Ausgabe

Virtuelle Rekonstruktion der orthodoxen Synagoge in Pressburg (Bratislava)

Thomas Musil

Inhalt

Das heute älteste erhaltene Dokument weist eine jüdische Bevölkerung in Bratislava für das Jahr 1291 aus. Eine Synagoge dürfte bereits ab 1379 oder 1439 in der Judengasse bestanden haben und bis mindestens 1527 in Verwendung gewesen sein. Nach der für Ungarn verlorenen Schlacht von Mohács 1526 gegen das osmanische Heer und den geänderten politischen Bedingungen wurden die meisten Juden gezwungen, Pressburg zu verlassen. Die Synagoge fiel daraufhin an die Stadt, welche das Gebäude 1676 zerstörte. Die Vertriebenen dürften sich auf den Schlossgründen angesiedelten haben, welche damals nicht zum Stadtgebiet Pressburgs, sondern zum Eigentum des jeweiligen Obergespans und Schlosshauptmannes gehörten. Die enorme Bedrohung der jederzeit möglichen Vertreibung bestand für die jüdische Bevölkerung wahrscheinlich bis zum Jahre 1599, als die Adelsfamilie Pálffy den Schlossgrund samt Burg erbte. Graf Pálffy respektierte und schützte die Juden, nicht zuletzt, weil er von der jüdischen Ansiedlung wirtschaftlich profitierte. Es ist anzunehmen, dass die jüdische Bevölkerung ab dem Jahre 1670, im Zuge der Vertreibung von Juden aus dem benachbarten Wien und Niederösterreich deutlich zunahm. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde eine neue Gemeinde gegründet, die sogar eine Synagoge am Zuckermandel hatte, wo sich ursprünglich das Ghetto befunden hatte. Erst durch den Schutzbrief 1714 des Grafen Palffy erhielt die jüdische Gemeinde wieder die Erlaubnis, zumindest zwei Synagogen bauen zu dürfen, wobei wahrscheinlich nur eine ausgeführt wurde. Die Synagoge, an der Stelle der späteren Grossen Schul am Schlossberg, entsprach allerdings eher einem „einfachen Bethaus“ und wurde 1783 vergrössert. Im Zuge dessen wurden auch das Zuckermandler Bethaus und das Bet ha-Midrasch renoviert. Wenig später brannte die Synagoge ab.  Zusätzlich gab es kleinere und grössere Betstuben; Hugo Gold nennt für die Zeit um 1830 sogar rund acht Synagogen.

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Rekonstruktion Kassettendecke (oberer Deckenabschluss), Visualisierung. 

Die grosse orthodoxe Synagoge Schlossstrasse
In den darauffolgenden Jahren entschlossen sich die Pressburger Juden dann zum Bau eines grossen Tempels. 
Einer der bekanntesten orthodoxen Rabbiner war 
Moses Sofer (dt. Moses Schreiber, bekannt als Chatam Sofer). 1807 war er Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Pressburg geworden und führte einen erbitterten Kampf gegen das neuaufkommende Reformjudentum. Nach seinem Tod 1834 folgte ihm sein Sohn Rabbiner Samuel Schreiber, unter dessen Amtszeit die Errichtung der orthodoxen Synagoge in der Schlossstrasse folgte. Man entschied sich für den alten Standort in der Schlossstrasse und gab dem renommierten Pressburger Architekten und Baumeister Ignaz Feigler d. J.1 den Auftrag zur Planung, Baubeginn war 1862. Als Abschluss des Mittelturms war eine Kuppel geplant, die von zwei Seitentürmen flankiert werden sollte. Da die Konservativen ohnehin bereits Bedenken geäussert hatten, und sich schliesslich sogar der Oberrabbiner Samuel Sofer weigerte, die Synagoge einzuweihen, musste die Kuppel, welche ihrer Meinung nach zu sehr an eine christliche Basilika erinnerte, wieder abgetragen und durch einen schlichteren Turm ersetzt werden.  Der Bau war bereits Ende des Jahres 1863 fertiggestellt worden, aber die jüdische Gemeinde war sich nicht zur Gänze darüber einig, ob dieser nun gelungen oder allenfalls ein Kompromiss sei. Die Strassenfassade hob sich durch ihre horizontale, im maurischen Stil gehaltene und mit typischen Ornamenten verzierte  Fassadengliederung deutlich von ihrer Umgebung ab. 
Die neologe Synagoge
Damals wurden die Spannungen zwischen Neologie und Orthodoxie grösser und führten1868 am Budapester Kongress zur Spaltung. 1872 vollzog sich die Trennung auch in Pressburg und bereits 1878 wurde der Bau eines neuen Tempels beschlossen, da das erste Bethaus in der Schule der Todesko-Stifung schnell zu klein geworden war. Es dauert bis 1891, bis man die Pläne konkretisieren konnte. Schliesslich beauftragte man den Wiener Architekten Dionys Milch mit der Planung und den Architekten und Baumeister Alexander Feigler (den Neffen von Ignaz Feigler d. J.) mit der Ausführung der neologen Synagoge, die 1895 fertig gestellt wurde.2 Ähnlich der orthodoxen Synagoge wies auch dieser Tempel aussen wie innen orientalisierende Stilelemente auf. In der Mitte wurden fünf Eingänge im gleichen maurischen Stil gestaltet. Man konnte einen prominenten Bauplatz am Fischplatz (Rybné námestie), an der Ecke der Judengasse (Židovská Strasse) und der Herrengasse (Panská Strasse) unweit des Martinsdoms durchsetzen. Mit der Positionierung des Gebäudes am Marktplatz, direkt am Übergang zum alten Stadtzentrum, am Anfang der Judengasse, angrenzend an die neueren, auch jüdisch besiedelten Viertel und neben einer christlichen Kirche wurde die Synagoge zum Symbol der Toleranz und Multikulturalität von Pressburg. 

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Ost- und Südfassade, Blick vom Schlossberg hinunter, Visualisierung. 

Die neue orthodoxe Synagoge
In den darauffolgenden Jahren bestanden scheinbar die beiden Gemeinden ohne grosse Zwischenfälle nebeneinander. Das grosse Feuer im Ghetto 1913 überstanden beide Synagogen beinahe unbeschadet. Bis 1924 wuchs offenbar die orthodoxe Gemeinde im Judenviertel Schöndorfergasse, Spitalgasse und Umgebung weiter an, sodass bald in der Heydukgasse (heute: Heydukova Strasse) eine neue Synagoge, nach Plänen des Architekten Arthur Szalatnai, gebaut wurde. Diese konnte 1926 fertiggestellt werden. Vor der Zeit der Pogrome 1938 bestanden neben den drei grossen Synagogen noch etwa 25 Gebetshäuser. Diese „goldene Zeit“ fand nach dem Münchner Abkommen 1938 und der Abtrennung des Slowakischen Staates im März 1939 ein jähes Ende. Wie in anderen Ländern wurden auch hier zahlreiche Häuser aus jüdischem Besitz sowie Synagogen teils stark beschädigt, darunter die orthodoxe Synagoge am Schlossberg. Beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung von Bratislava wurde umgesiedelt oder deportiert, 98% kehrten nie zurück. 1942 wurde ein Sammellager in der Stadt errichtet, von dem aus im selben Jahr fast 60.000 Juden deportiert wurden.

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Ostwand mit Toraschrein, Visualisierung. 
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Bima, Bänke und Leuchter, Visualisierung. 
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 Säulen und Brüstung, Visualisierung. 
 

Nach dem Slowakischen Nationalaufstand 1944 besetzten dann deutsche Truppen Bratislava und bereiteten weitere Deportationen vor, nur wenige konnten sich verstecken, flüchten oder traten der Aufstandsarmee bei. Von den vor dem Zweiten Weltkrieg in Bratislava lebendenden 18.000 Juden gab es nach 1945 nur mehr rund 4.000. Aufgrund von Auswanderung nach Israel, Westeuropa und in die U.S.A. schrumpfte diese Zahl weiter. Viele wandten sich ganz vom jüdischen Glauben und der Gemeinschaft ab. Als Folge des Prager Frühlings mit der darauffolgenden sowjetischen Okkupation der gesamten Tschechoslowakei 1968 emigrierten vor allem viele junge Menschen, während ihre Eltern blieben. In den Jahren bis 1989 wurden zahlreiche Denkmäler, Gebäude, Archive, Bibliotheken und andere Einrichtungen jüdischen Ursprungs weiter zerstört und gerieten zunehmend in Vergessenheit. Die jüdische Gemeinde Bratislava zählte im Jahr 1989 noch etwa 700 Mitglieder. Mitte der 1990er Jahre gehörte sie mit rund 800 Mitgliedern neben Košice zu den grössten Gemeinden in der Slowakei. In der Zwischenzeit belaufen sich die Mitgliederzahlen auf zirka 500 Personen (Stand 2017).
Obwohl der alte orthodoxe Tempel am Schlossberg während des Zweiten Weltkriegs noch weiter genutzt wurde, musste er aufgrund fortschreitender Baufälligkeit, so wie viele Gebäude der grossteils zerstörten Schlossstrasse, 1961 abgerissen werden. An seiner Stelle befindet sich heute ein neu errichtetes Gebäude. Die neologe Synagoge wurde während des Kriegs bereits als Gemüselager zweckentfremdet und 1969 (obwohl zehn Jahre zuvor unter Denkmalschutz gestellt) für den Bau der Brückenauffahrt abgerissen. Ob der Abbruch notwendig war oder den Behörden gelegen kam, ist bis heute umstritten. Die Abbruchmaterialien wurden verkauft und die Erlöse gingen an die jüdische Gemeinde in Bratislava. Mit diesem Geld konnte die orthodoxe Synagoge in der Heydukova Strasse saniert werden. Sie ist die einzige vor dem Zweiten Weltkrieg erbaute Synagoge in Bratislava, die noch heute existiert.
Städtebaulicher Kontext
Der Schlossgrund, weitestgehend aus den Teilen Zuckermandel (zwischen Burg und Donau), Schlossberg (zwischen Burg und der Stadt) und Hausbergl (westlich der Burg bis Mühltal) bestehend, war das erste durchgehend länger besiedelte jüdische Gebiet in Pressburg, gerade weil es nicht zum Stadtgebiet selbst, sondern zum Herrschaftsgebiet des jeweiligen Schlossherrn gehörte. Spätestens seit dem Schutzbrief durch den Grafen Pálffy konnte sich die jüdische Gemeinde dauerhaft ansiedeln. Ab 1848 wurde das gesamte Gebiet, einschliesslich der angrenzenden Siedlung Weidritz, unter dem Namen Theresienstadt in die Stadt Pressburg eingemeindet. Das Grundstück der orthodoxen Synagoge befindet sich direkt in der Schlossstrasse (Zámocká ulica) Nummer 34, unterhalb der Burg Pressburg. In dem Bereich zwischen Strasse und Felsabhang des Schlossberges war nur ein schmaler Raum, und man musste vom Felsen ganze Stücke wegsprengen, um eine ausreichend grosse Fläche für die Errichtung eines grösseren Gebetshauses zu erhalten. In unmittelbarer Nachbarschaft muss sich die berühmte Jeschiwa (jüdische Hochschule) befunden haben, gegenüber waren wenige, eher niedrigere Gebäude, am weiter abfallenden Hang an der nördlichen Seite lag der Pálffysche Garten.
Gebäudegestaltung
Die Hauptfassade war einige Meter von der Strassenfront abgerückt und bildete zwischen den beiden zweigeschossigen seitlichen Eingangstrakten einen Vorhof, welcher durch einen Gitterzaun von der Strasse abgetrennt war. Dieser Hof war für Hochzeiten vorgesehen und wurde zu einem späteren Zeitpunkt (wahrscheinlich um 1933) mit einer Glaskonstruktion überdacht. Ursprünglich war das Gebäude mit einem Mittelturm und abschliessender Kuppel ausgeführt worden. Der Kuppelbau wurde bald durch einen schlichteren Mittelturm ersetzt. Die Fassade hatte vermutlich eine terrakotta-(rot-ocker-)farbige, horizontale Gliederung und steinerne Umrahmungen der Öffnungen. Der entlang der Schlossstrasse aufwärts gelegene Eingang der Männer führt durch das Vestibül im Eingangstrakt direkt in den Gebetsraum der Synagoge. Trotz der Schwierigkeiten des Grundstücks (unregelmässig gewachsener, direkt angrenzender Bestand der Nachbargebäude und die generell steile und felsige Lage) gelang es dem Architekten,  einen annähernd quadratischen Grundriss zu schaffen. Gemäss dem orthodoxen Ritus war die Bima in der Mitte positioniert, die Bänke rundherum orientiert und der Thoraschrein (Aron haKodesch) ebenso nach Osten gerichtet. Ein durchdachter Entwurf des Architekten ermöglichte eine direkte Belichtung über das darüber liegende, grosse Rosettenfenster und dessen seitliche Rundbogenfenster. Feigler  rückte die östliche Aussenwand von der Nachbarbebauung einige Meter ab und schuf so genügend Platz zwischen Aussenwand und Grundgrenze. Der Eingang der Frauen führte im Vorraum über mehrere Stufen hinauf, geradewegs in einen durch das Abrücken entstandenen langen Gang. An diesem lagen zwei zu den Frauenemporen führende Stiegenhäuser. Beide von Gusseisenstützen getragenen Frauengalerien und der reich ornamentierte Innenraum mussten imposant wirken. Das erhalten gebliebene Sitzbuch aus dem Fertigstellungsjahr 1863 zählt 515 Plätze bei den Männern und 563 Plätze bei den Frauen (zwei Frauengalerien, 280 und 283 Plätze in der ersten beziehungsweise zweiten Galerie).3 
Virtuelle Rekonstruktion
Ziel der Rekonstruktion war der virtuelle Wiederaufbau einer einst monumentalen Synagoge mit mehreren hundert Sitzplätzen. Von oder über den Architekten Feigler jr. ist wenig bekannt, genaues Planmaterial zu Details gibt es ebenso nur spärlich, sodass vor allem der Innenraum anhand von verschiedenen Vergleichsbauten abgeleitet und rekonstruiert werden musste. Da lediglich zwei Geschosspläne aus einem nachträglichen Umbau Ende der 1920er Jahre vorhanden sind, erfolgte die Rekonstruktion hauptsächlich in Abgleich mit vorhandenem Fotomaterial, welches aber grossteils erst kurz vor dem Abriss aufgenommen wurde, sowie wenigen textlichen Beschreibungen. Als Ausgangspunkt der Recherche dienten die Unterlagen der jüdischen Kultusgemeinde Bratislava (ŽNO Bratislava). Trotz der fehlenden Schnitte und Ansichten konnte das Gebäude anhand von einigen Fotografien, im Abgleich mit gängigen Höhenverhältnissen, verhältnismässig gut rekonstruiert werden. Auch die verschiedenen Fassadenvarianten konnten trotz der meist undatierten Aufnahmen zumindest ansatzweise zeitlich geordnet werden. Die wissenschaftliche Aufbereitung und Dokumentation dient dazu, auf unzureichend interpretierbare oder bisher schlecht belegte Abschnitte des Gebäudes bei Erhalt neuer Erkenntnisse eingehen zu können. Dies trifft vor allem auf die farbliche Ausgestaltung im Innenraum sowie die nachträglichen Zubauten der Sanitäranlagen und der Glasüberdachung des Hochzeitshofes zu. Hier könnte möglicherweise noch Planmaterial auftauchen. Zudem wäre es interessant,   den genauen Verlauf des zweiten Stiegenhauses und die Zugänge zu beiden Frauenemporen herauszufinden. Anhand moderner CAD-Technologie konnte eine umfassende Rekonstruktion erstellt werden. Durch fotorealistische Renderings kann nun die Synagoge, wenn auch „nur“ virtuell, in ihrer städtebaulichen, vor allem aber in ihrer Wirkung nach innen als Ganzes erlebbar gemacht und verstanden werden.

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3D Grundriss - 2. Obergeschoss, Visualisierung. 
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3D Schnitt - Längs, Visualisierung. 
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3D Schnitt - Quer (Richtung Schlossberg), Visualisierung.

1 Ignaz Feigler d.J. (1820-1894) ist nicht nur der wahrscheinlich bekannteste Angehörige der Feigler-Architektendynastie, sondern einer der bekanntesten Baumeister seiner Zeit und Vertreter des Klassizismus in Pressburg. Er studierte am k. k. Polytechnischen Institut (heute: Technische Universität) in Wien und arbeitete später im Büro seines Vaters. Zu seinen Werken zählen neben der Synagoge auch weitere sakrale Bauten, das Slowakische Nationaltheater, öffentliche Gebäude, Fabriken, mehrere Palais und zahlreiche Wohnhäuser in und um Pressburg.
2 Vgl. Julia Palyoova, Die reformierte Synagoge in Bratislava, 1969 abgerissen. In: DAVID, 31. Jg., Heft 123, Chanukka 5780/Dezember 2019, S. 2 sowie 4f.
3 Vgl. Website: „www.synagogue.sk/collection/sitz-buch“; Zugriff am 07.04.2020.

Nachlese (Auswahl):
Musil, Thomas: Virtuelle Rekonstruktion der orthodoxen Synagoge in Bratislava (Zámocká Ulica/Schlossstrasse). Diplomarbeit: TU Wien, 2020. Link: https://repositum.tuwien.at/bitstream/20.500.12708/15009/2/Musil%20Thomas%20-%202020%20-%20Virtuelle%20Rekonstruktion%20der%20orthodoxen%20Synagoge%20in...pdf 
Borský, Maroš: Synagogue Architecture in Slowakia. A Memorial Landscape of a Lost Community. Bratislava: Jewish heritage Foundation Menorah, 2007.
Gold, Hugo: Die Juden und die Judengemeinde Bratislava in Vergangenheit und Gegenwart. Brünn: Jüdischer Buchverlag Brünn, 1932.
Ševčíková, Zuzana: Das niedergerissene jüdische Pressburg. Stadtführer durch das historische Gedächtnis. Bratislava: Marenčin PT, 2012.

Alle Visualisierungen: Mit freundlicher Genehmigung T. Musil.