Ausgabe

Der Geist geistloser Zustände

Thomas Varkonyi

Wie die „Postcolonial Studies“ den Holocaust unter der Universal-Schablone „Kolonialverbrechen“ einzuebnen versuchen.

Inhalt

In der akademischen Welt geht es – von einem ideologiekritischen Standpunkt aus gesehen – drunter und drüber. Der so genannte „Antirassismus“ leistet paradoxerweise einen Beitrag zur Rassifizierung der Gesellschaft1, während die aus der gleichen ideologischen Richtung kommenden Postcolonial Studies sich an der Einebnung des Holocaust unter der Universalschablone Kolonialverbrechen, dem Eskamotieren des Antisemitismus unter einem allgemeinen Rassismus und der daraus abgeleiteten Delegitimierung des Staates Israel abarbeiten. Gemeinsam ist diesen Strömungen, dass sie sich als primär aktivistisch verstehen und damit empirische Ausgangspunkte und ergebnisoffenes Forschen als nachrangig erklären und vorgefertigte, moralisch legitimierte Urteile der tatsächlichen Analyse vorziehen.2 Stichwort dazu im deutschsprachigen Raum ist wohl „Historikerstreit 2.0“.

 

Historikerstreit 2.0

Der Name bezieht sich auf den Historikerstreit der 1980er Jahre, als es zum Schlagabtausch zwischen dem Historiker Ernst Nolte und dem Philosophen Jürgen Habermas kam. Nolte vertrat – vereinfacht gesagt – die relativistische Auffassung, dass der Holocaust nur eine logische Reaktion Deutschlands auf den Bolschewismus und den Gulag war und daher entschuldbar. „Aus der deutschen Geschichte,“ schrieb zu Nolte später der Theodor Adorno-Schüler Detlev Claussen, „die nach dem Nationalsozialismus zur Gesellschaftskritik drängte, sollte eine Legitimationsquelle nationaler Identität werden.“3 Diesem Zugang von Nolte widersprach Habermas, unter anderem zusammen mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler vehement und formulierte mit seiner Argumentation die Grundlagen der offiziellen Einstellung Deutschlands zum Holocaust aus, nämlich, dass die Schuld Nazi-Deutschlands am Holocaust Teil des bundesdeutschen Selbstverständnisses sei. Dies gilt bis heute, allerdings nicht mehr unwidersprochen. 

Als Auslöser dieses auch als „Neuer Historikerstreit“ bekannten Phänomens gilt die im Frühling 2020 geführte Diskussion um die Einladung des postkolonialen Historikers Achille Mbembe als Eröffnungsredner zur später wegen COVID abgesagten Ruhrtriennale.4 Die Vorwürfe besagten, Mbembe wäre israelfeindlich, relativiere den Holocaust und sei ein Unterstützer der antisemitischen BDS-Bewegung, deren Geschäftsmodell in der Globalisierung des NS-Wahlspruchs „Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden“ zur Delegitimierung des Staates Israel besteht. Diese Vorwürfe wurden nicht durch Gegenargumente gekontert, was beim Oeuvre Mbembes auch ziemlich schwer gewesen wäre, sondern mit der reflexartigen Behauptung von Rassismus (Mbembe ist Afrikaner) und dem Verweis auf den angeblich provinziellen Zugang Deutschlands zum Holocaust, nämlich diesem eine unverdiente Singularität zuzuweisen, statt ihn in die globale Kolonialgeschichte einzuordnen. Ein essenzielles Element der Postcolonial Studies ist das Bedürfnis nach so genannter Israelkritik. Daher kam es, nachdem der deutsche Bundestag bereits im Mai 2019 den Beschluss gefasst hat, der BDS-Bewegung entschlossen entgegenzutreten und den Antisemitismus zu bekämpfen – für den Antrag stimmten die CDU/CSU, SPD, FDP, grosse Teile von Bündnis 90/Die Grünen – zur Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die Weltoffenheit kreativ als Verständnis für Antisemiten aus dem so genannten Globalen Süden umdefinierte und daher gegen den BDS-Beschluss des Bundestags agitierte. Diese Initiative zahlreicher öffentlicher Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen in Deutschland, – unter anderem auch des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU in Berlin, das wohl sein Thema verfehlt hat – fürchtet weniger den Antisemitismus als die Möglichkeit des Missbrauchs des Antisemitismusvorwurfs.

 

Multidirektionale Erinnerung & Der Katechismus der Deutschen

Diese Debatte ging dann fliessend in die Diskussion um das 2021 auf Deutsch erschienene Buch Multidirektionale Erinnerung6 von Michael Rothberg über. Rothberg geht es in seinem Werk darum, dass die "gegenwärtigen Kämpfe" und die Zukunft nicht durch die Vergangenheit beschädigt werden sollen. Daher müsse die Singularität des Holocaust in Frage gestellt werden – ein bislang zumeist im rechtsradikalen Milieu verortbares Bestreben – damit auch andere Leidensgeschichten anerkannt werden könnten. 

Die Erosion der Begriffe und des Unterscheidungsvermögens bei Rothberg sollten nicht unterschätzt werden: Die Zusammenführung des Holocaust und anderer Untaten entkleidet die Vernichtung der europäischen Juden ihrer historischen Spezifik; "der räumliche und zeitliche Kontext, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch Täter und Opfer werden unkenntlich," schreibt dazu Jan Gerber.7 Denn wenn die Juden als Opfer des deutschen Vernichtungswahns nicht mehr genannt würden, dann müssten auch die Täter nicht mehr explizit gemacht werden.8 Warum angeblich die Erinnerung an den Holocaust der Erinnerung an andere, durchaus auch koloniale, Verbrechen im Wege steht, kann wohl nur mit dem Bedürfnis nach Israelkritik erklärt werden. Diesem Bedürfnis steht – noch – die Erinnerung an den Holocaust entgegen und muss daher aus dem Weg geräumt werden. Daher skandieren auch die Hamas-unterstützenden Pogrom-Fans auf Demonstrationen gerne „Free Palestine from German Guilt.“9 Sie wollen freie Bahn für den antisemitischen Karneval der Grausamkeit.

 

Der Kritik an Rothberg in Deutschland entgegnete der Historiker Dirk Moses mit seiner Kampfschrift Der Katechismus der Deutschen, in der er ein quasireligiöses Verhältnis der Deutschen zum Holocaust und dessen Singularität, dem Zivilisationsbruch, den dieser darstellt, der Solidarität mit Israel und der Kenntlichmachung des Antizionismus als Antisemitismus behauptete.10 Auch hier zeigt sich, dass es der postkolonialen Kritik nicht um Erkenntnis, sondern um schablonenhafte Anerkennung kolonialer Verbrechen geht. Denn die Singularität des Holocaust (ist) keine rhetorische Figur, die dem Ereignis übergestülpt wurde, die Rede vom Zivilisationsbruch ist keine These, wie Jan Gerber treffend bemerkt.11

 

Dass bei der documenta fifteen in Kassel keinem der Verantwortlichen aufgefallen ist, dass antisemitische "Kunst" zur Aufstellung gelangte, weil niemand wissen wollte oder sich vorstellen konnte, dass Künstler und Kuratoren aus dem Globalen Süden antisemitisch seien, obwohl bekannt sein konnte, dass diese BDS unterstützen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Kulturpolitik und Kunstszene.12 Wirklich überraschen kann das aber nicht. Zu stark ist das Bedürfnis, Antisemitismus in die Nazivergangenheit zu verbannen, um die aktivistische Zukunft zu gewinnen. 

Was die Postcolonial Studies in Bezug auf den Holocaust leisten oder nicht leisten können und wollen, hat dankenswerterweise Steffen Klävers in seinem Buch Decolonizing Auschwitz minutiös analysiert und dargestellt.

 

Decolonizing Auschwitz

Steffen Klävers präzisiert gegen die postmoderne Behauptung, dass die Singularität des Holocaust nicht gegeben sei, den Begriff der Singularität als qualitative Beispiellosigkeit. Diese lässt sich am Eindringlichsten am NS-Antisemitismus erkennen, der als heilsbringende ‚Erlösung‘ einer germanischen ‚Volksgemeinschaft‘ durch vollständige Vernichtung des wahnhaft als übermächtige ‚Gegenrasse‘ phantasierten Judentums charakterisiert ist.14  Dieser Erlösungsantisemitismus (Saul Friedländer) ist der Antrieb des Holocaust, der in dieser Hinsicht mit keinem anderen Ereignis kongruent oder kommensurabel ist.15 Die Postcolonial Studies vermeiden jede Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus, insbesondere in Abgrenzung zum (kolonialen) Rassismus, können diesen daher auch nicht auf den Begriff bringen und erkennen folglich auch nicht, dass Antisemitismus das Kernelement der NS-Ideologie war. Diese Ideologie beinhaltet die welterklärerische Vorsstellung einer abstrakten, ungreifbaren ‚Figur des Dritten‘, einer überaus mächtigen ‚Gegenrasse‘, die personifiziert für alle Krisen der modernen Welt beziehungsweise des deutschen Volkes verantwortlich gemacht wird.“16 Dies macht auch den fundamentalen Unterschied zwischen nationalsozialistischem Antisemitismus und kolonialem Rassismus aus: 

 

„Im NS-Antisemitismus sollte jeder einzelne jüdische Mensch vernichtet werden, weil er Teil einer verderblichen, verborgenen, abstrakten und übermächtigen Gegenrasse betrachtet wurde. Im kolonialen Rassismus gibt es keine Entsprechungen zu dieser Zuschreibung – weder auf Seiten der Kolonisierenden, noch auf Seiten der Kolonisierten lassen sich die die antisemitischen Wahnvorstellungen übertragen oder eins zu eins übersetzen: Antisemitismus und Rassismus sind nicht kommensurabel, und damit kann Antisemitismus auch keine Unterform von oder Beispiel für Rassismus sein.17

 

Nachlese

Ingo Elbe et al (Hg.), Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. (Berlin 2022).

Jan Gerber (Hg.), Die Untiefen des Postkolonialismus. Hallische Jahrbücher 1. (Berlin 2021).

Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. (Bonn 2021).

 

Anmerkungen

1 Vojin Sasa Vukadinovic, „Struktureller Rassismus“. Der terminologische Beitrag zur Rassifizierung der Gesellschaft. In: Ingo Elbe, et al (Hg.), Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. (Berlin 2022).

2 Vukadinovic, Rassifizierung, S. 52f.

3 Detlev Claussen, Phänomenologe des Faschismus. In: taz, 18.08.2016. https://taz.de/Historiker-Ernst-Nolte-ist-tot/!5331963/ (Zugriff: 12.07.2023)

4 Alex Gruber, Israel als Hindernis für die „Utopie der Weltreparatur“. Achille Mbembes Begriff der ‚Nekropolitik‘ als Speerspitze des postkolonialen Antisemitismus. In: Ingo Elbe, et al (Hg.), Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. (Berlin 2022), S. 406.

5 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892 (Zugriff: 14.07.2023)

6 Michael Rothberg, Multidiraktionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. (Berlin 2021).

7 Jan Gerber, Holocaust, Kolonialismus, Postkolonialismus. Über Opferkonkurrenz und Schuldverschiebung. In: Die Untiefen des Postkolonialismus. Hallische Jahrbücher 1. (Berlin 2021), S. 26f.

8 Gerber, Holocaust, S. 43.

9 https://taz.de/Free-Palestine-from-German-Guilt/!5967918/ (Zugriff:05.11.23)

10 https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ (Zugriff: 14.07.2023)

11 Jan Gerber, Anerkennung statt Erkenntnis. Michael Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung. In: Ingo Elbe et.al.(Hg.), Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. (Berlin 2022), S. 490.

12 Alex Feuerherdt, Antisemitismus in der Reisscheune. https://www.mena-watch.com/documenta-antisemitismus-in-der-reisscheune/ (Zugriff: 14.07.2023)

13 Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen. (Frankfurt/Main 2014), S. 32.

14 Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. (Bonn 2021), S. 220.

15 Klävers, Decolonizing, S. 221.

16 Ebd.

17 Klävers, Decolonizing, S. 224.