Patrick Berendonk: Diskursive Gerichtslandschaft.
Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert
(= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 36)
UVK Verlagsgesellschaft Konstanz: 2020
268 Seiten, Hardcopy: 39,00 Euro, E-Book: 31,20 Euro
ISBN/EAN: 978-3-7398-3074-2 ,
ISBN/EAN: 978-3-7398-8074-7
Der Autor Patrick Berendonk studierte Geschichte und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2010 schloss er dort das Studium mit einem Bachelor of Arts ab und nahm ein Masterstudium Geschichte an der Universität Duisburg-Essen auf, das er 2013 mit dem Master of Arts abschloss. 2014 begann er im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Justiz und Vorurteil – Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten« die rechtspraktische Situation der Juden im Alten Reich zu erforschen. Die Ergebnisse seiner Untersuchung werden im vorliegenden Buch präsentiert.
Das Buch führt uns in die Welt der Gerichtspraxis des fernen 18. Jahrhunderts. Die Studie eruiert die zivilrechtliche Stellung der jüdischen Minderheit vor Gericht anhand dreier territorialer Obergerichte: Kurköln, Jülich-Berg und Brandenburg-Ansbach und bietet dabei Einblicke in jene Konflikte, die bei innerjüdischen und jüdisch-christlichen Streitfällen vor christlichen Gerichten verhandelt wurden. Obergerichte waren Appellationsgerichte (Gerichte zweiter Instanz). Sie tagten als Kollegialgerichte, das heisst, die Wahrheitsfindung erfolgte nicht durch Einzelrichter, sondern durch Richterkollegien. Die zivilgerichtliche Wahrheitsfindung umfasste mehrere Phasen. Sie begann mit der Klageerhebung durch Einreichung der Klageschrift der klagenden Partei und endete mit der öffentlichen Verlesung des Urteils. Dazwischen folgte, unter Regie der Richter, das Beweisverfahren, öffentlich für Parteien, Zeugen und Gutachter. Dabei wurden anhand von Klageschrift, Relation des Beklagten und diversen Repliken die unterschiedlichen Sachverhaltsbehauptungen und Argumente der Parteien festgehalten (S. 40-43). Daran schloss die Phase der Urteilsfindung durch das Richterkollegium.
Die Urteilsfindung erfolgte »hinter geschlossenem Vorhang«, also nicht öffentlich. Sie steht im Fokus der vorliegenden Studie. Das Kollegium beauftragte in der Regel zwei Richter, die als Referenten aus den im Beweisverfahren gewonnenen Fakten Sachverhalte (species facti) zu konstruieren und anhand dieser dem Kollegium ihre Relationen (Vorträge) zu unterbreiten hatten. Bislang hatte die Forschung nur Relationen der Strafrechtsprechung untersucht (S. 61), Patrick Berendonk unterzog nun die zivilrechtlichen Relationen einer umfassenden Analyse. Demnach war die Entscheidungsfindung an den drei Gerichten dem agonalen Prinzip unterworfen. Das heisst, die untersuchten Urteilsdiskurse waren als Arenen ausgestaltet, in denen Sachverhaltskonstruktionen und Urteilsproduktionen durchgesetzt werden mussten. Die Relationen wurden nicht nur diskutiert, sondern die Richter versuchten im Wettstreit ihren Standpunkt durchzusetzen. In der Studie wird dargelegt, wie die Richter, um zu Urteilen zu gelangen, die zur Entscheidung stehenden Fälle mit hohem Aufwand debattierten, welche diskursiven Regeln die Debatten strukturierten bzw. begrenzten und inwiefern diese Regeln es erlaubten, bei der Urteilsfindung den jüdischen Glauben einzelner Parteien zu berücksichtigen. Es wurden auch dann keine leichtfertigen Entscheidungen gefällt, wenn Juden gegen Christen prozessierten (S. 44-55, S. 233-242).
Wegen der territorialen Vielfalt des Alten Reiches (des Heiligen Römischen Reiches) konnte die Stellung jüdischer Parteien nur für jedes der Obergerichte einzeln eruiert werden. Die Analyse der Relationen ergab, dass jüdische Parteien von den landesherrlichen Obergerichten nicht systematisch benachteiligt wurden. Lediglich am Kurkölner Hofrat zeigten sich gewisse judenfeindliche Stereotype, die aber kaum Einfluss auf die Urteilsfindung nahmen. Hingegen war es den Richtern an allen drei Obergerichten erlaubt auch landesherrliche oder allgemeinrechtliche judenspezifische Normen zur Lösung eines Falles heranzuziehen. Die Anwendung dieser Normen führte jedoch nicht zu einer Schlechterstellung jüdischer Gerichtsparteien. Häufig wurden Prozesse von den jüdischen Parteien gewonnen. Das Vertrauen in die Gerichte ging so weit, dass sogar innerjüdische Streitigkeiten unter Berücksichtigung des mosaischen Rechts entschieden wurden. Abschliessend lässt sich konstatieren, dass der Kurkölner Urteilsdiskurs latent antijüdisch ausgestaltet war, der Jülisch-Berger und Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs zwar nicht antijüdische, wohl aber judenspezifische Argumente gestattete.
Das Buch ist durch die Dezimalklassifikation detailliert und übersichtlich gegliedert. Literatur- und Quellenverzeichnisse (S. 243-258) sowie Namens- und Sachregister (S. 259-263) ergänzen diese gründlich gearbeitete wissenschaftliche Studie.
Christoph Tepperberg