Wiewohl beide Frauen annähernd gleich alt waren, zeigen ihre gegenläufigen Lebenswege, wie sehr gerade Künstlerinnen durch Kriege und Verfolgungen in ihrer Entwicklung behindert wurden und wie ungleich ihre Chancen standen, sich mit ihrer Arbeit zu verwirklichen.
Ausgangspunkt beider Karrieren waren die trendigen Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts, doch während Louise Nevelson bereits als Kind russischer Pogromflüchtlinge im Einwanderungsland U.S.A. gut integriert wurde, Zeit ihres Lebens die eigene Entwicklung konsequent vorantreiben konnte und viel öffentliche Anerkennung erfuhr, brach Lotte Lasersteins nach bester Ausbildung sehr dynamisch begonnene künstlerische Entwicklung wegen Verfolgung, Flucht und Exil ab; sie konnte ihren Weg nicht mehr fortsetzen.
Lotte Laserstein beim Malen ihres Meisterwerkes Abend über Potsdam, 1930. Foto: Wanda von Debschitz-Kunowski. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lotte_Laserstein_by_Wanda_von_Debschitz-Kunowski.jpg
Lotte Laserstein wurde am 28. November 1898 in Preussisch-Holland, Ostpreussen geboren, erhielt schon früh in der Malschule ihrer Tante mütterlicherseits, Elisabeth Birnbaum, bildnerischen Unterricht und studierte anschliessend in Berlin an der Hochschule für Bildende Künste Malerei. Ihre bedeutendsten Werke im Stil der Neuen Sachlichkeit entstanden bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland 1933. Zusätzlich zu ihrer künstlerischen Tätigkeit führte Laserstein eine eigene private Malschule und engagierte sich in der Förderung und Vernetzung von Künstlerinnen, etwa im Verein der Berliner Künstlerinnen.
Als „Halbjüdin“ ab 1933 vom NS-Staat mit Arbeitsverbot belegt, musste sie um ihren Lebensunterhalt kämpfen. 1937 gelang es ihr schliesslich, nach Schweden fliehen, wo sie von der Portraitmalerei für private Auftraggeber lebte. Ihre Mutter Meta Laserstein musste in Berlin bleiben; sie wurde im KZ Ravensbrück ermordet. Ihre Schwester Käthe überlebte die Shoah und kam 1946 zu ihr nach Schweden. Erst in den letzten vier Lebensjahren erfuhr Laserstein mit ihrem malerischen Werk endlich grosse internationale Anerkennung, als eine Reihe von Ausstellungen über deutsche Exil-Kunst in London, Stuttgart und Berlin gezeigt wurden. Am 21. Januar 1993 verstarb die Malerin in Schweden.
Eine Flüchtlingsfamilie aus Kiew in Amerika
Louise Nevelson kam am 23. September 1899 in Perejslaw, südöstlich von Kiew, als Leah Berliawsky zur Welt. Ihre jüdisch-orthodoxen Eltern Isaac Berliawsky und Minna Sadie Ziesel geb. Smolerank wanderten mit der Familie 1905 nach Amerika aus und liessen sich in Maine nieder. Die Tochter studierte Bildhauerei und Malerei in Augusta und heiratete mit einundzwanzig Jahren den Schiffahrtsunternehmer Charles Nevelson. Das Ehepaar lebte in New York, wo die junge Frau nach der Geburt ihres ersten Sohnes ihr Kunststudium fortsetzte. Nach der Trennung von ihrem Ehemann verbrachte sie zwei Auslandssemester in München und setzte sich dort mit dem Kubismus auseinander. Nach ihrer Rückkehr in die U.S.A. arbeitete Nevelson unter anderem mit Diego Rivera zusammen; Peggy Guggenheim stellte ihre Werke 1943 zusammen mit jenen von Frida Kahlo und Méret Oppenheim aus. 1
Louise Nevelson. Foto: Lynn Gilbert, 1976. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louise_Nevelson_1976.jpg
Nevelson beschäftige sich zunehmend mit der Bildhauerei und schuf Skulpturen aus Holz, Aluminium und verschiedenen Abfallmaterialen der Möbelindustrie. In den 1960er Jahren nahm sie mehrmals an der documenta in Kassel teil. Einige ihrer bekanntesten Werke sind auf öffentlichen Plätzen ausgestellt; 1968 wurde sie in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen, 1973 auch in die American Academy of Arts and Sciences. Am 17. April 1988 verstarb die Künstlerin in New York.
Louise Nevelson, Atmosphere and Environment XII, 1970. Philadelphia Museum of Art. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Atmos_n_Environ_XII.JPG
Anmerkung
1 Vgl. dazu auch die Portraits bei Tina Walzer, Bedeutende jüdische Jubilare 2018: George Gershwin, Leonard Bernstein, Peggy Guggenheim, Serge Gainsbourg. In: DAVID 117, Sommer 2018, S. 30-31, online: https://davidkultur.at/artikel/bedeutende-juedische-jubilare-2018 sowie Tina Walzer, Judith Kerr, Méret Oppenheim, Ralph Giordano, Nadine Gordimer, Norman Mailer. Zum 100. und 110. Geburtstag. In: DAVID 136, Pessach 5783, April 2023, S. 36-38, online: https://davidkultur.at/artikel/judith-kerr-meret-oppenheim-ralph-giordano-nadine-gordimer-norman-mailer-zum-100-und-110-geburtstag
Louise Nevelson, Transparent Horizon, 1975. MIT Campus. Foto: Daderot 2005. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louise_Nevelson,_Transparent_Horizon_(1975),_MIT_Campus.JPG