Ausgabe

Dalmatien in Nordafrika Das Lager El Shatt am Sinai 1944–1946 für Flüchtlinge aus Dalmatien und ganz Mitteleuropa, TEIL1

Anna Maria Grünfelder

Der deutsche Feldzug auf dem Balkan zwang die Bevölkerung zu Migrationen an die Meeresküsten – die Adria, das Ionische Meer und schliesslich das Mittelmeer.

Inhalt

Griechen hatten an der afrikanischen Küste Lager errichtet, in denen Albaner, aber auch auf den Balkan geflüchtete Polen Zuflucht fanden, die nicht mehr weiter, nach Marseilles zu den Polnischen Freiwilligen gelangen konnten. Sie fanden dafür Aufnahme in den Alliierten Lagern, wo sie von den Briten, dann auch von den Amerikanern im Afrikafeldzug eingesetzt wurden. Im Jahre 1944 gesellten sich diesen Nationalitäten jugoslawische Flüchtlinge hinzu – eine unmittelbare Folge der Kapitulation Italiens (unterzeichnet am 1. September 1943, verlautbart sieben Tage später), die den Krieg in die bis dahin von Italien besetzten Regionen des ehemaligen Jugoslawiens, nach Dalmatien, auf die meisten Adriainseln (mit Ausnahme von Pag, Brač, Hvar und Mljet), in das Küstenland von Rijeka-Sušak bis zur Osteinfahrt der Bucht von Bakar, auf die Quarnerinseln und nach Westslowenien einschliesslich der Hauptstadt Ljubljana (dt. Laibach) brachte. Die italienische Besatzungspolitik mit ihren Razzien und Jagden auf Partisanen und ihren Repressalien gegen die Zivilbevölkerung war für die slowenische und kroatische Einwohnerschaft schon schlimm genug; aber ab diesem Datum kam in die Region der brutale Krieg der Deutschen Wehrmacht, auf den die Alliierten von Italien aus mit Bombardements der Region „antworteten“. 

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Zeltstadt im Wüstensand: Zelte im Flüchtlingslager El Shatt. Foto: Ljubomir Garbin, El Shatt, 1945. HPM-80360. 

Jüdische Flüchtlinge aus ganz Jugoslawien, aber auch Emigranten aus Deutschland, Österreich, der ehemaligen Tschechoslowakei und Polen hatten unter der italienischen Besatzung in Dalmatien eine relativ sichere Zuflucht gefunden:
Bis zum Abzug der italienischen Verwaltung aus dem ehemaligen Jugoslawien lehnten die italienischen Militärbehörden beharrlich und erfolgreich die deutsche Forderung und den zunehmenden Druck des deutschen Verbündeten nach Auslieferung der auf ihrem besetzten Territorium weilenden ausländischen Juden ab. Auf dem Festland hingegen, im
„Unabhängigen Staat Kroatien“, wurden seit 1942 die Bestimmungen der Wannsee-Konferenz, die Deportation der Juden des gesamten Staatsgebietes in die Lager der Nationalsozialisten schonungslos vollzogen. Die italienische Militärverwaltung sah sich zwar dem doppelten Druck – einerseits aus Zagreb und andererseits der deutschen Stellen in Rom – ausgesetzt, aber das Oberkommando der Zweiten Italienischen Armee und die zivilen italienischen Stellen im Besatzungsgebiet sowie in den annektierten Teilen des ehemaligen Jugoslawien widerstanden mit beachtenswert listiger Hinhaltetaktik. Sie bemühten sich sogar noch nach der Kapitulation Italiens, jene Juden, die sie im November 1942 in Internierungslagern (nicht „Konzentrationslagern“, obwohl diese offiziell als solche bezeichnet wurden) untergebracht hatten, vor dem Einmarsch der Deutschen auf das von den Italienern geräumte Territorium nach Süditalien zu evakuieren. 

 

Der italienische Generalstab, selbst kopflos nach dem Putsch vom 25. Juli 1943 und der Absetzung Mussolinis, liess die Armeeführung in Dalmatien jedoch im Stich, während er sich selbst mit der Regierung von Pietro Badoglio nach Süditalien flüchtete. Dort standen schon die Alliierten: Diese akzeptierten jedoch Badoglios Angebot eines „unkomplizierten“ Seitenwechsels Italiens und Beitritt als Bündnispartner der Alliierten nicht. Sie bestanden auf einer bedingungslosen Kapitulation des Königreiches Italien – verlautbart am 8. September.

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 Werkstatt für Kinderspielzeug in El Shatt. Foto: Amt für Kriegsberichterstattung (Ured za ratne informacije – Office for War Information, OWI) 1944–1945. HPM/MRNH-F-1854.

Nach dem Abzug der italienischen Armee aus Dalmatien und von den dalmatinischen Inseln rückten Titos Partisanen in Dalmatien ein und besetzten auch einzelne Inseln, aber – mangels geeigneter Schiffe – nur die dem Festland nächstgelegenen. Sie waren sich bewusst, dass sie weder hinsichtlich der Mannschaftsstärke, noch der Ausbildung und der Ausrüstung der deutschen Besetzung würden standhalten und die Zivilbevölkerung schützen können. Daher evakuierten die Partisanen die befreiten Insassen der italienischen Internierungslager für Juden, Kampor auf der Insel Rab, sowie der Lager für slowenische und kroatischen Partisanen, ebenfalls auf Rab, und auf den Inseln in Dalmatien und in Montenegro: Jüdinnen und Juden aus dem Lager Kampor traten zahlreich zu den Partisanen über – auch Österreicher – und marschierten auf das Festland. Die anderen, unter ihnen ältere und kränkliche Personen, wurden für die Evakuierung nach Süditalien, auf das von den Alliierten kontrollierte Territorium vorgesehen, ebenso wie kampfunfähige Slowenen und Kroaten aus den italienischen Lagern. Diesen schlossen sich – ebenfalls ungeplant – Bevölkerungsgruppen vom Festland und den Inseln an; so spontan verliessen schliesslich rund 28.000 Menschen Jugoslawien in Richtung Italien. Eine Gruppe von über 200 alten und kranken Personen konnte sich nach der Freilassung vorerst weder für die Evakuierung auf das Festland oder nach Italien entscheiden, oder fühlte sich nicht reisefähig; sie wollte auf Rab warten – aber die Deutschen überrollten Dalmatien. Im März 1944 gab es für diese Gruppe kein Entrinnen mehr von der Insel: Sie wurden von der SS in die berüchtigte Triestiner Risiera di San Sabba transportiert und von dort in die Vernichtungslager.

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Alltag im Flüchtlingslager El Shatt – Wäscheaufhängen. Foto: OWI, El Shatt, 1944–1945. HPM/MRNH-F-1906.

Vom Festland in Dalmatien auf die Inseln entwickelte sich ab September 1943 ein dichter „Schlepperverkehr“ nach Brač, Mljet, Šolta. Korčula und Vis, dessen sich die jüdischen Flüchtlinge in Dalmatien bedienten; als Korčula und Vis die Menschen nicht mehr aufzunehmen vermochten, kamen die Briten mit ihren Schiffen zu Hilfe, um die Flüchtlinge nach Italien überzusetzen. Der Brigadier des britischen Generalstabs Fitzroy MacLean, Chef der Britischen Militärmission beim Generalstab der Partisanen auf Vis unterstützte schon seit September 1943 die Koordination der Alliierten mit dem Generalstab der Partisanen

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Alltag im Flüchtlingslager El Shatt – Frauen besticken Militärdecken.Foto: OWI, El Shatt, 1944. HPM/MRNH-F-1907.

Mira Altarac (verehelichte Hadji Ristić), aus einer sefardischen Familie in Sarajewo, die mit ihrer Mutter – als Muslima verkleidet – 1941 die Flucht nach Split geschafft hatte, schildert die Überfahrt nach Italien von Korčula aus: Von dort wurden sie zur Überfahrt nach Italien auf die Insel Vis gefahren, wo sich das Oberkommando der Partisanen befand, in dem 1943 britische Militärberater zur Unterstützung der Partisanen weilten. Die Boote verkehrten nachts, ihre Lichter mussten aber ausgeschaltet bleiben. Sie schaukelten, Öl floss aus, die Frauen erbrachen, die Kinder schrien. Mira Altarac fuhr mit einem Boot, das Bari und Brindisi anlief. Die Reisenden wurden dort in die kleinen Ortschaften Santa Maria die Lecce und Santa Croce gebracht, wo alle die Entlausung und Desinfizierung über sich ergehen lassen mussten. Auf dem Schiff konnten sie sich endlich von der Angst auf der Flucht erholen und auf Deck sonnen. Die britischen Matrosen und Offiziere verhielten sich liebenswürdig und hilfsbereit. Um nicht zu vergessen, dass sie sich im Krieg befanden, gab es auf dem Schiff Rettungsübungen für den Fall, dass das Schiff auf eine Mine auflief. Schon in Italien boten die Alliierten den Reisenden Niederlassungsmöglichkeiten in den U.S.A. an. UNRRA, die UN-Organisation für Wiederaufbau, erstellte Listen von Interessenten für eine Einwanderung in die U.S.A. Regina Altarac nahm das nicht an, denn sie hoffte, nach der Rückkehr ihren Ehemann, der bei den Partisanen war, wieder zu sehen. Nach neuntägiger Fahrt aus Italien erreichten sie Port Said. 

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„Durst nach dem Spiel“. El Shatt, 1944. HPM/MRNH-F-4428.

Von Italien nach Nordafrika – Organisation der Evakuierung

Das von den Alliierten im Herbst 1943 kontrollierte Territorium auf dem italienischen „Stiefel“ konnte nicht alle diese Menschen aufnehmen, zumal auch aus Italien selbst Menschen dahin strömten. Im Herbst 1943 konnten Vertreter des Generalstabes der Partisanen (unter anderem Titos Dolmetscher, General Vladimir Velebit, dessen Vorfahren auch österreichische Wurzeln hatten) über Churchills Sohn Randolph (der als Sondergesandter bei Tito fungierte) erreichen, dass die Briten sich zur weiteren Rettung dieser geflüchteten Bevölkerung bereit erklärten. Als Zuflucht boten sich Malta und die Zeltlager der Alliierten in Nordafrika an: El Shatt in der Wüste Sinai (in der Nähe des Lagers El Alamein, von dem aus Feldmarschall Montgomery den Afrikafeldzug kommandiert hatte), El Khatadba nordöstlich von Kairo und  Tolumbat bei Alexandria an der Mittelmeerküste. Dort, wo den Kroaten Lager zugewiesen wurden, hatten früher auch schon Griechen und Polen nach ihrer Ankunft Lager errichtet. Sie hatten Araber zu Hilfe genommen, aber die Kroaten bestanden darauf, ihre Lager selbst zu bauen. Das grösste Lager sollte in El Shatt entstehen.

 

So ging das Oberkommando der Partisanen-Armee an die Organisation der Evakuierung und an die Planung der Zeltlager: ein „Zentralkomitee für die Evakuierung“ („Centralni odbor zbijegova“, CDZ) wurde gebildet, und für die zukünftige „Zeltstadt“ wurden Architekten, Mitglieder der Partisanen-Armee und freiwillige Kräfte engagiert, die schon Pläne für den Wiederaufbau nach Kriegsende in der Heimat selbst hegten. Ihre Planungen sahen eine weit gefächerte „Lagerlandschaft“ mit Gemeinschaftsküchen, Vorratslagern, Wäschereien, Bädern, Sanitäranlagen, Ambulanzen und sogar einem richtigen Krankenhaus vor. Doch die meisten dieser Projekte bestanden nur auf dem Papier, denn vor Ort mussten die Planer einsehen, dass es nicht genug Baumaterial und kaum gut ausgebildete Arbeitskräfte gab. 

 

Die ersten jugoslawischen Ankömmlinge in den Zeltlagern der Briten in Nordafrika waren rund 300 slowenische Soldaten der italienischen Armee, die nach der Kapitulation Italiens von den Briten im Lager El Shatt interniert worden waren. Die Briten wollten sie der in Kairo stationierten Vertretung der jugoslawischen Exilregierung übergeben; aber sie äusserten ihre Absicht, zu den Partisanen überzutreten. Also erhielten sie den Befehl, Zelte für die Ankömmlinge zu errichten; sie begannen im Jänner 1944 mit der Arbeit. Sie waren jedoch keine Experten für Zelte und hatten keine Vorstellung von den klimatischen Bedingungen. Die Zelte verankerten sie im Wüstensand, aber diese Verankerung hielt schon dem ersten Wüstensturm nicht stand. Als eine der nötigsten Anlagen erwies sich für die ebenfalls im Jänner 1944 ankommenden dalmatinischen Vorhuten der Flüchtlinge die Errichtung einer gemauerten Werkstatt, in der die Zelte, von den Wüstenstürmen beschädigt, zusammen mit den Stromaggregaten repariert wurden. Die vom Alliierten Oberkommando geschickten Militärzelte, deren Aufstellung, Ausrüstung und Betrieb wurde durch die UN-Organisation für Wiederaufbau (United-Nations Relief and Rehabilitation Agency, UNRRA) mithilfe humanitärer und religiöser Organisationen aus den alliierten Mitgliedsländern finanziert.

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Theater der Pioniere. Foto: Ljubomir Garbin, El Shatt, 1945. HPM/MRNH-F-12569. 

Reise nach Nordafrika:

Die vom „Zentralkomitee für Evakuierungen“ organisierten Evakuierungen der Dalmatiner aus Süditalien Richtung Nordafrika begannen am 26. Dezember 1943. Mehr als 29.000 Personen wurden in diese Zeltlager eingewiesen – unter ihnen jene 300 Jüdinnen und Juden, die 1941 vom jugoslawischen Festland Richtung italienisches Besatzungsgebiet geflohen waren (auch deutsche, österreichische, tschechische und polnische Emigranten). Sie waren von den Italienern noch 1941 in italienische Internierungslager auf den dalmatinischen Inseln und in Süditalien eingewiesen worden und nach der Kapitulation Italiens in Gefahr, bei der deutschen Besetzung Italiens gefangen zu werden. Auch jüdische Flüchtlinge von den Schiffen, die im Mittelmeer Palästina anliefen und von der britischen Protektorats-Macht angehalten oder Richtung Zypern umgeleitet worden waren, suchten Zuflucht in den Lagern. Die Gesamtzahl der in El Shatt untergebrachten Jüdinnen und Juden betrug 568 Personen. Die meisten aus Jugoslawien angekommenen Jüdinnen und Juden wurden in El Shatt auf Sinai untergebracht. Mira Altarac aus der sefardischen Familie Altarac aus Sarajevo und die Zagreber Biologin und jüdische Aktivistin Melita Švob (geb.Steiner) können heute noch von den fast zwei Jahren im Zeltlager in der Wüste der Halbinsel Sinai berichten. Der erste Eindruck der Ankömmlinge muss, nach Schilderung von Mira Altarac, so schockierend gewesen sein, dass manche auf ihrem Gepäck sitzen blieben und nur weinten – bis zu zwanzig Menschen waren dort auf engem Raum zusammengepfercht, es gab kaum Privatsphäre. Am kommenden Tag verbreitete sich das Gerücht, in der Nacht seien viele Kinder und ältere Menschen gestorben. 

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Schneiderwerkstatt im Flüchtlingslager El Shatt. Unbekannter Fotograf, 1945.  HPM/MRNH-F-1851.

Alltag in El Shatt

Die Menschen nahmen ihre Energie zusammen, um die Situation erträglicher zu machen und sich einen privaten Rückzugsort zu gestalten. Sanitäranlagen wurden installiert – nicht so komfortabel wie in Privatwohnungen, aber doch gebrauchsfähig. Nur Wasser gab es nicht ununterbrochen. Alle Lagerbewohner wurden gegen Tropenkrankheiten geimpft.

 

Mit der Zeit wurden betriebsfähige Küchen eingerichtet, in die das Militär die Speisen brachte, die auch die Lagerbewohner assen; dann bekamen sie Tropenhelme gegen die Hitze. Sie genossen Bewegungsfreiheit innerhalb des Lagers, konnten zum Ufer des Suezkanals spazieren und den Schiffen zusehen; nur war es anfangs schwierig, sich im Lager mit der unübersehbaren Menge an Zelten zu orientieren – bis die einzelnen Lagerstrassen Namen und Nummern bekamen. Die Mutter von Mira Altarac nahm eine Stelle als Hausangestellte bei einer Amerikanerin an; die Frauen liessen sich zumeist als Krankenschwestern einsetzen, denn im Lager wurde ein Krankenhaus eingerichtet. Alle lernten Englisch und wurden von der Lagerverwaltung zu einem Ausflug nach Kairo geführt und zu den Pyramiden. 

 

Dank eines funktionierenden Postamtes konnten die Insassen in die Heimat telefonieren: So erfuhr Miras Mutter über eine Kontaktperson in der Heimat, dass ihre Mutter im Krankenhaus Sarajewo verstorben war, aber nicht, wo man sie begraben hatte: Sie hüllten sich – aus Vorsicht? – in Schweigen.

Eine der ersten Entscheidungen war jene zur Organisation eines geregelten Unterrichtes für die 3.000 Kinder im Lager, die ein sehr unterschiedliches Bildungsniveau aufwiesen: Kinder aus den Kriegsgebieten waren seit 1941 nicht zur Schule gegangen oder hatten nur sporadisch Unterricht erhalten können. Mira Altarac, die als Vorschulkind nach El Shatt gekommen war, erlebte ihre Einschulung dort: anfangs mussten die Kinder auf umgestülpten Benzinfässern sitzen und in den Sand schreiben. Nach einigen Monaten erhielten sie Schulbücher und Hefte in Englisch und Arabisch. Mira Altarac bewahrte sie auf und stellte sie dem Historischen Museum in Zagreb zur Verfügung, das 2007/2008 eine Ausstellung „El Shatt“ veranstaltete. 

 

Auch Lehrpersonal gab es nicht – so dass auch StudentInnen und MittelschülerInnen eingesetzt wurden. Mit der Zeit entfalteten einzelne immer mehr Talente: Die Medizinstudentin aus Sarajevo Paula Zon (geb.1921) unterrichtete und betätigte sich als Redakteurin einer Schülerzeitschrift. Die 122 religiösen jüdischen Bewohner organisierten sich jüdischen Religionsunterricht, jüdische G‘ttesdienste und jüdische Feiern (die Historikerin Marica Karakaš Obradov, eine Migrationsforscherin, behauptete, einige Jüdinnen und Juden hätten in El Shatt ihre jüdische Identität aus Angst vor den Briten verstecken müssen – die Lager hatten zwar britische Kommandanten, doch diese liessen dem „Zentralkomitee für Evakuierungen“, das in jedem Lager faktisch die Verwaltung innehatte, weitgehende Selbstverwaltung. Vermutlich versteckten sie die jüdische Identität eher vor diesem Komitee, dessen Mehrheit aus Kommunisten bestand (weil diese Juden vermutlich mehr Kommunisten waren als Juden). 

 

Die kommunistische Parteiorganisation in der Verwaltung erwies sich als rührig in der Bildung von Zellen der Sozialistischen Jugendorganisation (SKOJ) und der Antifaschistischen Frauenfront: Sie hatte in Dalmatien schon länger Ansehen genossen wegen  ihres Engagements für die Modernisierung des Lebensstils im überwiegend bäuerlichen Festlanddalmatien, ebenso auch in der städtischen Gesellschaft, in der sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen im kommunistischen Sinn einsetzte. Aber im Lager musste sie ihr Interesse wieder auf die praktischen Bereiche konzentrieren: Die Sozialistische und die antifaschistische Jugendorganisation. Für Kinder im Volksschulalter, sogenannte Pioniere – konnten Sportwettbewerbe veranstaltet werden; Künstler, Schauspieler, Musiker sorgen für „Arbeitsaktionen“, künstlerische Veranstaltungen und Ausstellungen. Die Lagerverwaltung bot den Insassen Initiativen zu eigener kultureller Betätigung: Immerhin befanden sich unter den Evakuierten Schriftsteller (wie der spätere Dramatiker Ranko Marinkovic), Schauspieler, Musiker, Architekten (jene, die die Anlage projektiert hatten) und bildende Künstler. Ein Berliner Maler, Rudolf Bunk (1908-1974), der sich der Verfolgung wegen nazifeindlicher Äusserungen und als Maler „entarteter Kunst“ durch die Flucht nach Jugoslawien hatte entziehen können und sich in Split niedergelassen hatte, engagierte sich in der Theatergruppe und wurde 1945, nach der Repatriierung, vom Nationaltheater in Split als Bühnenbildner und Regisseur engagiert (er kehrte erst 1958 nach Deutschland zurück, blieb aber dem Spliter Theater verbunden und arbeitete weiterhin an dessen Inszenierungen mit. Seine Tochter Bojana Denegri verfasste seine Biographie, die noch weit mehr jugoslawische Stationen seiner Emigration aus Hitlerdeutschland umfasst. 

 

„Parteipolitik“ in El Shatt

Eine politische Gruppierung, die Angehörige mehrerer nichtkommunistischer politischer Einstellungen ansprach, war die „Einheitsfront der Volksverteidigung Jugoslawiens“ (JNOF, Jedinstveni narodnooslobodilački front). Zu ihr wurden Mitglieder aller politischen Parteien Jugoslawiens aus der Vorkriegszeit zugelassen, die sich nicht durch Kollaboration mit den Besatzern kompromittiert hatten. Die Kommunisten waren diesen Parteien gegenüber deshalb so versöhnlich, weil sie einerseits damit rechneten, dass sie damit auch ihre Gegner für eine Zusammenarbeit gewinnen würden, und weil sie – besonders wichtig – im Einverständnis mit „Moskau“ der Öffentlichkeit nicht verraten wollten, dass sie nach dem Krieg ein Einparteien-Regime zu errichten gedächten. Sie durften sogar am 21. Dezember 1944 eine Wahl zum Präsidenten ihrer Einheitsfront abhalten – die Wahl fiel auf ein den Leiter der Jugoslawischen Militärdelegation in Kairo, den Rechtsanwalt aus Dubrovnik Mate Jakšić; er sollte sich besonders bei der Kalmierung von Spannungen im Lagerleben von El Shatt bewähren, die der erste britische Lagerkommandant, Major Paul Langmann, ein radikaler Antikommunist und Sympathisant royalistischer und nationalserbischer Gruppierungen, unter den Lagerbewohnern hervorgerufen hatte.

 

Langmann verstand es jedoch nicht, die unter den Bewohnern der Zelte herrschenden unterschiedlichen politischen Einstellungen soweit zu neutralisieren, dass sich die Spannungen nicht bis zu tätlichen Auseinandersetzungen auswuchsen. Als rigider Gegner der Kommunisten gestattete er den Mitgliedern der jugoslawischen Exilregierung (von denen einige in Kairo und im royalistischen Militärlager El Abish auf Sinai stationiert waren) in den Zelten zu agitieren und nationalistisch-serbische, von den bewaffneten Tschetniks inspirierte Ideen zu verbreiten. In den Lagern wirkte unterschwellig ein ideologischer Wettstreit um die Insassen: jene, die nicht politisch total desinteressiert waren, schenkten jedoch den Kommunisten mehr Glauben und folgten in grösserer Zahl ihren Initiativen als jenen der Royalisten: deren Interesse richtete sich auf die Rekrutierung Wehrfähiger und die Gewinnung von Frauen für die exjugoslawischen, in Ägypten stationierten Überreste der Königlich Jugoslawischen Armee (die am 17. 4. 1941 vor den Deutschen kapituliert hatte). 

 

Aber auch das „Zentralkomitee für die Evakuierung“ trug zu den in den Lagern spürbaren Spannungen zwischen den unterschiedlichen politischen Interessensgruppen bei, denn es verhielt sich allen Flüchtlingen gegenüber „manichäisch“ unduldsam: „Wer nicht für uns (die Partisanen) ist, ist gegen uns“: Tatsächlich befanden sich unter den Flüchtlingen auch Personen, deren Angehörige von Partisanen getötet worden waren, die sich sich zwar nicht offen feindselig, wohl aber ablehnend verhielten. Doch waren sie deswegen noch keine „Kollaborateure des Feindes“, als die sie von den Kommunisten verdächtigt wurden. Antikommunisten fanden beim britischen Lagerchef ein offenes Ohr, wenn sie um Verlegung in ein anderes Lager als El Shatt baten: El Shatt verzeichnete aus diesem Grund eine hohe Fluktuationsrate. Der Rechtsanwalt, Mato Jakšić versöhnte die entgegengesetzten Gruppierungen im  Lager El Shatt, auch deshalb, weil er den Hauptschuldigen, Kommandant Langmann, durch Major A-.J.Bekker, den Kommandanten eines der Teillager in El Shatt, als Lagerchef ersetzte. Bekker war weniger dogmatisch antikommunistisch und verstand die ablehnende Haltung mancher Insassen gegen den „linken Extremismus“ besser.

Die österreichische Emigrantin aus Wien Annie Römer-Blau (geboren am 27.10.1896, wohnhaft gewesen in Wien VI, Wallgasse, keine Hausnummer, von Beruf Modistin), die 1938 die Flucht aus Wien nach Dubrovnik geschafft hatte, wurde nach El Shatt verbracht und kehrte mit einem der ersten Heimtransporte Anfang Mai 1945 zurück nach Jugoslawien. Aus Zagreb konnte sie nach Erledigung aller bürokratischen Hürden für Repatriierungen aus Jugoslawien 1946 nach Wien heimkehren.

 

Die Fortsetzung dieses Beitrags, Teil II, lesen Sie in Heft 140, Pessach 5784/April 2024.

 

Nachlese

 

Jasenka Kranjčević, arhitekti u zbijegu u Egiptu 1944-1946: KB 40, S. 211-224, Split 2014.  https://hrcak.srce.hr/file/219773 (aufgenommen 13.10.2014–aufgerufen: 21.6.2023)

Marin Karabatić, Izbjeglički logor, El Shatt – Dalmatinski grad na Sinaju (Feljton o hrvatskom zbjegu na Sinaju) [Das Flüchtlingslager El Shatt – eine dalmatinische Stadt auf Sinai (Feuilleton über die kroatischen Flüchtlinge auf Sinai)], auf www. povijest.net, 26.7.2012.

Vladimir Velebit, Tajne i zamke Drugog Svjetskog rata [Geheimnisse und Fallen des Zweiten Weltkrieges]. Zagreb 2002.

Nataša Mataušić, Katalog der Ausstellung „El Shatt“ im Kroatischen Historischen Museum, Zagreb 2007/2008. 

Anna Maria Grünfelder, Von der Shoa eingeholt. Ausländische jüdische Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien 1933-1945. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 174f.

Marica Karakaš Obradov, Prisilne migracije židovskog stanovništva na području Nezavisne Države Hrvatske [Erzwungene Migrationen der jüdischen Bevölkerung auf dem Territorium des Unabhängigen Staates Kroatien]. Zagreb 2013. (aufgenommen 2013–aufgerufen: 20.6.2023)

Mira Altarac, Hadji Ristić, El Shat, In: Jasminka Domaš (Hg.), Glasovi, sjećanja, život. Prilog za istraživanje povijesti židovskih obitelji. [Stimmen, Erinnerungen, Leben. Beitrag zur Erforschung der Geschichte jüdischer Familien] Zagreb 2015, S.109-118, 120. 

Švob Melita, Sutra je novi dan. (J. Domaš), Glasovi, S. 29-51.

Bojana Denegri, Bildersuche. Auf den Spuren meines Vaters Rudolf Bunk. Hamburg 2006.

 

Alle Abbildungen: Die Autorin dankt dem Kroatischen Historischen Museum (Hrvatski Povijesni muzej), Zagreb für die Bilder und das Copyright.