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Bald wird das Areal verbaut sein, zubetoniert, vollgestellt mit Gebäuden, deren Aussehen beliebig und abstossend ist, ein Ort, an dem viele nicht wohnen wollen, sondern müssen, sozusagen eine Seestadt ohne See. 1
Davor gewährt die Gemeinde Wien noch schnell eine temporäre kulturelle Nutzung, wie gnädig. Am Tag des Denkmals konnte man die Geschichte dieses trüben Ortes erleben, geführt von den Künstlern Michael Hieslmayr und Michael Zinganel, vielbeschäftigt in der Kunstszene2, und dem Historiker Bernhard Hachleitner. Ihr preisgekröntes Buch Blinder Fleck Nordwestbahnhof (Abbildung 4) zeichnet die Geschichte des einstigen Verkehrsknotenpunkts nach.3
Erbaut nach Fertigstellung der Bahnstrecke nach Berlin und zur Ostsee um 1870, diente der Prunkbau vor allem als Ankunftshalle für Migranten aus Mähren, vor allem aber, bis 2022, als Güterumschlagplatz. Für den Personenverkehr wurde er 1924 geschlossen und ab 1927 zu einem Indoor-Schizirkus umgebaut (wie auch heute, folgte bei diesem „Start-up“ nach ein paar Monaten die Pleite). Schon 1924 wurden die fiktiven Deportationsszenen aus dem prophetischen Film Stadt ohne Juden von Hans Karl Breslauer (1924) in dieser Halle gedreht. Die Vorlage für das Skript war der berühmte Roman von Hugo Bettauer; in dem Streifen spielte übrigens auch der 44-jährige Hans Moser mit.4 Vierzehn Jahre danach wurden die Vorahnungen des Films traurige Wirklichkeit: Die Nationalsozialisten benutzten die ehemalige Bahnhofshalle für politische Veranstaltungen und schliesslich für ihre Propagandaausstellung Der ewige Jude, die den Auftakt für die Verfolgungen dieser Zeit bildete – kurz danach fand der Novemberpogrom statt.5
Die Ausstellung wurde am 2. August 1938 eröffnet und musste um einen Monat verlängert werden, da bis 30. September bereits 350.000 Menschen die Ausstellung besucht hatten, darunter (allerdings zwangsweise) sämtliche Wiener Schüler.6 Etwa ein Drittel der Exponate wurden von den Wiener Nazis zur Wanderausstellung hinzugefügt, die in einem „Hitler in Wien“ – Foto gipfelte, von dem aus Juden-Karikaturen flüchteten – mit den aufgeklebten Fotoporträts realer jüdischer Exilanten.
Während der NS-Zeit wurde der Personenverkehr wieder eingerichtet, es fanden jedoch keine Deportationen von hier aus statt, wohl aber war hier der Umschlagplatz für Möbel, die den jüdischen Auswanderern nachgeschickt werden sollten. Nach 1945 folgte ein steter Niedergang, der letztes Jahr mit der Auflassung der allerletzten Transportmöglichkeit für Stückgut mit der Bahn endete. Der LKW hat gesiegt!
Im Herbst 2021 eröffnete das Museum Nordwestbahnhof von Hieslmayr/Zinganel eine Freiluft-Installation auf dem bereits stillgelegten Areal. Spuren zweier historischer Ereignisse zur jüdischen Geschichte wurden hier an ihren Originalschauplätzen rekonstruiert. Die Grundrisslinien der 1952 abgebrochenen Bahnhofshalle sowie jene der 1938 darin aufgebauten Propaganda-Ausstellung Der ewige Jude wurden im Massstab 1:1 am Boden nachgezeichnet und als Erinnerungsmal freigelegt: eine Art von geistiger, nichtinvasiver Archäologie. Gleichzeitig wurden als Hinweis auf die Dreharbeiten des Films Stadt ohne Juden ein Kameraset und ein Zugwaggon in abstrahierter Form nachgebaut7 (Vgl. Abbildung 1).
Am 24. September 2023 wurden zum Tag des Denkmals Führungen mit den Initiatoren des Projekts veranstaltet, „mit festem Schuhwerk“ und „auf eigene Gefahr“ begab man sich an die Ruinenstätte. Viele interessierte Denkmalsjünger hatten sich eingefunden und erwanderten das trostlose Areal, das in der Zukunft noch trostloser werden wird, den allmächtigen Spekulanten sei Dank. So wurde ein Denkmal vorgeführt, das noch gar nicht existiert und vermutlich niemals existieren wird, ein Novum in der Veranstaltungsreihe zum Denkmalschutz.
Es bleibt zu hoffen, dass es auch in Zukunft einen Hinweis auf die historischen Geschehnisse geben wird, wenn auch nicht das von den Künstlern angedachte Denkmal, das doch zu viel Platz verbrauchen und die armen Anwohner verstören könnte.
Anmerkungen
1 https://www.wien.gv.at/stadtplanung/nordwestbahnhof abgerufen am 09.08.2023.
2 https://tracingspaces.net/ abgerufen am 09.08.2023.
3 https://tracingspaces.net/blinder-fleck-nordwestbahnhof/ abgerufen 09.08.2023.
4 https://www.filmarchiv.at/program/film/die-stadt-ohne-juden-7/ abgerufen 09.08.2023.
5 https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Nordwestbahnhof abgerufen 09.08.2023.
6 https://www.doew.at/erkennen/ausstellung/1938/die-verfolgung-der-oesterreichischen-juden/hasspropaganda abgerufen 09.08.2023.
7 https://tracingspaces.net/excavations-of-the-darkest-past/ abgerufen 09.08.2023.
Abbildung 1: Schrägsicht Überlagerung Hiesmayer Zinganel. Foto: M. Bittner.
Abbildung 2: Visualisierung NS-Ausstellung. Foto: Ingrid Bittner.
Abbildung 3: Michael Zinganel und Bernhard Hachleitner. Foto: Ingrid Bittner.
Abbildung 4: Das preisgekrönte Buch. Foto: Ingrid Bittner.
Alle Abbldungen: Mit freundlicher Genehmigung M. Bittner.