fragmenten, aus Privatbesitz und aus den Erinnerungen der wenigen noch lebenden Zeugen ein Stück verdrängter österreichisch akademischer Geschichte rekonstruiert werden konnte.“
Alle Folgenden, die sich dem jüdisch-nationalen Korporationswesen als einem ganz bedeutenden Kapitel der Vorläufergeschichte der israelischen Staatswerdung widmen, sind bei eigenen Arbeiten auf Seewanns Quellen- und Erschliessungsarbeit geradezu angewiesen.
Prof. Harald Seewann. Porträt, (c) Stadt Graz/Fischer, mit freundlicher Genehmigung: G. Gatscher-Riedl.
Prof. Harald Seewann mit dem Autor bei der Präsentation seines Buches. Foto: G. Gatscher-Riedl, mit freundlicher Genehmigung.