Es ist nun fast genau ein Jahr her, dass diese Fünf-Zeilen-Meldung, mehr als Kuriosum denn als wichtige Ergänzung zur Zeitgeschichte, rund um den Jahreswechsel 2020/21 in den internationalen Medien stand: Ein Wiener, der vor Jahrzehnten nach Frankreich geheiratet hatte, vermachte einer Ortschaft in den Bergen sein Vermögen.
Das beschenkte 2.500-Einwohner-Dorf im Massif Central, auf einem Hochplateau auf 960m im Süden Frankreichs, heisst Le Chambon sur Lignon in der Haute Loire. Wer es auf der Landkarte sucht, findet es nahe (südwestlich) von Lyon und St. Etienne, noch näher bei Le Puy-en-Velay.
Die Lebensgeschichten des posthumen Spenders und des malerischen Dorfes treffen während des Zweiten Weltkriegs aufeinander, nachdem Hitler die lückenlose Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen ins Programm genommen hatte und das Ehepaar Oskar und Malcie Schwam mit Söhnchen Erich aus Österreich flüchten musste. Und (um es unzulässig kurz zu machen) nach Le Chambon sur Lignon kam.
In der kleinen calvinistischen Gemeinde (in Österreich heisst das „evangelisch H.B.“), wozu auch umliegende Dörfer des Plateaus gehören, war es dem pazifistischen Pastor André Trocmé (7.4.1901 St. Quentin–5.6.1971 Genf) gelungen, der Bevölkerung klar zu machen, dass die aus Deutschland einmarschierten Menschenjagden und Mordmaschinen hier nicht funktionieren dürften. Und zwar im Namen des Glaubens und der Menschlichkeit, und auch, weil es hier noch Höhlen gibt, in denen sich die Vorfahren der Einwohner, verfolgte Hugenotten, geheim zu G‘ttesdiensten trafen. Für die tiefreligiöse Bevölkerung dürfte es auch eine Rolle gespielt haben, dass es sich bei den meisten Hilfesuchenden hauptsächlich um Angehörige des „von G‘tt auserwählten Volkes“ gehandelt hatte. Die Parole war: „Ici, on a aimé les Juifs“, hier liebt man die Juden! Womit Pastor Trocmé, seine Frau Magda Trocmé und deren Familie und die gesamte Bevölkerung des ganzen Hochplateaus unglaubliche ethische Geschichte geschrieben haben.
Eigentlich war in Südfrankreich die CIMADE für die Rettung von Flüchtlingen zuständig. Das war eine Organisation mit klaren Zielen und präzisem Aufbau. Madeleine Barot und andere Frauen waren die Gründerinnen. Ihr Ziel war, die Leute über alle Hindernisse und Entfernungen in die sichere Schweiz zu bringen. Was hingegen in Chambon passierte, funktionierte ohne eigentliche Organisation. Es funktionierte einfach. Magda Trocmé gab später zur Antwort, warum die Bürger der Kleinstadt so hilfreich waren: „Wissen sie, was? Die Rettung von Flüchtlingen war ein Hobby für die Leute von Chambon! O ja! Es war ein Hobby in Le Chambon!“1 Wahrscheinlich wäre „Leidenschaft“, „Herzensangelegenheit“ die bessere Übersetzung. Es war nicht deren Profession. Sie machten es freiwillig, ohne Belohnung, weil es richtig war und den Bürgern Genugtuung gegenüber den Boches war.
Unter den tausenden jüdischen Emigranten, die nach oder durch Frankreich geflohen waren, teils in der Hoffnung, dort ein Hochseeschiff besteigen zu können, war das Wunder von Le Chambon bald bekannt und Nahziel, um zum Beispiel so in die neutrale Schweiz zu gelangen.
Alle Bürger von Chambon hatten nahezu ausnahmslos Flüchtlinge, oft ganze Familien, freundlich aufgenommen. Da gab es ein ausgeklügeltes Netzwerk der Menschlichkeit. Jeder Bürger im Dorf erfüllte seine Funktion. Gesprochen wurde darüber fast nie. Nicht einmal unter Nachbarn.
Einer wusste immer, wer mit wem zusammen passt, andere führten die Verängstigten durch den Wald zu den Bauernhöfen, zu Schulen oder Kinderheimen, wo sie bleiben konnten. Meist war es Trocmé selbst, der falsche Papiere besorgt hat. Einer warnte vor Gendarmerie oder deutschen Soldaten. Wieder andere führten Gruppen in die neutrale Schweiz (wo es auch vorgekommen ist, dass die Schweizer Grenzer die Flüchtlinge zurück an die Deutschen auslieferten). Wenn sie Juden über die 300 Kilometer zur Schweiz eskortiert hatten, machten sie das im Bewusstsein, dass sie denselben Weg gingen, auf dem schon ihre hugenottischen Vorfahren geflohen waren.
Ein damals 15jähriges Mädchen hatte die Aufgabe, zu wissen wo Platz war, um ankommende Flüchtlinge zu verstecken. Magda Trocmé schreibt darüber später:
„An dieser Stelle muss ich Ihnen von Simone Maireasse erzählen […]. Statt zu verzweifeln und in Untätigkeit zu verfallen, begann Simone gegen die Deutschen zu arbeiten und den Juden zu helfen. Sie hat uns unendlich geholfen. Jede Woche kam sie mit ihrer Schwester zum Nähen und Flicken. In der übrigen Zeit suchte sie in den Bergen Unterkünfte für Juden. Auch für die jüdischen Kinder hat sie viel getan, und zwar über eine Organisation in Marseille. Wir baten sie, Unterkunft für die eintreffenden Flüchtlinge zu finden.“2
Der amerikanische Ethik-Professor Philip Hallie versucht in seinen Recherchen zu schildern, wie dieses Nicht-System lange funktionieren konnte:
„Wenn ein Flüchtling an ihre Tür klopfte und sie wie Magda Trocmé sagten: »Natürlich, kommen Sie herein, nur herein«, dann schufen sie dadurch noch keine Organisation oder wurden Teil einer bestehenden. Und wenn die Flüchtlinge in immer grösserer Zahl kamen, wenn der Ein-Uhr-Zug jeden Mittag voller war und sie sich wie ein Tropfen Öl auf einer Wasseroberfläche ausbreiteten, waren die Leute von Le Chambon doch immer noch keine professionellen Flüchtlingshelfer, sondern Einzelpersonen, die Fremde von draussen ins Innere ihrer Häuser aufnahmen. Ihr alltäglicher Beruf war vielleicht der eines Schreiners oder der eines Malers, einer Hausfrau oder der eines Bauern, aber nicht der eines »Lebensretters«. Trocmés Entschluss, aus den von Hilfsorganisationen unterstützten Häusern Zufluchtsstätten zu machen, war nur ein Teil von dem, was in Le Chambon geschah. Schon vor diesem Entschluss waren Flüchtlinge im Dorf untergebracht, und danach fanden sich noch viele weitere Möglichkeiten, diesen Menschen zu helfen: Pensionen, Bauernhäuser, Privathäuser im Dorf selbst und die Unterkünfte der Cevenol-Schule. Le Chambon wurde zur Freistadt, nicht nach einem vorprogrammierten Plan, nicht durch den Entschluss Trocmés oder irgendeiner anderen Person, sondern nur durch die Tatsache, dass nach Magda Trocmés erstem Zusammentreffen mit Flüchtlingen kein Bewohner von Le Chambon mehr irgendeinem Flüchtling die Türe wies oder ihn gar bei der Behörde denunzierte oder verriet. Ausser dem harten Leben während der Besatzungszeit nahmen sie dann auch noch die ständig wachsende Gefahr und den immer grösser werdenden Hunger auf sich. Es war kein einmaliger Entschluss, Le Chambon zu einer Zufluchtsstätte, der sichersten von Europa, zu machen, sondern jene Haltung, die die Franzosen toujours prêt, toujours prêt à rendre service nennen (immer bereit, immer bereit zu helfen).
In dieser Hinsicht ist das Bild einer Zielscheibe, mit dessen Hilfe wir die Rettungsaktionen von Le Chambon besser darzustellen hofften, nicht ganz zutreffend. Die Inspiration und die Führung kamen gewiss vom Pfarrhaus und von der Kirche, die Entwicklung des Dorfes zu einer Zufluchtsstätte aber erfolgte nicht aufgrund einer zentralisierten Planung, sondern blieb weitgehend sich selbst überlassen. In der damaligen Wirklichkeit waren die einzelnen Gruppen des Dorfes keineswegs so auf eine Mitte ausgerichtet, wie es bei den Ringen eine Zielscheibe zwangsläufig der Fall ist. Schliesslich wirkte in Le Chambon jedes Privathaus, jede Pension, jedes durch Geldmittel unterstützte Heim einfach nach eigenem Ermessen mit. Man kann die Rettungsaktionen von Le Chambon nicht verstehen, wenn man davon ausgeht, dass das Dorf eine Organisation mit gut zusammenarbeitenden Teilen gewesen sei. Verstehen kann man sie nur, wenn man sich vor Augen führt, wie besonnen die Rettungsaktionen ins Werk gesetzt wurden – besonnen in dem Sinne, dass sie einzeln, unkoordiniert stattfanden, und in dem Sinne, dass sie mit grösster Verschwiegenheit, ja Vorsicht durchgeführt wurden. Erstaunlicherweise gab es unter denjenigen, die Flüchtlinge in ihr Haus aufnahmen, keinerlei »Klatschbasen« oder Leute, die zu viel Worte darüber verloren hätten, oder Angsthasen – wenigstens habe ich nichts davon gehört. Magda Trocmé mit ihrer kraftvollen, raschen Art zu sprechen und ihrem umfassenden Wissen um alles, was in den Häusern von Le Chambon geschah (niemand wusste mehr davon, ausser vielleicht ihr Mann), bewahrte während der Besatzungszeit absolutes Stillschweigen über diese Aktionen. Ein Bewohner von Le Chambon sagte einmal zu mir: »Mit Schwätzern hätte man keine Flüchtlingsstadt schaffen können.« Die Leute von Le Chambon schwiegen über ihre »Nebenbeschäftigung«.
Einmal war es beispielsweise vorgekommen, dass Madame Marion, die eine Mädchenpension hatte, plötzlich in einem Raum des Nachbarhauses Licht brennen sah, der seit Monaten leer stand. Ha, dachte sie, ich werde mir mit Madame Russier (oder war es ein anderer Name von Le Chambon?) einen kleinen Scherz erlauben; ich werde sie fragen, wer da ist. Als sie sie bald darauf einmal traf, fragte sie Madame Russier, ob sie vielleicht Verwandtenbesuch bekommen hätte. Diese antwortete dann mit einem vielsagenden Lächeln: »Wissen Sie, Madame Marion, ich habe gedacht, ich muss doch das Zimmer ein wenig aufräumen und die kühle Abendluft hereinlassen ... « Und so wussten beide, obwohl keine es aussprach, dass wieder ein Flüchtling oder eine Flüchtlingsfamilie nach Le Chambon gekommen war.
Nun sind die Franzosen, besonders in den Dörfern, gern für sich allein; deshalb schliessen sie, wie auch Laurence Wylie in seinem Buch »Dorf in der Vaucluse« zeigt, abends ihre Fensterläden. Während der Besatzungszeit jedoch war Zurückhaltung nicht nur eine Gewohnheit, sondern eine Notwendigkeit. Möglichst wenig Leute sollten erfahren, wo ein Flüchtling oder eine Flüchtlingsfamilie untergebracht war; denn je mehr zusätzliche Mitwisser es gab, desto wahrscheinlicher war es, dass eine unbedachte Äusserung oder eine Bewegung eine Verhaftung und Deportation auslösen konnte, und desto wahrscheinlicher war es auch, dass die Behörden durch strenge Vernehmungen jemanden dazu bringen würden, Aussagen über andere zu machen, die diesen zum Verderben würde.“3
Aus dem Fotoalbum der Familie Mautner: Roussiers Tankstelle. Roussier war der Taufpate von Félix Mautner. Mit freundlicher Genehmigung: F. Mautner.
1942 bis 1943 war Albert Camus etwa ein Jahr lang nahe bei Le Chambon. Dort hat er Das Missverständnis verfasst und begann Die Pest zu schreiben, worin in Teilen die Ereignisse von Le Chambon eingearbeitet sind. In Chambon waren zu dieser Zeit natürlich auch Flüchtlinge aus Wien wie die Hamkers, die die Pension Les Heures Claires von Pasteur Poivre übernommen hatten. Und das künstlerische Talent Hilde Höfert, ursprünglich Schweizerin, die Kindern in der Schule Deutsch unterrichtet hatte. Und der Maler
Erich Schmid, Kurt Grossman, Josef Wolf. Und die Familie (meine Familie) des 38jährigen Arztes Dr. Walter Mautner (Praxis und Wohnung in Meidling) mit der Frau Grete, Büropraktikantin bei der Firma Vereinigte Pelzindustrie-Gesellschaft in der Rotenturmstrasse 23, wo ihr Vater, Egmont Rosenberger, Prokurist war (im damaligen Bekleidungs- und Textilviertel) und dem Buben Egon (der eine Woche vor dem Einmarsch geboren wurde). Oder eben das Schulkind Erich Schwam mit seinen Eltern. Die ebenfalls aus Wien stammende Künstlerin, Elizabeth Koenig-Kaufman, eines der Kinder, das hier überleben durfte und nach dem Krieg in die U.S.A. ausgewandert war, schilderte die Stimmung später so: „Nobody asked who was Jewish and who was not. Nobody asked where you were from. Nobody asked who your father was or if you could pay. They just accepted each of us, taking us in with warmth, sheltering children, often without their parents—children who cried in the night from nightmares.”4
Und der spätere bildende Künstler Kurt Conrad Loew. Er war im „La Maison des Roches“ untergebracht. Um aus dessen Geschichte zu berichten, sollte zuerst jene von
Daniel Trocmé berichtet werden. Und zwar, wie Yad Vashem sie erzählt:
„Daniel Trocmé, war der Neffe des Pastor Trocmé. Er lehrte Physik, Chemie und andere Naturwissenschaften in Les Roches, einem alt-angesehenen protestantischen Internat in Verneuil, im Département Eure. 1941 bat ihn sein Onkel, Pastor André Trocmé, Direktor von Les Grillons, einem Internat für jüdische Flüchtlingskinder zu werden, das vom American Friends Service Committee (den Quäkern) in Chambon-sur-Lignon eingerichtet worden war. Trotz seines entschlossen und streng wirkenden Äusseren hatte er überragende menschliche Qualitäten. Jonathan Gali, der im Alter von sechzehn Jahren in Les Grillons Zuflucht und Arbeit fand, erinnert sich an eine faszinierende, hochkultivierte Persönlichkeit. „Daniel Trocmé dachte nie an sich selbst. Er war äusserst gewissenhaft. Nachts konnte es geschehen, dass man den Direktor bei schwacher Nachtbeleuchtung Kinderschuhe mit Stücken von Gummireifen reparieren sah.“ Im Winter kochte Trocmé morgens in einem grossen Metallkessel Suppe. Obwohl er herzkrank war, lud er die Suppe für das Mittagessen der Schüler auf einen Schubkarren und schob ihn zwei Kilometer über eine steile Strecke. Zur Schlafenszeit las Trocmé den Kindern Geschichten vor, die er dann ausführlich mit ihnen besprach.
Bahnhof Le Chambon-Mazet, ca. 1910. Quelle: Jean Arrivetz, Pascal Bejui: Les Chemins de Fer du Vivarais. Presses et Editions Ferroviaires, Grenoble 1986, ISBN 2-905447-04-4, S. 29, Wikimedia commons, gemeinfrei, link: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bahnhof_Le_Chambon_-_Mazet.JPG
Nach einigen Monaten wurde Daniel Trocmé angeboten, die Stelle als Direktor der zum Kinderheim La Maison des Roches gehörigen Schule zu übernehmen. Dort setzte er seine Rettungsaktivitäten fort. Am 29. Juni 1943 durchsuchte die Gestapo die Schule nach jüdischen Schülern und nach dem Direktor. Trocmé war nicht auf dem Gelände, da er die Nacht in Les Grillons verbracht hatte. Obwohl er hätte fliehen können, entschied er sich zurückzukehren und sich mit seinen Schülern zusammenzutun. Bedroht von deutschen Maschinengewehren, wurden Trocmé und achtzehn seiner Schüler in Moulin gefangengesetzt. Auch während der Haft demonstrierte Trocmé Mut und Entschlossenheit und machte den mit ihm inhaftierten Schülern Mut. Trocmé wurde zum Verhör ins Gestapo-Hauptquartier in Moulin gebracht. Als man ihn beschuldigte, einen sechzehnjährigen Juden beschützt zu haben, erklärte er, er täte nichts anderes, als die Unterdrückten zu beschützen. Im August 1943 schickte man Trocmé ins Internierungslager Compiègne. Von dort aus wurde er ins Lager Dora und dann nach Majdanek deportiert. Im April 1944 starb Trocmé in der Gaskammer von Majdanek. Er war erst vierundreissig Jahre alt.“5
1942 hatte Daniel Trocmé (1910–1944, Gerechter unter den Völkern) im „La Maison des Roches“ einmal den Leiter des Heimes vertreten, bei Übersetzungen geholfen und dabei einen Buben, warum auch immer, aufs Dach geschickt. Das hat dem Kind das Leben gerettet. Es musste nämlich vom Dach aus unentdeckt beobachten, wie ein weisses Lastauto ankam und die Kinder aus dem Heim verladen und deportiert hatte. Er war der Meinung, als einziger überlebt zu haben. Bis er 1963 nochmals nach Chambon reiste und dort in einer Strasse Kurt Conrad Loew malen sah. Die Verwunderung und Freude war natürlich entsprechend gross. Loew konnte aufklären, dass er an diesem Tag der Deportation nicht im Heim war. Er war bei einem Mädchen. So konnte auch er überleben.
Eine ähnliche Geschichte wird so erzählt: Im gefährlich nahen Le Puy en Velay herrschte der deutsche Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der durch seine grausamen Verhörmethoden während des Zweiten Weltkriegs Berühmtheit als Schlächter von Lyon erlangt hatte. Eines der Kinderheime, ein grosses, so wird erzählt, wurde immer wieder, so hiess es, telefonisch und anonym aus Le Puy gewarnt, wenn die Deutschen in der Nacht kommen wollten, um die Kinder abzuholen – was deren sicheren Tod bedeutet hätte. Das hat eine Weile ganz gut funktioniert. Wer der anonyme Menschenfreund war, wusste niemand. Aber die Kinder liebten diese Nächte, weil spontan eine Nachtwanderung ins Programm genommen wurde. Ohne um die Gefahr zu wissen. Einmal hatte dort ein Sechzehnjähriger eine Nacht bei einem französischen Mädchen verbracht. Als er im Morgengrauen ins Heim zurückkam, war keines der Kinder mehr da. Sie waren in der Nacht von Deutschen abgeholt worden. Diesmal hatte niemand gewarnt.
Der französische Pastor André Trocmé (1901-1971), Gerechter unter den Völkern, ca. 1941. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pasteur_André_Trocmé.jp
Gedenktafel an der Schule von Le Chambon, initiiert von den geretteten Kindern. Foto: Pensées de Pascal, 2007. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Plaque_commémorative_du_sauvetage_des_juifs_au_Chambon_sur_Lignon.JPG
Eine Zeit lang, bis vor wenigen Jahren, sind immer wieder ehemalige Kinder aus diesen Kinderheimen, die den Wahnsinn überlebt haben, nun selbst Eltern und Grosseltern, aus der ganzen Welt in Chambon zusammen gekommen, um dem Ort und den Menschen ihrer Rettung zu danken. Und um sich nochmals zu sehen. Bei einem solchen Treffen war einmal auch jenes Ehepaar dabei, das dieses Kinderheim geleitet hatte. Das waren zwei Deutsche, der Mann war dort der wirtschaftliche Leiter und die Frau für die Küche zuständig. Nach dem Krieg sind die zwei in Paris geblieben. Ich hatte ihm davon erzählt, dass ich in der Buchhandlung am Place du Marché das Buch des amerikanischen Ethik-Professors Philip Hallie gekauft hatte, das Chambon als ethische Besonderheit während des Weltkriegs beschrieben hatte. Von diesem gibt es dort eine deutsche Übersetzung, was mir sehr zupass kam. Das wollte er sich auch sofort besorgen. Tags darauf traf ich ihn wieder auf der Strasse und er kam mir ganz aufgeregt gestikulierend entgegen: Welche Frechheit das sei, hier werde behauptet, der wirtschaftliche Leiter des Kinderheimes hätte die Kinder an die Besatzer in Le Puy verraten. Das war ja er! Er werde Verlag und Autor klagen. Und so weiter. Ich habe das Buch später fertiggelesen. Aber diese Behauptung steht da nirgends.
Es waren vor allem Scharen jüdischer Kinder, die in Heimen betreut wurden, manche von schweizerischen Stiftungen oder Quäkern finanziert. Die Nazis scheuten keine Mühen, gezielt kleine Kinder aufzuspüren beziehungsweise zu jagen, um sie zu ermorden. 1940-44 war es das Régime de Vichy, das die Ziele der Nazis vielfach gnadenloser umsetzte als die Besatzer selbst, dann waren es die nachrückenden deutschen Soldaten, die die motivierten Einwohner beharrlich „auszutricksen“ hatten. Das bis heute Erstaunliche war, dass es den Nationalsozialisten nicht verborgen geblieben sein kann, dass hier nach und nach gut 5.000 Menschen versteckt worden waren. Wenn jemand angehalten und gefragt wurde, was an sich schon gefährlich war, wo da Juden versteckt würden, so antworteten die Leute meist „Juden? Kenn ich nicht! Was ist das? Nie gesehen!“ oder ähnlich. Diese Idylle hielt nicht bis zur Befreiung. Wie überall, wo die Braunen Stiefel auftraten, mussten auch mutige Bürger dieses Städtchens ihr Leben für ihre Hilfsleistungen opfern. Ihre Schicksale sind aufgezeichnet. Im Oktober 1990 hat in Chambon ein kompetent besetztes Colloque „Le Plateau Vivarais-Lignon Accueil et Résistance 1939-1944“ stattgefunden, veranstaltet von der „Commune du Chambon-Sur-Lignon“, der „Societe d’Hosetoire de la Montagne“ und der „Eglises Reformees du Plateau“. Zweck der Konferenz war es, die Geschehnisse um Le Chambon aufzuarbeiten, das Phänomen zu erklären, vor allem der Frage nachzugehen, wie ausgerechnet hier am Hochplateau so viel Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, entgegen dem auch in Frankreich existenten Antisemitismus, möglich waren. Die Beiträge sind in einer 700-Seiten-Dokumentation gesammelt. Am 31. März 2020 hat die Europäische Kommission bekannt gegeben, dass dem „Chambon-sur-Lignon Memorial“ das Europäische Kulturerbe-Siegel zuerkannt wurde, weil es in der Geschichte und Kultur Europas eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Noch-Überlebenden müssen jetzt mindestens achtzig, eher neunzig Jahre alt sein.
Teil II dieses Beitrags erscheint in der kommenden Ausgabe, DAVID, Heft 132, Pessach 5782/April 2022.
Nachlese
Sabine Zeitoun: „Ces enfants qu’il fallait sauver“ Albin Michel
Philip Hallie: „… Dass nicht unschuldig Blut vergossen werde. Die Geschichte des Dorfes Le Chambon und wie dort Gutes geschah“, Neukirchener/amerikanische Originalausgabe: „LET INNOCENT BLOOD BE SHED“, New York 1979
Philippe Boegner: „Ici, on a aimé les Juifs. Le Chambon-sur-Lignon“, Édition J.C. Lattès
Gérard Bollon: „Le Chambon sur-Lignon d’hier et d’aujourd’hui“, Editions Dolmazon
Carol Matas: „Une lumière dans la nui. Les enfants du Chambon“, Le LIVRE de POCH
Hanna Schott: „Von Liebe und Widerstand. Das Leben von Magda & André Trocmé“, Neufeld Verlag
Allison Stark Draper: „Pastor André Trocmé“, Rosen
Pierre Boismorand: „Magda et André Trocmé, figures de résistance“, Éditions du Cerf
Patrick Cabanel: „De la paix aux résistances. Les protestants français de 1930 à 1945“, Fayard
Magda und André Trocmé: „So kam es, dass wir in den Untergrund gingen. Berichte aus Frankreich. 1940/41“ in Margot Kässmann: „Gott will Taten sehen. Christlicher Widerstand gegen Hitler“, C.H.Beck, Seite 226-236
André Trocmé: „Jesus and the Nonviolent Revolution“, Scottdale, 1973
Emile C. Fabre: „God’s Underground“, Saint Louis, 1970
Peter Feigl: https://www.youtube.com/watch?v=sn6leBNF7ok
Anmerkungen
1 vgl. Philip Hallie, S. 203.
2 vgl. Margot Käßmann: Gott will Taten sehen. Christlicher Widerstand gehen Hitler, S. 231f.
3 vgl. Philip Hallie, S. 204ff.
4 vgl. aus seiner Dokumentation des United States Holocaust Memorial Museums, Washington, D.C.
5 vgl. https://www.yadvashem.org/de/righteous/stories/trocme.html