Ausgabe

Zionistische Zwillinge Santo Semo und Sr. Alfred Nossig

Michael Halévy

Waren sie sich begegnet? Auf einem Zionistenkongress in Basel oder auf dem Friedenskongress in Den Haag? 

Inhalt

Haben sie mit Theodor Herzl und Leo Motzkin über die Mesopotamien-Frage gestritten?1 Haben sie, den Jungtürken nahestehende Zionisten, den Genozid an den Armeniern gebilligt? War er ihnen gleichgültig? Haben sie über Don Isaac Abarbanel gesprochen, die Identifikationsfigur der sefardischen und aschkenasischen Juden im späten 19. Jahrhundert, über den beide ein Theaterstück verfassen werden, das kaum mehr als eine oder zwei Aufführungen erleben wird?2 

Für Semo ist Abarbanel ein Messianiker, ein Führer, der die Vertreibung als Chance begreift, die Juden ins gelobte Land zu führen.3 Nossig stellt Abarbanel als einen “idealisierten Zionisten der Jahrhundertwende im Herzl-Nordau-Look” dar, dem bewusst wird, dass Spanien die Juden niemals akzeptieren wird.4 Semo erringt einen gewissen Erfolg mit seinem historischen Drama Don Isaac, das 1910 in Istanbul und 1911 in Jerusalem zur Aufführung kommt und von dem mindestens drei Ausgaben in französischer, spanischer und hebräischer Sprache überliefert sind.5 

Der eine, Santo bey de Semo (1878–1950), ist ein bulgarischer Sefarde aus dem osmanischen Rusçuk, der andere, Alfred Nossig (1864–1943), ein galizischer Aschkenase aus Lemberg. Beide stammen aus der kulturellen Peripherie des Habsburger Reiches, beide sind Zionisten, kämpfen für einen jüdischen Staat, den sie nicht in Palästina errichten wollen, sondern in Mesopotamien. Sie sind polyglott (Nossig publiziert auf Deutsch, Semo auf Französisch) und bis zuletzt von ihrer Bedeutung und ihren Ideen überzeugt. Beide verhandeln (ohne Mandat) mit den Osmanen, den Deutschen und den Briten. Beide erregen mit ihren Schriften und Vorträgen Aufsehen, finden begeisterte Anhänger und ebenso scharfe Kritiker. Der eine, Santo Semo, setzt sich ein für die friedliche Transformation des Osmanischen Reiches in ein osmanisches Commonwealth,6 der andere,7 Nossig, kämpft zusammen mit dem nationalistischen Flügel der Jungtürken für die Errichtung eines türkischen Nationalstaates ohne ethnische und religiöse Minderheiten.8 Auch wenn keiner den anderen in seinen Veröffentlichungen erwähnt, so müssen sie sich auf den Zionisten- und Friedenskongressen begegnet sein, wo sie mit ihren zionistischen und visionären geopolitischen Ideen für Aufsehen sorgen.9 

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Beide kennen das Osmanische Reich, die alten und die jungen Eliten, setzen sich ein für eine moderne Türkei, nehmen Kontakt auf zu den Führern der Jungtürken. Nossig vertraut bedenkenlos den autoritären Jungtürken Mehmet Talaat Pascha, Halil Kut Pascha und Ismail Enver Pascha, den Architekten des Völkermords an den Armeniern.1⁰ Semo schliesst sich dem liberalen Komitee der Union und des Fortschritts (CUP) an, wird Mitglied der von Prinz Sabahaddin gegründeten Liga für Privatinitiative und Dezentralisierung, befürwortet die Annahme einer osmanischen Verfassung, die Bildung eines Parlaments und den Aufbau einer dezentralisierten Verwaltung. Er gehört zu den Evolutionären, will das Osmanische Reich von innen heraus reformieren.11 Nach dem Ersten Weltkrieg verliert er in Deutschland sein beträchtliches Vermögen und lebt von Vorträgen, ist Übersetzer, Fremdenführer und Kunsthändler in Paris. Santo Semo, der während der deutschen Okkupation Frankreichs mit der Wehrmacht und den NS-Kunsträubern kollaboriert (sein türkischer Pass schützt ihn vor der Deportation), wird in seinen späteren Lebensjahren zum Gespött der Pariser Studenten und der Journalisten.12 
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Santo Semo
Santo Semo, den die Presse Johannes der Täufer der Jungtürken und Napoleon des Friedens nennt, kann auf eine beeindruckende Karriere verweisen. Der studierte Strassen- und Brückenbauingenieur ist Kunsthistoriker, Dramatiker und Romancier, Kaufmann und Finanzier. Vor allem ist er ein Sprachgenie, rühmt sich, neben seiner judenspanischen Muttersprache weitere vierzig Sprachen und sechzig Dialekte zu beherrschen. Er ist Kandidat für das Amt des Grosswesirs, berät ungefragt Kaiser Wilhelm II. und seine Generäle Hindenburg und Ludendorff. Er ist Mitglied der Pariser Sefardengemeinde und Mitglied der Freimaurerlogen in Bukarest und Paris. Er unterrichtet den Prinzen von Wales und ist Privatsekretär des osmanischen Soziologen Prinz Mehmet Sabahaddin, erkundet im Auftrag der türkischen Regierung das historische Bewässerungssystem in Mesopotamien13 und verteidigt seine umstrittenen Pläne für einen radikalen Bevölkerungstransfer. Er ist den Mythen, Geheimnissen und der Erotik des Harems auf der Spur und interessiert sich für die Kopfbedeckung französischer Frauen.14 Er hält Vorträge in Istanbul, Wien, Budapest, Belgrad und Bukarest, über ihn berichten Zeitungen in den U.S.A., Neuseeland und Australien.

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Alfred Nossig (2. von links) mit den Verantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern:  Mehmet Talaat, Halil Kut Pasha und Ismail Enver Pasha


Santo Semo, der frankophile Kaufmannssohn aus Rusçuk, führt ein unstetes Leben, mal in Luxus, mal in Bescheidenheit. Selbstbewusst und geschickt verkehrt er in den glamourösen Salons der Aristokraten in London und Paris und in den furchteinflössenden Büros der Deutschen Wehrmacht in Paris. Er sieht sich als Berater der Mächtigen der Welt, schreibt unzählige Briefe an Adolf Hitler („Mein Führer“), an Stalin („Kamerad Stalin“) und an Charles de Gaulle („Mon Général“). Anfang 1945 beginnt Santo Semo, ein damals wohl geistig verwirrter Mann von fast 70 Jahren, einen fünfteiligen Zyklus von Vorträgen in der Société de Géographie, viele Jahre lang sein bevorzugter Vortragsort. Diese Vorträge sollten ein Vermächtnis sein: Er, Santo Semo aus Rusçuk, habe in den vergangenen vierzig Jahren hinter den Kulissen konspirativ für den Weltfrieden gekämpft, mal als Jungtürke, mal als visionärer Zionist oder Friedensaktivist. Um die Welt zu retten, musste er seinen Wirkungskreis von Rusçuk nach Paris verlegen. Und damit dies auch bekannt würde, verlangt er vom französischen Rundfunk nicht nur eine angemessene Berichterstattung, sondern auch das Erscheinen von Charles de Gaulle, den er in einem Einladungsschreiben als einen Politiker bezeichnet, der niemals mit einem Santo Semo würde konkurrieren können.15 Nach seinem Tod im Sommer 1949 (bestattet am 6. Juni 1949, Registres journaliers d'inhumation des cimetières parisiens) erscheint sein Name nur noch in skurrilen Büchern und Artikeln, mit denen seriöse Autoren auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden wollen. In diesen Veröffentlichungen wird Santo Semo bis heute überleben, in rufschädigenden Schriften, in denen sich Phantasten und Verrückte, Abenteurer und Verschwörungstheoretiker versammeln.16 Teile seines Nachlasses beziehungsweise seiner Schriften gelangen durch den Knesset-Abgeordneten Benjamin (Buko) Arditti und den Zionisten Nahum Sokolov nach Israel.17 Weitere Manuskripte kursieren jedoch noch immer in geheimnisumwobenen Kreisen in Paris, vor allem unter seinen Anhängern, den Rayonnants, den Erleuchteten, die sich unter dem Eiffelturm treffen und ihrem Anführer huldigen.18  

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Alfred Nossig – Imaj-shemoi
– Sein Name sei ausgelöscht! – Für den Dichter des Warschauer Ghettos Jizchak Katzenelson ist Nossig ein 
Ausgestossener, mit dem schändlichen Bann (herem) des Verschweigens belegt.19 Der amerikanische Dramatiker Lazzarre S. Simckes verspottet ihn verächtlich und in boshafter Verdrehung seines Namens als ein Nothing. Für Janusz Korzak ist Nossig ein böser und bösartiger Zwerg.20 Wie Santo Semo will Nossig alles in einem sein: Kolonisationszionist, Jungtürke und Friedensaktivist, Arzt, Jurist, Bildhauer, Kunstkritiker, Autor eines Opernlibrettos, Philosoph, Verfasser wirtschaftlicher Abhandlungen, Demograph, Verfechter der Eugenik,21 Leiter der Allgemeinen Jüdischen Kolonisationsorganisation, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Nossig, der seine Ansichten so häufig ändert wie seinen Wohnsitz, lebt in Lemberg, Zürich, Berlin, Paris, London und Warschau. Und immer für eine Organisation, die er in der nächsten dann aufs bitterste bekämpften wird.

Der vielseitige, umtriebige und heute vergessene Alfred Nossig bleibt immer ein Aussenseiter in der zionistischen Bewegung, der gelegentlich mit dem Gedanken spielt, sich in Palästina niederzulassen. Er gehört zu den ersten Unterstützern von Herzl, einem Verwandten, auch wenn beide bald aneinandergerieten. 1908 verlässt Nossig die zionistische Bewegung und gründet die Allgemeine Jüdische Kolonisations- Organisation, die sich politisch für die jüdische Auswanderung in andere Teile der Welt als Palästina einsetzt. Später widmet sich Nossig der Schriftstellerei und der Bildhauerei. Nach 1933 hat er die Möglichkeit, nach Palästina auszuwandern, entscheidet sich aber für ein Leben in Warschau im Dienst des Judenrats, der dem alten, senilen Mann nicht zu Hilfe kommt, als dieser auf Hilfe angewiesen ist. Am Ende seines abenteuerlichen Lebens wird der Zionist, der vom Nationalisten zum Pazifisten und Paneuropäer wird, von der Żydowska Organizacja Bojowa (Jüdische Kampforganisation) wegen (letztlich unbewiesener) Spitzeldienste für die Gestapo in Warschau Ende Januar/Anfang Februar 1943 mit weiteren der Kollaboration Beschuldigten zum Tode verurteilt und liquidiert.22

Leben und Werk von Santo Semo und Alfred Nossig verdienen gründliche Studien. Beide sind angetreten, die Welt zu retten, zumindest, sie etwas besser zu machen. Heute sind sie (fast) vergessen und überleben in Fussnoten als faszinierende Anekdote – im besten Fall. Ihnen fehlte immer etwas, das für eine Vollkommenheit notwendig ist. Sie wollten immer Etwas, das ihnen fehlte.23

Nachlese:
Michael STUDEMUND-HALÉVY. The Marketing of a Life; The Young Turk and Zionist Santo Bey de Semo (1878-1950) and his Drama Don Isaac, La Boz de Bulgaria, vol. 5, Barcelona 2021, Tirocinio, 292 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-84949-9906-2

Anmerkungen
1 Moshe Perlmann, Paul Haupt and the Mesopotamien Project, 1892-1914, Publications of the American Jewish Historical Society 47, 3, 1958, S. 154-175 [hier: S.169].
2 Jean-Christophe Attias, Isaac Abravanel: Between Ethnic Memory and National Memory, Jewish Social Studies 2, 3, 1996, 127–155.
3 Michael Studemund-Halévy, The Marketing of a Play: Santo Semo’s Don Isaac, in: Zeljko Jovanovic & Maria José Perez (Hg.), Ovras sin onores. Estudios sefardíes
en homenaje a Paloma Diaz-Mas, S. 57-80; idem, The Marketing of a Life: The Young Turk and Zionist Santo Bey de Semo (1878-1950) and his Drama ‘Don Isaac’, Barcelona 2021: Tirocinio.
4 Jonathan Skolnik, Die seltsame Karriere der Familie Abarbanel, In: Joseph A. Kruse et al. (Hg.) Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongress 1997 zum 200. Geburtstag, Berlin-Heidelberg 1997: Springer, S. 321-333 [hier: S. 328-329]; Leo Belmont, Abarbanel. Dramat Alfreda Nossiga, Izraelita 36, 1906, 431-432 ; Iwona Kotelnicka, Alfred Nossigs Dramen: Identitätsprojektionen und biographische Bezüge, Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen, Bonn 2011: DAAD, S. 125-152; Maria Antosik-Piela, Mr Nossig’s Latest Transformation, or Alfred Nossig as a Writer, Polin 28, 2016, 45-59;
5 Michael Studemund-Halévy, The Marketing of a Play: Santo Semo’s Don Isaac, in: Zeljko Jovanovic & Maria José Perez (Hg.), Ovras son onores. Estudios sefardíes
en homenaje a Paloma Diaz-Mas, Vitoria 2021, S. 57-80.
6 Freedom and Peace in Turkey: Santo Semo at the International Circle, Peace Conference Courier, Nr. 84, 20. September 1907, 3
7 Santo Semo, The New Ottoman Parliament and its Members, The Review of Reviews 39, 1909, 107-111.
8 Alfred Nossig, Zur Lösung des Palästina-Problems, Wien und Berlin 1919: R. Löwit.
9 Michael Studemund-Halévy, The Longing to Belong: Santo Semo the language convert, Colloquia Humanistica 9, 2020, 233-254.
10 Alfred Nossig, Die neue Türkei und ihre Führer, Berlin 1910: Hendel.
11 La liberté et la paix en Turquie: Santo Semo au Cercle International, Courrier de la Conférence de la Paix, n. 84, 20. 9. 1907, 3.
12 Bogdan Krzywcza, Santo Semo i kradzież w pałacu Chaillot, Przekój, n. 196, 9. 1. 1949.
13 Santo Semo, Les irrigations en Mésopotamie, La Jeune Turquie, 23. 7. 1910, 2.
14 Santo Semo, Coiffes de France, L’Illustration 90, 4660, 25. 6. 1932.
15 Santo Semo, Israel et le Monde, Paris 1945 : Le Pelletier; Georges Ravon, En écoutant Santo-Semo ou quarante ans de clandestinité, Les Lettres Françaises, 7 April 1945, 6.
16 Michael Studemund-Halévy, The Marketing of a Life: The Young Turk and Zionist Santo Bey de Semo (1878-1950) and his Drama ‘Don Isaac’, Barcelona 2021: Tirocinio.
17 Central Zionist Archives (Jerusalem): Comment j’ai lancé Hitler contre Staline; La lutte de ma vie – En voulant sauver le monde (MS) ; Brief an Josef Stalin; Brief an Charles de Gaulle, etc.
18 Guy Breton, Les Nuits secrètes de Paris, Paris 1963: Éditions Noir et Blanc.
19 Itsjok Katzenelson (1886-1944), Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn folk, Rendsburg 1996, XIV, 11.
20 Iwona Kotelnicka, Alfred Nossigs Dramen: Identitätsprojektionen und biographische Bezüge, Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen, Bonn 2011: DAAD, S. 125-152; eadem, Alfred Nossig (1864-1943). Eine polnisch-deutsche jüdische Biographie, in: Sieghild Bogumil-Notz et al., Erinnern für die Zukunft: Griechenland, Polen und Deutschland im Gespräch, Münster 2016: LIT.
21 Hugh Raffles, Insectopedia, New York 2010: Vintage Books.
22 Michael Zylberberg, The Trial of Alfred Nossig: Traitor or Victim, Wiener Library Bulletin 23, 1969, 41-45; Shmuel Almog, Alfred Nossig – a reappraisal, Studies in Zionism 7, 1983, 1-29; Iwona Kotelnicka, Alfred Nossig (1864-19843). Eine polnisch-deutsche jüdische Biographie, in: Sieghild Bogumil-Notz et al., Erinnern für die Zukunft: Griechenland, Polen und Deutschland im Gespräch, Münster 2016: LIT.
23 Michael Studemund-Halévy, The Marketing of a Life: The Young Turk and Zionist Santo Bey de Semo (1878-1950) and his Drama ‘Don Isaac’, Barcelona 2021: Tirocinio.

Alle Abbildungen: Privatbesitz, mit freundlicher Gemehmigung: 
M. Halévy.