Ausgabe

1938–1945: Ein Memorial für die Schweiz

Roger Reiss

Es wird höchste Zeit, den vom Deutschen Reich ausgelösten   „Kindertransport“ in die Schweiz aufzuarbeiten.

Inhalt

Historischer Kontext

Kurz nach Ausbruch der Novemberpogrome – der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 – wurden landesweit im Deutschen Reich tausende Männer jüdischen Glaubens verhaftet und auf unbestimmte Zeit interniert; Wochen später waren die Mütter an der Reihe. Viele dieser altansässigen Familien hatten Kinder, die – wie im Fall der „Frankfurter“ vorsorglich in einem jüdischen Waisenhaus in Frankfurt – unter strenger Beaufsichtigung einquartiert wurden.  Der deutsche Reisepass wurde ihnen gleich abgenommen. In dem dadurch entstandenen Wirrwarr erlaubte (auf Anfrage der deutschen Reichsregierung) die Eidgenössische Fremdenpolizei dem Schweizerischen Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) die Einreise von 300 gefährdeten deutschen Kindern jüdischen Glaubens zum vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz. In der Folge ereignete sich bei Nebel und Nacht eine geheimnisumwitterte „Rettungsaktion“. Betroffen waren insgesamt einhundert Kinder aus der Umgebung von Frankfurt am Main: Am 5. Januar 1939 fuhr ein „Kindertransport­-
zug“ von Frankfurt herkommend in Rorschach (SG) ein, aus dem fünfzig „elfjährige“ Kinder ausstiegen. Sie wurden im jüdisch geführten Kinderheim Wartheim in Heiden, Appenzell-
Ausserrhoden (AR) untergebracht. Die andere Hälfte, mehrheitlich „ältere“ Burschen, fuhren weiter nach Basel, von wo sie nach einem kurzen Aufenthalt in Buus, Baselland (BL), ihre Bleibe im Hotel Waldeck in Langenbruck bei Rheinfelden (BL) einnahmen.

17_bildschirmfoto-2023-11-13-um-21.18.15.jpg

1943, Kinderheim Wartheim, Heiden, AR. Foto: Erna Guggenheim, 1948, Diplomarbeit, B Kurs 1946/48, Soziale Frauenschule, Zürich.

Kinderheim Wartheim in Heiden

Das Kinderheim Wartheim in Heiden (AR) wurde vom Israelitischen Frauenverein Zürich gegründet und 1928 eröffnet. Das Heim sollte zunächst erholungsbedürftigen jüdischen Kindern einen günstigen Ferienaufenthalt ermöglichen. In den 1930er Jahren, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, erreichten Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich das uns hier näher interessierende Wartheim. Am 5. Januar 1939 wurden auf Geheiss des Bundes fünfzig Kinder aus Frankfurt am Main aufgenommen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges, mitten im Sommer 1945, verliessen die „Waisenkinder“ das Kinderheim in Richtung Palästina, administriert unter britischem Mandat. Schliesslich, im Jahr 1988, wurde das Kinderheim geschlossen, der Gebäudekomplex verkauft. Zu Beginn stellten sich die in der Schweiz weilenden Kinder vor, dass sie ihre für einige Monate angesagten Ferien problemlos verbringen würden. Doch nach der ersten Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für weitere sechs Monate kippte die Stimmung. Hinzu kam, dass nach und nach der spärliche Briefkontakt der Kinder mit ihren Eltern allmählich versiegte. Als selbst die jährlichen Glückwünsche zum Geburtstag ausblieben, stellten sich die besorgten Kinder das Schlimmste vor. Erst nach der Kapitulation des Deutschen Reiches wurden die in der Zwischenzeit erwachsenen Jugendlichen vom Roten Kreuz benachrichtigt, dass ihre Eltern und Grosseltern(!) in Auschwitz alle vergast worden waren. In der Zwischenzeit waren die elterlichen Wohnungen von den nationalsozialistischen Behörden aufgelöst worden. Der Weg zurück nach Frankfurt wurde ihnen kurzum verwehrt. Sie alle wurden aufgefordert, nach Palästina auszuwandern. Dort wurden sie gruppenweise in einem Kibbuz untergebracht. 

17_bildschirmfoto-2023-11-13-um-21.19.28.jpg

Schildinschrift: ren. (oviert)“Wartheim“ 1989. Das Gebäude des Kinderheims wurde 1989 zu Eigentumswohnungen umgebaut. Foto: Roger Reiss, Februar 2022.

Ruth, eine wertvolle Zeitzeugin 

Das Schicksal der Kinder beleuchteten erstmals 1973 der Journalist Alfred A. Häsler und die deutsch-amerikanische Soziologin Dr. Ruth K. Westheimer (Kindername Karola Siegel) in einer ausführlichen Reportage-Serie, bestehend aus fünfzehn Folgen. Publiziert wurde sie im Zürcher Magazin TAT. Geschildert wird dort die Geschichte eines elfjährigen Mädchens aus Frankfurt am Main, das nach der Pogromnacht von seinen Eltern getrennt wird und schliesslich im Kinderheim Wartheim Zuflucht findet. Die Erzählung basiert auf historischen Tatsachen und Geschehnissen, welche in der Aufarbeitung der Schweizer Geschichte und ihrer Rolle während des Zweiten Weltkriegs weitgehend der Vergessenheit anheimfielen. Grösstenteils basiert die Reportage auf Erlebnissen aus der Feder von Karola Siegel, die ein Licht auf das dunkel gebliebene Kapitel wirft und diese Historie genauestens wiedergibt. Viele Jahrzehnte später, im Jahr 1976, wurde eine einzigartige Chronik unter dem Titel Die Geschichte der Karola Siegel: ein Bericht beim Benteli Verlag Bern veröffentlicht.

 

Keine Erinnerungstafel für das Kinderheim Wartheim

Im Jahr 2002 veröffentlichte die Eidgenossenschaft den Bergier-Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz, welcher  die historische und rechtliche Aufarbeitung der während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gelangten Vermögenswerte durch eine internationale Historikerkommission zusammenfasst. Kriegsereignisse, wie der auf den ersten Blick positiv ausgegangene Kindertransport, gehörten nicht zu den aufdringlichen Sorgen des Bundes. Er war mit wichtigeren Fragen – materieller Natur – beschäftigt.

 

Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus 

Endlich, fünfundachtzig Jahre nach den Geschehnissen, soll künftig ein nationales Memorial in der Schweiz an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Der Bundesrat ist diesem parlamentarischen Vorstoss im Frühjahr 2023 nachgekommen: In Bern soll ein zentraler Erinnerungsort entstehen, im Kanton St. Gallen ein Vermittlungs- und Vernetzungsangebot. Für das Erinnern sowie Vermittlung und Vernetzung ist ein innovatives Konzept ausgearbeitet worden. Dieses sieht drei Leitthemen vor: „erinnern – vermitteln – vernetzen“. Als Gedenkort im öffentlichen Raum soll das Memorial den Opfern der ­Shoah gewidmet sein. Als Vermittlungsort soll es Informationen zur nationalsozialistischen Verfolgung und deren Herausforderungen für die demokratische Schweiz bereitstellen und Möglichkeiten für Veranstaltungen und Wechselausstellungen bieten.

 

„Frankfurter Kindertransport“: Kandidat für das Memorial? Dezember 1938 

Wie konnte es dazu kommen, dass eine eher ungewöhnliche, zwischenstaatliche Abmachung allein auf „mündlicher Basis“ abgeschlossen werden konnte? Wurde die Eidgenossenschaft mit der Bitte des Deutschen Reiches arglistig übertölpelt? 

Mai 1945 

Gab es mit den „Waisenkindern“ Gespräche über ihre Zukunftsaussichten in der Schweiz? Hätte man den „Burschen“, von denen viele eine Arbeitslehre antraten, eine Stelle in Aussicht stellen können? Und für ein höheres Hochschulstudium, war keine(r) befähigt?  Lassen sich Lehren aus dem Umgang mit den geretteten Kindern ziehen?

 

Fragen über Fragen. Vorgeschlagen ist, dass das ganze Ereignis rund um die „Frankfurter Kinderaktion“ im Rahmen des Memorials aufgeklärt werden sollte. 

 

Nachlese 

Roger Reiss: Zwischenstation: Wartheim Heiden. November 2022.

Taschenbuch; Bezugsquelle: www.amazon.de

ISBN 979-8849460697

 

 

Alle Abbildungen: R. Reiss, mit freundlicher Genehmigung.