Christoph Tepperberg
Tamara Scheer: Die Sprachenvielfalt in der österreichisch-ungarischen Armee (1867 – 1918)
(= Schriftenreihe des Heeresgeschichtlichen Museums, Bd. 31, Wien: 2022)
432 Seiten, Buch gebunden (Hardcopy), Preis: 29,90 Euro
ISBN: 978-3-903403-00-0
Privatdozentin Dr. Tamara Scheer (geb. 1979) studierte Geschichte an der Universität Wien, Promotion 2006, Habilitation 2020, seit 2009 Lektorin an der Universität Wien, seit 2019 zugleich am Päpstlichen Institut Santa Maria dell’Anima in Rom tätig, zurzeit Projektleiterin zur Identifizierung von 450 österreichisch-ungarischen Soldaten in der Krypta der Anima. Zahlreiche Publikationen, u.a. über Österreich-Ungarns Militärverwaltungen und das Kriegsüberwachungsamt im Ersten Weltkrieg (2009, 2010), über den Sandžak von Novipazar 1879–1908 (2013), über Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878–1918 (2018) und über vergessene Wörter und Wortschöpfungen aus der Habsburgermonarchie (2019). Am 8. November 2022 wurde im Heeresgeschichtlichen Museum im Wiener Arsenal die deutschsprachige Ausgabe ihrer Habilitationsschrift präsentiert. Die Studie befasst sich mit den zwölf anerkannten Sprachen bei den habsburgischen Streitkräften. Diese Sprachenvielfalt bedeutete zugleich eine wissenschaftliche Herausforderung, denn es musste nicht nur umfangreiches amtliches Militärschriftgut, sondern auch zahlreiche autobiografische Quellen durchgesehen werden. Ich hatte das Forschungsprojekt von Dozentin Scheer während der vergangenen Jahre aufmerksam verfolgt. Dabei war mir ihre unermüdliche und erfrischende Freude an der Archivrecherche aufgefallen. Sie hat öffentliche und Privatarchive in ganz Mittel- und Südosteuropa bereist: in Bosnien-Herzegowina, Deutschland, Italien, Kroatien, Montenegro, Österreich, Slowenien, Ukraine, Ungarn und in Tschechien. Das Resultat kann sich sehen lassen.
Das Sprachensystem der k. u. k. Armee
Die gesamte bewaffnete Macht Österreich-Ungarns bestand aus dem gemeinsamen k. u. k. Heer, der k. u. k. Kriegsmarine und den beiden Landwehren. Es geht in der Studie primär um das Sprachensystem der k. u. k. Armee, also der gemeinsamen österreichisch-ungarischen Streitkräfte. Die österreichische (k. k.) Landwehr übernahm das Sprachensystem der k. u. k. Armee, in der königlich-ungarischen (k. u.) Landwehr (Magyar Királyi Honvédség) wurde ausschließlich Ungarisch verwendet. Die zwölf in der k. u. k. Armee anerkannten Sprachen waren Deutsch, Ungarisch, Kroatisch, Böhmisch (Tschechisch), Polnisch, Ruthenisch (Ukrainisch), Slowenisch, Slowakisch, Serbisch, Rumänisch und Italienisch. Dazu kamen offiziell nicht berücksichtigte Mischformen und Dialekte. Die Armeeführung versuchte zwar auch diese Idiome nach Möglichkeit zu berücksichtigen, wollte dabei jedoch die militärische Effizienz nicht gefährden. Tatsächlich wurde die Sprachenvielfalt letztlich zu einem der Hauptcharakteristika der Vielvölkerarmee und trotz aller Missstande bei der Umsetzung der Sprachenrechte sogar zum gemeinsamen Identifikationsobjekt.
Das Sprachensystem der k. u. k. Armee wurde nach dem sogenannten »Ausgleich mit Ungarn« (1867) durch die Wehrgesetze der Heeresreform von 1868 geregelt. Es gab drei Ebenen des Sprachgebrauchs: 1. die Kommandosprache, 2. die Dienstsprache und 3. die Regimentssprache bzw. Soldatensprache. Kommando- und Dienstsprache werden in den Quellen oft gemeinsam als Armeesprache bezeichnet. Die deutsche Armeesprache sollte als Symbol der Gemeinsamkeit, als Klammer dienen und die Effizienz sicherstellen – Eine »lingua franca«, ähnlich wie einst das Lateinische und heute das Englische.
Die Kommandosprache umfasste etwa 80 Begriffe, die jeder Soldat unabhängig von seiner Muttersprache beherrschen sollte. Die Begriffe stammten zum Teil aus den Französischen, hatten also mit deutschem Nationalismus nicht das Geringste zu tun. Es muss dabei oftmals ein Kauderwelsch herausgekommen sein. Ich erinnre mich an eine Erzählung meines Vaters über die Waffenbelehrung beim k. u. k. Infanterieregiment Erzherzog Eugen Nr. 41 zu Czernowitz in der Bukowina: Die korrekte Bezeichnung der Bestandteile des Infanteriegewehres lautete »Schaft, Lauf, Verschlussstück«, die rumänischsprachigen Soldaten wiederholten beharrlich: »Schaf, Liuf, Varfliftik!«
Wie erwähnt, war auch die Dienstsprache der gemeinsamen Armee das Deutsche. Der Gebrauch war für die gesamte schriftliche Kommunikation zwischen militärischen Dienststellen vorgeschrieben, unabhängig vom jeweiligen Dienstort. Alle offiziellen Dokumente, Befehle, Vorschriften und Formulare mussten in der deutschen Armeesprache verfasst bzw. ausgeführt werden. Deutsch war während der Dienstzeit in der Kommunikation unter Offizieren zu verwenden. Auch hier argumentierten Monarch und Armeeführung mit Effizienz und Praktikabilität. Für alltägliche Berichte in den Kasernen musste Deutsch verwendet werden, selbst bei Vorfällen, die sich in anderen Sprachen »ereignet« hatten. Die Autorin konnte keine einzige Quelle ausfindig machen, die darauf hindeutet hätte, dass es dem Monarchen um eine Demonstration der Dominanz des Deutschen in der gemeinsamen Armee gegangen wäre oder er damit Wehrpflichtige zu germanisieren gehofft hätte, wie Politiker und Journalisten häufig unterstellten.
Für die dritte Ebene des Sprachensystems waren verschiedene Bezeichnungen in Verwendung. Da der Grossteil der Soldaten in Infanterieregimentern diente, nannte man sie zumeist »Regimentssprache«, analog auch »Bataillonssprache« und »Kompaniesprache«. In Militär-Handbüchern und Vorschriften findet sich zudem die Bezeichnung »Nationalsprache«. Mitunter bediente man sich der Bezeichnungen »Soldatensprache«, »Truppensprache«, »Soldatenumgangssprache« oder »Ausbildungssprache«.
Waren aufgrund der Stellungs- und Assentierungsergebnisse bei einem Truppenkörper zumindest 20 % der Wehrpflichtigen mit einer bestimmten Umgangssprache zu erwarten, so wurde dieser Sprache der Status einer Regimentssprache zuerkannt. In diesem Falle musste dem Truppenkörper entsprechendes Ausbildungspersonal an Offizieren und Unteroffizieren zugeteilt werden. Nach diesem rechtlich-theoretischen Überbau, der einem eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität der Thematik vermittelt, bringt die Autorin unzählige spannende Zitate aus militäramtlichen Quellen und aus persönlichen Aufzeichnungen von Offizieren und Schriftstellern.
Jiddisch – keine anerkannte Militärsprache
Entsprechend dem in der Habsburgermonarchie dominierenden Religionsbekenntnis waren die meisten Soldaten der k. u. k. Armee römisch-katholisch. Anerkannt waren auch Protestanten Augsburgischer und Helvetischer Konfession, Griechisch-Orientalische (Orthodoxe) und Griechisch-Katholische sowie Juden (Israeliten) und – nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Bosnien-Herzegowina – auch Muslime.
Das Buch beschäftigt sich nicht nur allgemein mit der Stellung von Menschen jüdischen Glaubens in der k. u. k. Armee,1 sondern vor allem mit dem Jiddischen, einem deutschen Idiom, der Sprache der aschkenasischen Juden im Kronland Galizien und dem Herzogtum Bukowina. Die drei landesüblichen Sprachen Galiziens waren Deutsch, Polnisch und Ruthenisch (Ukrainisch).
Jiddisch war eine von der Armee nicht anerkannte Sprache und wurde sogar in den österreichischen Volkszählungen nicht berücksichtigt. Jiddisch war auch in der österreichischen Zivilverwaltung nicht anerkannt, obwohl Politiker vielfach die Anerkennung als eigene Sprache und Nationalität gefordert hatten. Beim Grossteil Galizischer Soldaten israelitischen Bekenntnisses wurde in den Militärakten Deutsch als Umgangssprache eingetragen. Daher schienen die meisten Juden Galiziens in der Armeestatistik mit deutscher Nationalität auf. Jiddisch sprechende Juden Galiziens wurden bisweilen auch als »Galizianer« bezeichnet, zum Unterschied von den anderen Nationalitäten Galiziens, den Polen und Ruthenen Im Gegensatz zu Bosnisch und »Windisch« fand Jiddisch so gut wie nie Eingang in Militär-Personalakten.
Bemerkenswert ist ein »Andachtsbüchlein für jüdische Krieger im Felde. Von Feldrabbiner Arnold Frankfurter, Leiter der k. u. k. Militärseelsorge in Wien. Übersetzt ins Ungarische von Feldrabbiner Dr. Ernst Deutsch. Preis 24 Heller. Wien 1915. Jos. Schlesingers Buchhandlung Wien I. Seitenstettengasse 5.« Kurios ist auch die Bezeichnung k. u. k. Esperanto für das Armeeslawische, einer Mischung der Idiome aller in der Alten Armee vereinigten Völker. Treffend ist die vielsprachige, Kriegs-Korrespondenzkarte mit auffälligem Design: »Ich bin gesund und es geht mir gut«. Sie ist zugleich das Coverbild der Publikation.
In ihren »Schlussbetrachtungen« analysiert die Autorin den von den Zeitgenossen für die Verwaltung des Viervölkerstaates geprägten Begriff des »Fortwurstelns«. Der sowohl für die zivile als auch für die militärische Verwaltung verwendete Begriff war zumeist negativ besetzt. Doch, so meint die Autorin, »Das Fortwursteln war [...] weniger ein Laufenlassen der Dinge als die Verfolgung von und das Festhalten an fest definierten Grundprinzipien auf allen Verwaltungsebenen, was eine Adaption an lokale Verhältnisse erst ermöglichte.«
Verwundert hat mich die Verwendung rezenter Ortsbezeichnungen, sogar im historischen Kontext: Chernivtsi statt Czernowitz, Košice statt Kassa oder Kaschau, Lviv statt Lemberg oder Lwów, Olomouc statt Olmütz. Wenn man zum Jahr 1901 vom »Hausregiment von Chernivtsi« liest, ist man doch eigenartig berührt. Das Band enthält ausführliche Verzeichnisse von Quellen und Literatur sowie ein Ortsglossar. Nur ein Bildnachweis ist nicht vorhanden. Insgesamt eine höchst bemerkenswerte und spannende Publikation.
Anmerkung
1 Über die jüdischen Soldaten und Offiziere der Habsburgischen Armeen (1788-1918) wurde im DAVID schon mehrfach berichtet. Siehe DAVID, Heft 93 – 06/2012; Heft 101 – 07/2014; Heft 102 – 09/2014; Heft 104 – 04/2015 und Heft 137 – 06/2023.