Ausgabe

Das Beispiel Colbert Fin de siècle und Republik

Ingrid Nowotny

Alexander Emanuely hat ein an Umfang und wissenschaftlicher Qualität beachtliches Werk vorgelegt.

Inhalt

Alexander Emanuely führt und entführt uns in lebendiger Sprache und leicht lesbarem Duktus in eine Zeit, die unser Denken und unsere Gesellschaft bis heute prägt: Eine spannende Erzählung, detailreich, berührend, fesselnd, aufrüttelnd, aber auch kritisch, analytisch und bisweilen beissend spöttisch. Das Beispiel Colbert – die Geschichte des faszinierenden Unternehmers, Finanzmannes, Medienmoguls, Journalisten, Literaten und, ja auch, Humanisten und Sozialkritikers Karl Cohn – ist ein Ankerpunkt für die umfassende Darstellung der Zeit in ihrer ganzen Vielfalt und politischen Unsicherheit. Alexander Emanuely zeigt die Ambivalenz zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Ungerechtigkeit, zwischen Klassenherrschaft und Arbeiterelend, zwischen kultureller Rückständigkeit und intellektueller Avantgarde, alles zur gleichen Zeit, im Wien zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, zwischen Integration des jüdischen Bürgertums in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft einerseits und Entstehen des aggressivsten Antisemitismus anderseits. Karl Colberts Leben ist für Alexander Emanuely ein umfassender Spiegel seiner Zeit.

Der Erste Weltkrieg scheint alles zunichte zu machen, er war denn auch die grösste je erlebte Zerstörung von Menschen, Gütern und gewachsenen Strukturen des Zusammenlebens, und dennoch: Nach der Katastrophe formierten sich gerade in Österreich konstruktive Kräfte für einen Neuanfang, oder besser zu dem endlich möglichen Aufbau der Gesellschaft, wie es progressive Denker und politische Vorreiter schon lange vorher formuliert und gefordert hatten. Gerade jetzt, 100 Jahre danach, werden wir wieder daran erinnert, dass damals eine demokratische Verfassung erlassen, ein sozialstaatliches System, das noch heute die Folgen von Corona auffängt, aufgebaut, die Grundlagen der Sozialpartnerschaft geschaffen und das Modell „Rotes Wien“ umgesetzt wurde – Errungenschaften, die zu Recht heute noch leben. 
Carl Kohn war Teil der dekadent-prosperierenden Gesellschaft des Fin de siècle und noch mehr Motor des politischen Aufschwungs nachher. Paradox, aber logisch: Wie kaum ein anderer wusste er ausgiebig die Möglichkeiten zu Profit zu nutzen, er sah und kritisierte aber auch glasklar und treffend die Schwachstellen und die Ungerechtigkeit des zügellosen Kapitalismus. Er wurde 1855 in eine aus Ungarn, aus Pest und Pressburg, nach Wien zugewanderte Familie hineingeboren, die zuvor noch keineswegs die vollen bürgerlichen Rechte hatte. Sein Vater Moritz Cohn und die Mutter Charlotte, geb. Hirschl waren in das Netz einer der weitverzweigten jüdischen Verwandtschaft eingebunden, darunter die Familien Frank, Weisskopf oder Hirschl, vielleicht auch Todesco. In Wien konnte man Grund und Boden erwerben und Gewerbeberechtigungen erhalten, unerlässlich für das schon von seinem Grossvater erfolgreich als privilegierter Grosshändler betriebene Geschäft mit Uhren- und Galanteriewaren. Für Alexander Emanuely ist schon das Geburtsjahr 1855 Anlass, detailreich Geschichte zu erzählen: fesselnd die kritische Darstellung des politischen Umfelds, des wieder erstarkenden Neoabsolutismus, des unruhigen sozialen Gefüges zwischen Feudalherrschaft und aufstrebender Arbeiterbewegung. Wenngleich die allgemeine politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Mittelpunkt steht, wird auch das die Menschen unmittelbar betreffende Umfeld lebensnah geschildert, wie etwa die Auswirkungen der grassierenden Cholera und die einschneidenden Massnahmen dagegen oder der Brand des Ringtheaters mit seinen tragischen Folgen. Dass Colberts Mutter nach dem frühen Tod ihres Mannes dessen Wechselstube weiterführte und erfolgreich ausbaute, wird zum Anknüpfungspunkt für eine spannende Bildungs- und Emanzipationsgeschichte der Frauen im Allgemeinen und der jüdischen Frauen im Besonderen, bis hinauf zum Schulprojekt von Genia Schwarzwald. Karl wurde Schüler des Akademischen Gymnasiums, einer Institution, die nicht mehr der Kirche unterstand und sich somit auch jüdischen Schülern als Hort liberalen Denkens öffnen konnte. Peter Altenberg, Tomaš Masaryk, nach 1918 der erste Präsident der Tschechoslowakei, Max Wladimir Freiherr von Beck, mit der späteren Wahlrechtsreform untrennbar verbunden, waren unter anderem seine Mitschüler. 
Karl besuchte hernach die damals neu gegründete Wiener Handelsakademie (noch heute zeugen am Eingang am Karlsplatz die steinernen Figuren von Adam Smith und Christoph Columbus vom neuen Unternehmergeist), naheliegend, sollte er doch mit 21 Jahren die Prokura im Geschäft seiner Mutter übernehmen, dem Mercur Ch. Cohn - Wechsel- und Lotterie-Geschäft mit Herausgabe des Mercur. Das Unternehmen war zu einem veritablen Bankhaus geworden und der Mercur zu einer unerlässlichen Informationsquelle für das Bank- und Börsenwesen. Das „Ch.“ galt sowohl für Charlotte als auch für Charles, die Frau sollte nicht unbedingt zum Vorschein kommen. Der Anzeiger Mercur legte durch die vielfältigen Verbindungen zu anderen wichtigen Zeitungen auch den Keim für Karls künftige Bedeutung in der Medienlandschaft. Merkur Ch. Kohn, die Merkurbank, ging 1898 durch Übernahme, für Karl gewinnbringend, in der Böhmischen Unionsbank auf; er blieb weiter führend in deren Wiener Niederlage tätig, wandte sich aber dem Journalismus zu. 

Die Ambivalenz ist erstaunlich, aber durch die politischen Umstände und den scharfen Geist Karl Kohns erklärlich: Unter den Pseusonymen Alpheus, Augias oder Catilina schreibt er gegen die soziale Ungerechtigkeit seiner Zeit an. Er kritisiert beissend den Kapitalismus, zeigt in genialen Reportagen Ausbeutung und Elend auf, trifft sich in der Wiener Fabier Gesellschaft mit Josef Popper-Lynkeus, Viktor Adler und Wilhelm Jerusalem. Er war schon früh Republikaner und Sozialdemokrat, allerdings nicht ganz konfliktfrei zur Partei. Ethisch erhält er seine Grundlagen durch die Freimaurerei: Er ist Mitglied der Loge Humanitas und engagiert sich federführend für das von ihr geförderte Kinderasyl im Kahlenbergerdorf, das auch anders als kirchliche Einrichtungen unehelichen Müttern Schutz bot und überhaupt die Sozialarbeit professionalisieren und aus dem Almosen- und Mildtätigkeitsgedanken herausführen sollte. In dieselbe progressiv-antiklerikale Richtung ging auch sein Engagement in der Ethischen Gesellschaft, für die Freie Schule, für die Bewegung der Volkshochschulen, für den Freidenkerbund und für die Österreichische Friedensgesellschaft des Nobelpreisträgers Alfred Fried. Zeit- und sozialkritische Artikel und auch Romane in Fortsetzungen erschienen in mehreren Publikationsorganen. Sehr populär wurden seine Bücher aus der Finanzwelt, wie Das Goldene Kalb oder Bankleute und Börsenspieler vor 2000 Jahren. Das wohl Beeindruckendste an der Person Karl Colberts war, dass er sich auch selbst das Sprachrohr und die Medien für die Verbreitung seiner aufklärerischen Ideen schaffen konnte, und das auch mit beachtlichem kommerziellem Erfolg: Er gründete 1910 die Wochenzeitschrift Der Morgen, später die sozialkritische, bisweilen marxistische Zeitung Der Abend. Der grösste Erfolg und am einträglichsten war jedoch Wiener Mode, eine Art europäische Vogue. Diese Zeitschrift war einerseits der Mode, dem „guten Geschmack“, der „Stilbildung“ gewidmet, brachte andererseits auch  anspruchsvolle Literatur, politische Statements zur Gleichberechtigung der Frau, zeitgenössische Kunst, Architektur  und Kunsthandwerk. Es war die Zeit des Jugendstils und seiner Überwindung, des Reformkleides und des Kunsthandwerks, geprägt durch die Wiener Werkstätte. Wien war hier führend und stilbildend für ganz Europa. In diesem Sinne verkaufte sich die Zeitschrift auch gut, bis nach Übersee. Obwohl sie sich ihrer Konzeption nach an ein elitäres Publikum wandte, war es Colbert ebenso Anliegen, auch Kreise anzusprechen, denen aufgrund der Einkommens- und Bildungssituation der Zugang zu kulturellen Errungenschaften verwehrt bleibt. Ihnen sollte zumindest durch leistbare Lektüre die feinere Lebensart, Kunst, Kultur und, heute würde man sagen, „Lifestyle“, vermittelt werden. Grosser Erfolg waren in diesem Sinne die beigelegten, leicht umsetzbaren Schnittmuster für moderne und bequeme Kleidung. Colbert war hier nicht nur von der starken Persönlichkeit seiner Mutter geprägt – er schreibt leidenschaftlich für die Gleichberechtigung der Frau im Erwerbsleben – sondern auch von seiner Frau, der Konzertpianistin Tony Wolff. Sie kam aus einer künstlerischen Familie und war Hugo Wolf, Karl Goldmark, Arnold Schönberg, Arnold und Alma Rosé und anderen bedeutenden Künstlern verbunden. Ihre starke humanitäre Ader motivierte sie zu aufopfernder Sozialarbeit im Ersten Weltkrieg. 
Der Niedergang des Colbert´schen Imperiums soll nicht ausgespart bleiben: Fehlinvestitionen, Konflikte mit Compagnons, die heraufdämmernde Wirtschaftskrise und letztlich Krankheit besiegelten das Ende. Karl Colbert starb am 29. Mai 1929. Der Sohn Ernst Colbert konnte nichts mehr retten; er wurde deportiert und im Konzentrationslager ermordet. Alexander Emanuely ist nur beizupflichten, wenn er im Vorwort schreibt, sein Buch verstehe sich als Standardwerk über die kaum bekannten Ursprünge der Menschenrechts- und Demokratiebewegung, des Republikanismus und der Zivilgesellschaft Österreichs. Es ist sogar noch mehr als das: ein fesselndes Zeitgemälde und eine spannende Aufforderung, sich kritisch mit dem Jetzt und Heute und mit eigenen Positionen und Werten auseinanderzusetzen. P.S.: Den Essay von Lydia Mischkulnig am Ende des Werkes, Nova Huta - aller et retour, Versuch über eine Utopie, ist ein literarisches Kleinod – wir können es nur als ein unverdientes Geschenk vom Feinsten hinnehmen!   

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Alexander Emanuely
Das Beispiel Colbert – Fin de siècle und Republik
Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2020.
658 Seiten, 36,00 Euro
ISBN 978-3-901602-85-6