Louise an Egon Zweig. Briefe einer jüdischen Frau im Ersten Weltkrieg, hrsg. Dieter J. Hecht.
CLIO Verein für Geschichts- & Bildungsarbeit, Graz: 2019
324 Seiten, 25 Abbildungen, Hardcover: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-902542-67-0
Der Herausgeber des Buches Dr. Dieter J. Hecht ist Historiker (Provenienzforscher) und Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er verfasste Publikationen zur österreichischen und jüdischen Frauengeschichte, zum Holocaust und zur israelischen Geschichte.
Persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher, Briefe oder Memoiren sind eine wertvolle Ergänzung zu öffentlichen, amtlichen Geschichtsquellen. So auch die hier präsentierten Briefe aus der bekannten Familie Zweig: von Louise Zweig geb. Engel (1885–1961) an ihren Ehemann, den Rechtsanwalt und Zionisten Dr. Egon Zweig (1877–1949). Eine Rarität, denn Briefe von Frauen aus dem Ersten Weltkrieg blieben im Gegensatz zu jenen von Männern selten erhalten. Umgekehrt sind Egons Antworten nicht überliefert; deren Inhalt erschliesst sich nur indirekt aus den Briefen seiner Gattin.
In der Einleitung zu seinem Büchlein (S. 9-108) gibt Hecht eine Einführung über die Bedeutung von Feldpostbriefen, Feldpostkarten und Tagebüchern als Quellen zum Ersten Weltkrieg und erläutert deren inhaltliche Ausrichtung. Wertvolle Einblicke in die familiären und gesellschaftlichen Verflechtungen der Familien Zweig und Engel gibt eine genealogische Darstellung unter dem Titel »biographische Annäherungen«. Es folgt die inhaltliche Zuordnung der Briefe nach Themenbereichen: Krieg und Liebe, Kinder und Familie, Kochen und Essen, Arbeit und Wohnen, Politik und Zensur, Soldaten und Karriere, Zwischen Graz und Wien. Die Transkriptionsregeln und ein Faksimile von Louise Zweigs Handschrift leiten über zum Hauptteil: zur Transkription und Kommentierung der 83 Briefe durch Dieter J. Hecht und Kerstin Mayerhofer (S. 111-311). Ein Stammbaum der Familie Zweig, ein Abbildungsverzeichnis, ein Verzeichnis von Quellen und Literatur sowie biographische Angaben über den Herausgeber/Autor ergänzen die Publikation.
Die Intention der Korrespondenz war die Aufrechterhaltung der Kommunikation während des Krieges. Mittels Feldpostbriefen und Postkarten liess Louise ihren Mann am Familienalltag teilhaben. Die Briefe wirken auf den ersten Blick inhaltlich banal, beim näheren Hinsehen eröffnet sich einem jedoch deren Informationswert, vor allem zum Alltagsgeschehen. Sie geben wertvolle Einblicke in das Leben einer assimilierten jüdischen Familie des Wiener Mittelstandes. In erster Linie geht es dabei um die Lebensmittelversorgung, die Ernährungssorgen einer Mutter in der Grossstadt, dann über das Kochen und Essen, die Erziehung der Kinder, Sorgen um deren Gesundheit, Familiennachrichten aus der verzweigten Verwandtschaft, über Arbeit und Wohnen, auch um die Rechtsanwaltskanzlei, die ihr Mann in Wien zurücklassen musste, aber auch über Politik und Zensur aus der Sicht einer Zionistin, ihre Meinungen zur Russischen Revolution und zum Zionismus, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, über Egons Aktivitäten beim Militärgericht in Opoczno, seine Äusserungen über andere Kameraden, usw.
Dr. Egon Zweig lebte und arbeitete – wie damals viele Bewohner der Monarchie – in Wien. Da er aber nach Prossnitz in Mähren (Prostějov/Tschechien) heimatszuständig war, wurde er Anfang 1917 zum k. u. k. Mährischen Infanterie-Regiment Nr. 54 eingezogen und im von Österreich-Ungarn besetzten Russisch-Polen in der Kleinstadt Opoczno als Schriftführer beim Militärgericht des dortigen k. u. k. Kreiskommandos eingesetzt. Egon schickte seiner Familie regelmässig Kisten mit Lebensmitteln nach Wien, denn die Ernährungssituation im landwirtschaftlich geprägten Zentralpolen war – zumindest für Personen der österreichisch-ungarischen Besatzung – weit weniger prekär als in der Grossstadt Wien. Die Zweigs beachteten zwar gewisse religiöse Regeln, Louises Briefe legen aber nahe, dass sie keinen koscheren Haushalt führten. Die 83 Briefe entstanden allesamt im Jahre 1917. Mit Egons Transferierung im letzten Kriegsjahr 1918 von Opoczno nach Graz, verringerte sich die räumliche Distanz zwischen den Eheleuten, wodurch ihre Korrespondenz weitgehend versiegte.
Das Buch präsentiert keine wissenschaftliche Edition, sondern eine, wie es der Herausgeber selbst nennt, »kommentierte Transkription«. Die Transkriptionsregeln sind etwas eigenwillig (S. 109). So wurden die zahlreich vorkommenden Abkürzungen einfach beibehalten, ihre Auflösung dem Leser überlassen. Entsprechend verzichtete man auf ein Abkürzungsverzeichnis. Das Buch weist kleinere inhaltliche Mängel auf. Der Herausgeber spricht beharrlich von k. k. statt von k. u. k. (die k. k. Armee, k. k. Soldaten, die k. k. Militärverwaltung, das k. k. Militärgeneralgouvernement). Das k. u. k Mährische Infanterie-Regiment Nr. 54 wird fälschlich als „tschechisch-slowakisches“ Regiment bezeichnet. (Die Slowaken dienten in ungarischen Regimentern, da die heutige Slowakei damals zum Königreich Ungarn gehörte.) Die polnische Kreisstadt Radom wird fälschlich Rádom geschrieben. Einige Zitate und Verweise in den Anmerkungen sind unrichtig oder mangelhaft. Das Büchlein enthält auch mehrere Tipp- und Kasusfehler. Dies alles tut jedoch dem Wert des durchaus ansprechenden Büchleins und dem Anliegen des Herausgebers keinen Abbruch.
Christoph Tepperberg