Ausgabe

Die Juden in Serbien Entwicklungen in postjugoslawischer Zeit Serie, Teil IV

Martin Malek

Inhalt

Demographische Entwicklungen
Die vorliegenden Angaben über die Anzahl der Juden in Serbien sind durchaus widersprüchlich. In den 1990er Jahren sollen rund 2.500 Juden in Serbien gelebt haben, doch wegen mehrerer Kriege und der schwierigen wirtschaftlichen Lage wanderten viele nach Israel oder in andere Länder aus. Die Volkszählung 2002 registrierte 1.158 Juden, die meisten davon in der Hauptstadt Belgrad (415), gefolgt von Novi Sad (400) und Subotica (89). Im offiziellen Sammelband mit den Ergebnissen der bisher letzten Volkszählung von 2011 sind die Juden nicht einmal als gesonderte ethnische Gruppe ausgewiesen. Ein Team unter der Leitung des israelisch-italienischen Statistikers Sergio Della Pergola machte für 2019 folgende Angaben: Es gäbe in Serbien mit seiner Gesamtpopulation von 7 Mio. Menschen (also ohne Kosovo) eine „jüdische Kernbevölkerung“ von 1.400 Personen und eine „erweiterte jüdische Bevölkerung“ von 2.800; 3.500 Personen würden unter das israelische Rückkehrgesetz von 1950 fallen. Die jüdische Gemeinde Serbiens beansprucht aktuell allerdings 3.300 Mitglieder.
Gedenkpolitik 
Die britische Zeitung The Guardian schrieb im August 2021: „Im sozialistischen Jugoslawien wurde der Völkermord an den serbischen Juden weithin als Teil der allgemeinen Schreckensherrschaft der Nazis interpretiert. Viele Serben betrachten den Holocaust immer noch als etwas, das an weit entfernten Orten wie beispielsweise Auschwitz stattfand, nicht aber einen kurzen Fussmarsch vom Stadtzentrum Belgrads entfernt.“ 
Im KZ Staro Sajmište waren Juden, Roma und Sinti, Serben sowie Widerstandskämpfer interniert gewesen und ermordet worden; sein Territorium gehört heute administrativ zu Belgrad. Die erste hier 1974 angebrachte Gedenktafel sprach allgemein (d.h. ohne einzelne Nationalitäten zu erwähnen) von „40.000 Menschen aus allen Teilen unseres Landes“ (das meinte damals Jugoslawien), die „dort brutal gefoltert und getötet wurden“. Eine identische Inschrift findet sich an einem weiteren Gedenkort von 1984. 1995 wurde am Rand des Geländes ein zehn Meter hohes Denkmal für die Opfer des KZ errichtet, doch ohne jede Inschrift. Die Gebäude auf dem Gelände dienten lange verschiedenen profanen Zwecken. So beherbergten sie Räume für Künstler, ein Restaurant, eine Schule, einen Nachtclub und einen Kindergarten. Das löste den Unwillen des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden Serbiens, Robert Sabadoš, aus. 2018 eröffnete die Serbische Fortschrittspartei (die trotz ihres progressiv anmutenden Namens eindeutig dem nationalistischen Spektrum zuzuordnen ist) des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić dort ein Büro. Im Februar 2020 stimmte eine Mehrheit des serbischen Parlaments für die Errichtung eines Gedenkkomplexes in Sajmište. Sie soll nach derzeitigem Stand 2022 beginnen. 
Das einzige noch aktive jüdische G‘tteshaus in Belgrad ist die 1924-1926 (für die Aschkenasim) errichtete Sukkat Shalom-Synagoge. Während der deutschen Besatzungszeit (1941-1944) war dort ein Bordell(!) untergebracht gewesen. Die heutige jüdische Gemeinde Serbiens ist klein, doch aktiv. Ihr angeschlossen ist das Jüdische Museum Belgrad, das 1948 gegründet, doch erst 1960 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. 
In Belgrad haben sich zwei jüdische Friedhöfe erhalten, wobei der sefardische der erheblich grössere ist. Die Grabsteine tragen Inschriften in mehreren Sprachen – Serbisch, Deutsch, Hebräisch, Ladino, Ungarisch – und zeugen so von der Vielfalt des serbischen Judentums. Es gibt dort ein Denkmal für die jüdischen Opfer des Faschismus, das 1952 errichtet und vom serbischen Architekten Bogdan Bogdanović (1922-2010), der 1966 auch das Mahnmal „Steinerne Blume“ im ehemaligen KZ Jasenovac (Kroatien) entwarf, gestaltet wurde. Am Fuss des Denkmals befindet sich das Grab von Bogdanović selbst und seiner Ehefrau. Obwohl sie keine Juden waren, wurde dieses Begräbnis (offenbar) von der jüdischen Gemeinde genehmigt.
„Philosemitismus“ und Antisemitismus 
Im Zusammenhang mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien (1990-1995) bemühte sich Serbien in seiner Aussendarstellung, einen gewissen „Philosemitismus“ zu demonstrieren. Dabei ging es allerdings weniger oder gar nicht um Sympathie für die Juden oder eine Aufarbeitung der eigenen, serbischen Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges, sondern um propagandistische Effekte: So wurden die Kroaten als „gemeinsame Bedrohung für Juden und Serben“ dargestellt, um die Sympathie der Juden zu gewinnen, die wiederum – so die nicht wirklich gut verborgene Vorstellung bzw. Hoffnung diverser Exponenten dieser Bemühungen – auf die Führung der U.S.A. im Sinne der serbischen Kriegsziele einwirken könnten oder sollten. 
Freilich kann keine Rede davon sein, dass es parallel dazu in Serbien keine antisemitischen Tendenzen gegeben hätte. So erschienen zwischen dem Ende der 1980er Jahre und 2006 im Land über 150 einschlägige Schriften, darunter gleich zwölf Neuausgaben der (in Belgrad erstmals in den 1930er Jahren verlegten) Protokolle der Weisen von Zion, einer berühmt-berüchtigten Fälschung des zaristischen Geheimdienstes, zu deren Propagandisten unter anderem der Maler Dragoš Kalajić (1943-2005), Ideologe einer „Neuen Serbischen Rechten“, gehörte. Ein weiterer Exponent antisemitischer Aktivitäten war der Psychologe und Autor Ratibor Rajko Đurđević (1915-2011), der lange in den U.S.A. gelebt hatte, bevor der 1992 nach Serbien zurückkehrte. Er liess sich unter anderem mit der Meinung vernehmen, dass die postjugoslawischen Serben „in die Sklaverei der jüdisch-amerikanischen und jüdisch-europäischen Lebensweise geraten“ seien. Seine zahlreichen Werke brachte er bevorzugt in seinem eigenen Belgrader Verlag Christliches Buch heraus. Ein gewisser Dragan M. Filipović veröffentlichte 2008 das 350 Seiten starke Machwerk Autonomie des globalistischen Gestanks, das groteske Verschwörungstheorien wie jene enthält, dass „die Juden“ am Zerfall Jugoslawiens (1991-1992) Schuld trügen. Zudem wurde der serbische Buchmarkt durch Schriften ausländischer Holocaustleugner, so des Schweizers Jürgen Graf, „bereichert“. – Der Verband der Jüdischen Gemeinden Serbiens hat an dieser Situation wie auch an der Praxis der Behörden, überhaupt nicht oder nur sehr langsam zu reagieren, wiederholt Kritik geübt, die aber wiederum oft wirkungslos blieb. 
Seit Beginn der 1990er Jahre entstand in Serbien eine Reihe rechtsextremer politischer Organisationen, die eine Mischung aus politischem Konservatismus, klerikalem Nationalismus und – in unterschiedlichem Masse – Antisemitismus propagierten. 1990 erfolgte die Gründung der Heiliger-Sava-Partei mit dem Priester und Antisemiten Žarko Gavrilović (1933-2016) an der Spitze, und der umstrittene Theologe Nebojša Krstić (1964-2001) rief die Patriotische Bewegung Würde ins Leben. 2012 wurde seine Vereinigung vom Verfassungsgericht Serbiens wegen Aufhetzung zu ethischem und religiösem Hass verboten. Die „Hochzeit“ solcher Organisationen um das Jahr 2000 fiel – zufällig oder nicht – mit einer deutlichen Zunahme antisemitischer Vorfälle zusammen. 
Im Februar 2001 tauchten antisemitische Graffiti und Aufkleber mit Nazi-Symbolen an den Wänden einer Synagoge in Belgrad auf. Einen Monat später schändeten Vandalen das in der Stadt Zrenjanin errichtete Denkmal für die jüdischen Opfer des Holocaust. Jüdische Friedhöfe und Gemeindegebäude in einer Reihe von Provinzstädten wurden in ähnlicher Weise verunstaltet, während Graffiti mit Botschaften wie „Tod den Juden“, „Juden raus“ usw. in ganz Serbien immer häufiger wurden. Auch die Zahl der persönlichen Drohungen gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinde des Landes nahm zu. Anlässlich des Krieges um den Kosovo (1999) suchten diverse serbische Nationalisten nach Juden in der U.S.-Führung. Parolen wie „Die Juden haben uns verraten“ machten die Runde. 2020 akzeptierte die serbische Regierung die (rechtlich nicht bindende) Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance. Diskriminierung auf der Grundlage von Rasse, nationaler Zugehörigkeit, Religion, Kultur und so weiter ist von der serbischen Verfassung (Artikel 21) ohnedies verboten, wenngleich die Umsetzung mitunter zu wünschen übriglässt.
Die Serbisch-Orthodoxe Kirche spielte bei der Transformation des „kollektiven Gedächtnisses“ der spät- und postjugoslawischen serbischen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Und hier ist die Rolle von Bischof Nikolaj Velimirović (1881-1956) nicht zu verkennen, dessen Schriften im postjugoslawischen Serbien (wieder) massive Verbreitung finden (in der serbischen Diaspora war dieses Interesse nie abgerissen). Seine Ideen sind in der Serbisch-Orthodoxen Kirche, die ihn 2003 heiligsprach, und der Politik des Landes bis heute einflussreich. Durch wahlweise Unterdrückung, Rechtfertigung, Entschuldigung, Verharmlosung und Bagatellisierung von Velimirovićs antisemitischen Äusserungen transformierte sich seine Verachtung der Juden in eine in bestimmten Kreisen serbisch-orthodoxer Christen zumindest akzeptierte, wenn nicht sogar offizielle Haltung.
Aspekte der Beziehungen zu Israel unter Vučić
Aleksandar Vučić war politisch ab 1993 in der extrem nationalistischen und für ein „Grossserbien“ eintretenden Serbischen Radikalen Partei gross geworden, aus der er 2008 austrat. 2014 legte er in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident Serbiens einen Kranz in der Halle der Erinnerung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem nieder. 2017 wurde er zum Präsidenten gewählt. In dieser Eigenschaft besuchte er auf Einladung von Israels Präsident Reuven Rivlin im Jänner 2020 das fünfte Weltforum Erinnerung an den Holocaust, Bekämpfung des Antisemitismus. Dabei erklärte Vučić: „Das serbische Volk teilte sein Schicksal während des Zweiten Weltkriegs mit dem jüdischen Volk und kämpfte die ganze Zeit über erbittert gegen die Faschisten und ihre Verbündeten.“ 
In solchen Sätzen ist (erneut) das serbische Bestreben erkennbar, erstens das Leiden von Juden und Serben während des Zweiten Weltkrieges quasi „auf eine Ebene“ zu stellen und zweitens den Eindruck zu erwecken, als sei das serbische Volk in seinem Widerstand völlig vereint gewesen, womit das ganze überaus unerfreuliche Thema der Kollaboration mit den deutschen Besatzern „entsorgt“ wird. – Es ist erstaunlich, dass solche rhetorischen Extravaganzen des serbischen Staatsoberhauptes international kaum jemals auf Widerspruch stossen.