Ihr 1948 erschienener Roman Die grössere Hoffnung gehört zu den bedeutendsten Werken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Mit ihren Erzählungen, Gedichten und Hörspielen sowie Kurzfeuilletons zählt Ilse Aichinger zu den wichtigsten österreichischen Literatinnen. Am 1. November hätte sie ihren 100. Geburtstag gefeiert.
Ilse Aichinger erhält den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln, Wien, 11. November 2002. Foto: Votava / Imagno / picturedesk.com, mit freundlicher Genehmigung.
Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga werden am 1. November 1921 in Wien als Töchter der jüdischen Ärztin Berta Aichinger und des nichtjüdischen Lehrers Ludwig Aichinger geboren und wachsen in Linz auf.1 Nach der Scheidung der Eltern leben die Mädchen bei ihrer Mutter in Wien. Während Helga am 4. Juli 1939 mit einem Kindertransport nach Grossbritannien gelangen kann, muss der Rest der Familie in Österreich bleiben. Ilse Aichinger und ihre Mutter, die ihre Stelle als städtische Ärztin verliert, werden dienstverpflichtet. Die Grossmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter werden 1942 verschleppt und kommen im Vernichtungslager Maly Trostinec in der Nähe von Minsk um.
Ihr Medizinstudium kann Ilse Aichinger erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen, doch bricht sie dieses bereits nach fünf Semestern ab, um ihren ersten und einzigen Roman Die grössere Hoffnung fertigzustellen, der 1948 im Amsterdamer Bermann-Fischer Verlag publiziert wird. Im Zentrum der Handlung, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielt, steht das fünfzehnjährige Mädchen Ellen, deren jüdische Mutter nach Amerika fliehen kann. Das Kind, das nun bei der Grossmutter lebt, muss die Deportation ihrer Spielgefährten und Freunde sowie den Selbstmord der Grossmutter miterleben.
Ab 1950 ist Ilse Aichinger als Lektorin im Frankfurter S. Fischer Verlag sowie an der Hochschule für Gestaltung in Ulm tätig. Im folgenden Jahr nimmt sie erstmals an der Jahrestagung der Gruppe 47 in Bad Dürkheim teil, wo sie ihren späteren Ehemann, den Schriftsteller Günter Eich (1907–1972), kennenlernt. 1952 erhält sie den Preis der Gruppe 47 für ihre Spiegelgeschichte, einen Text, der das Leben rückwärts von der Bahre bis zur Wiege erzählt.
1954 kommt ihr Sohn Clemens Eich zur Welt und drei Jahre später wird ihre Tochter Mirjam geboren.2 Die Familie lebt zunächst in verschiedenen Dörfern Bayerns, dann im österreichisch-bayrischen Grenzort Grossgmain bei Salzburg. Nach dem Tod ihrer Mutter übersiedelt Ilse Aichinger 1984 nach Frankfurt, seit Ende 1988 lebt sie in Wien, wo sie nach einer längeren Schaffenspause Ende der 1990er Jahre wieder mit dem Schreiben beginnt. Am 11. November 2016 stirbt Ilse Aichinger in Wien.
„Man überlebt nicht alles, was man überlebt“, schrieb sie einmal. Der Tod war ein freundlicher Begleiter der Schriftstellerin, in vielen Gesprächen und Interviews hat sie sich immer wieder mit ihm beschäftigt. „Das Sterben war früher auch nicht besser, die Auffassung vom Sterben war anders. Es war kein Misserfolg. Es war eine Art Heimkehr“, sagte sie einmal. Und: „Gute Literatur ist mit dem Tod identisch.“ Und doch war es das Schreiben, das das Leben der Ilse Aichinger gerettet hat. Zum grossen Glück der österreichischen Literatur: „Schreiben hat mir ermöglicht, auf der Welt zu bleiben. Ich glaube, dass ich es nötig gehabt habe, sonst hätte ich es nicht getan."3
1 Im Stifterhaus in Linz läuft bis Mai 2022 eine Ausstellung über Ilse Aichinger:
https://stifterhaus.at/programm/ausstellungen
2 Clemens Eich, der später als Schauspieler und Schriftsteller tätig ist, stirbt im Alter von 43 Jahren an den Folgen eines Treppensturzes in Wien.
3 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/855736-Schnell-solange-du-noch-tot-bist.html