Ausgabe

Vom Bahnhof in Meran, ist es zum Friedhof nicht weit

Joachim Innerhofer

Der jüdische Friedhof von Meran wird seit 1908 benützt. Anhand einiger Beispiele werden Biographien verstorbener Juden nacherzählt.

Inhalt

„An Deiner Seite kauft ich mir dies Stückchen Erde, wo ich zur letzten Ruh gebettet werde damit ins Ohr Dir leis ich flüstern kann, wie sehr ich Dich geliebt, Du guter braver Mann“, so die innige Inschrift auf dem Grabstein Alexander Österreichers, des ersten Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Meran, nachdem diese am 9. November 1921 von Italien als Kultusgemeinde staatlich anerkannt worden war. Bedauerlicherweise wurde Maria Nagl-Österreicher nie an seiner Seite begraben. Man wisse nicht, wo sie begraben liege, heisst es in der jüdischen Gemeinde. Alexander Österreicher wurde am 2. Juli 1857 in Wien geboren und führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Grand Hotel Pupp in Karlsbad. Wahrscheinlich fand er nach dem Weltkrieg den Weg nach Meran, wo er sich in der jüdischen Gemeinde engagierte. Bis zum Jahr 1921 versammelten sich Juden und Jüdinnen in Meran in der „Königswarter-Stiftung“, zumal die (bis 1918) zuständigen Behörden in Wien den Meranern die Gründung einer Kultusgemeinde verweigert hatten. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass es für die Länder Tirol und Vorarlberg bereits eine Gemeinde gab, nämlich in Hohenems. Meran durfte lediglich eigene Matriken für Geburten und Todesfälle führen. Alexander Österreicher stand der Meraner Kultusgemeinde nur wenige Jahre als Präsident vor. Er verstarb einen Tag nach seinem 66. Geburtstag, am 3. Juli 1923, und wurde am jüdischen Friedhof begraben.

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Grabmal Bermann, jüdischer Friedhof Meran
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Grabmal Alexander Österreicher, jüdischer Friedhof Meran.
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Grabmal Raphael Hausmann, jüdischer 
Friedhof Meran.
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Grabmal der Familie Samuely,
 jüdischer Friedhof Meran.
 

Wenige Persönlichkeiten erhielten ein Ehrengrab auf dem jüdischen Friedhof in Meran: Einer davon ist der über die Grenzen hin-
aus und bei Christen wie bei Juden beliebte und geschätzte Arzt Raphael Hausmann. Es war vor allem Hausmann, der um 1875 in Meran lebende und verweilende Juden dazu anregte, wenn schon nicht eine Kultusgemeinde, so wenigstens eine Stiftung ins Leben zu rufen, um jüdische Anliegen nach aussen hin zu vertreten. Um die Jahrhundertwende lebten rund eintausend Juden in der Stadt. Der am 7. Mai 1837 in Breslau geborene spätere Kurarzt und Königlich Preussische Sanitätsrat Raphael Hausmann ist ein Beispiel für den progressiven, gesellschaftlichen Einsatz jüdischer Ärzte in Meran. Er gilt als Gründer der „Königswarter Stiftung“ in Meran, der Vorläuferin der jüdischen Gemeinde. Seine Publikationen über die Meraner Traubenkur trugen wesentlich zum internationalen Ansehen des Kurorts bei. Hausmann starb am 17. Juni 1912 an Herzlähmung, so der Befund. 

Der jüdische Friedhof ist seit 1908 in Verwendung. Damals erlebte die jüdische Gemeinde in Meran gerade eine Blütezeit. Der alte jüdische Friedhof nahe der Spitalkirche und des heutigen Hotel Palace musste trotz seiner 670 Bestattungen aus dem Stadtgebiet verlegt werden. Dank grosszügiger Spenden konnte hinter dem Meraner Bahnhof neben dem städtischen Friedhof ein neuer G‘ttesacker angelegt werden. Als Anfang der 1940er Jahre nur mehr wenige Juden in Meran zurückgezogen lebten und unter den faschistischen Rassengesetzen litten, wurde mit der Verlegung der Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs in den neuen, nun aktuellen Friedhof begonnen. Der Grossteil von ihnen ging ab 1941 verloren, da die jüdische Gemeinde das Grundstück unter dem Druck der Rassengesetze an die Stadt Meran verkaufen musste. 

Wie Raphael Hausmann sind unter den ersten in Meran Verstorbenen, die hier beerdigt wurden, auch Richard Jerusalem von Salemfels und seine Frau Johanna (Jenny), geborene von Hofmannsthal, die Cousine des Vaters von Hugo von Hofmannsthal. Jenny und Richard Jerusalem von Salemfels förderten wie die verwandte Prager Grossindustriellen- und Gutsbesitzersfamilie von Dormitzer die jüdische Gemeinde in Meran und unterstützten ausserdem die Verbreitung liberaler Gedanken im konservativen Tirol.

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Jüdischer Friedhof Meran, Ansichten.

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Grabmal Jochvedson, jüdischer Friedhof Meran
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Grabmal Hess, jüdischer Friedhof Meran
 

Viele Mitglieder einer weiteren Familien-Dynastie, der Familie Bermann, liegen im Friedhof begraben. Der Vorfahre Josef Bermann stammte aus Ungarn, emigrierte in den 1870er Jahren nach Meran, wo er eines der ersten koscheren Restaurants führte. Um die Jahrhundertwende kaufte er das Hotel Bellaria und baute es zu einem exklusiven Hotel mit einem eigenen Betsaal für etwa 300 Betende und einer Mikwe, der ersten der Stadt, aus. Josef Bermann organisierte die Begräbnisbruderschaft und vollzog die „Tahara“, die religiöse Waschung der Leichname in Meran verstorbener jüdischer Kurgäste und ihre Bedeckung mit einem „Tallit“. Josefs Sohn, der Arzt Max Bermann, gründete und führte das Sanatorium Waldpark. Wiederum andere Familienmitglieder führten Pensionen oder waren anderweitig in der Stadt unternehmerisch tätig. Viele sind entlang der nördlichen Friedhofsmauer in Meran beerdigt. Josef Bermann, Sohn von Leopold Bermann und Josefs Enkel, war der letzte Präsident der Meraner jüdischen Gemeinde vor der Shoah, der sich mit grösstem Einsatz um Flüchtlinge aus NS-Deutschland und aus Österreich kümmerte. Mit seiner Familie konnte er sich vor den Nazischergen nach St. Moritz in die Schweiz retten, wo er das Hotel Edelweiss führte. Mit der Flucht aus Südtirol endet die beeindruckende Geschichte der Bermanns in Meran. Josef und seine Frau Sara wurden in Zürich begraben.

Viele Juden, die am jüdischen Friedhof begraben sind, kamen zur Kur nach Meran und starben hier infolge fortgeschrittener Krankheit. Es gibt aber auch Juden, die auf einer Wanderung oder im Gebirge abstürzten: Otto Hess, ein Oberstudienrat aus Kassel, kam öfters zum Bergsteigen nach Meran. 1936 sollte es sein letzter Urlaub in den Bergen sein: Bei der Besteigung des Meraner Hausberges, des Ifinger mit seinen 2.581 Metern, dürfte er in einer steilen Felswand ausgerutscht sein. Erst ein Jahr später, 1937, wurde Otto Hess‘ Leichnam gefunden und am jüdischen Friedhof begraben. Es wird aber auch vermutet, dass Otto Hess freiwillig aus dem Leben geschieden war.
Eigentlich ist es üblich, keine extravaganten Grabsteine für seine Verstorbenen aufzustellen, um jene, die sich prunkvolle, verschwenderische bis hin zu bizarren, grotesken Grabstelen nicht leisten können, nicht in Verlegenheit zu bringen. Am jüdischen Friedhof in Meran scheint dieser Brauch allerdings ausser Kraft gesetzt: Er strotzt nur so von exzentrischen, imponierenden, schrulligen und teilweise skurrilen Grabsteinen. Einer von ihnen ist der Grabstein der Familie Samuely aus Lemberg in seiner Grösse und Wuchtigkeit, ein anderer jener von Boris Jochvedson. Sicher, letzterer hat sich verdient gemacht und das Anliegen der Freunde der Brichah, etwas Stattliches, Beachtenswertes zu seinem Andenken zu schaffen, ist verständlich. Jochvedson wurde am 19. April 1900 wahrscheinlich in Rostov am Don geboren und studierte am Sankt Petersburger Konservatorium. Er begeisterte sich für die Bolschewiki, war aber bald ernüchtert. 1921 flüchtete er nach Prag und Berlin. 1940 floh er weiter nach Jugoslawien und später nach Italien. Durch seine Musik und den Klavierunterricht half er den vor den Nazis geflüchteten und traumatisierten jüdischen Kindern, die in ständiger Unruhe lebten. Jochvedson gab ihnen Halt, besänftige sie und erwies der Brichah, der jüdischen Fluchtorganisation, auf diese Weise grosse Dienste. Er starb in Meran im Alter von nur 48 Jahren.
Ein Anziehungspunkt der besonderen Art ist das Grabmal von Arik Jerucham Fischl aus Grzymałów in der Ukraine. Vor allem Chassidim aus aller Welt, besonders aber Fromme der Schiffgasse in Wien, suchen dieses Grab jährlich zu 
Fischls Todestag auf. Fischl war ein hochverehrter und weit über die damaligen Grenzen hinaus bekannter Talmudgelehrter, ein Gaon also, der sich öfters in Meran aufhielt. Ob er jedes Mal zur Kur gekommen ist oder die Reise aus anderweitigen Gründen antrat, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Während eines Aufenthaltes im Kurort starb er am 27. November 1927, am 3. Kislev 5688 laut jüdischem Kalender.

Den jüdischen Friedhof in Meran wählte der Schriftsteller Joseph Wechsberg als letzte Ruhestätte. Wechsberg wurde 1907 in Mährisch-Ostrau (heute Ostrava, Tschechische Republik) geboren und kam 1913 mit seiner Mutter nach Meran,
um sich von einer Lungenentzündung zu erholen. Meran hatte es ihm angetan: er kam immer wieder hierher zurück. Wechsberg war unter anderem mit Felix Weltsch, Hugo Salus und Hugo Bergmann ebenso wie mit Max Brod und Franz Kafka befreundet und publizierte mit ihnen im „Prager Tagblatt“. Im Herbst 1938 wurde Joseph Wechsberg von der tschechoslowakischen Regierung als Experte des Sudetenproblems zu einem dreimonatigen Aufenthalt in die U.S.A. entsandt. Nachdem während der Überfahrt das Münchner Abkommen unterzeichnet worden war, beantragten Joseph und Anna Wechsberg in Montreal ein Visum für die U.S.A. 1951 kehrte er nach Wien zurück, wo er in den 1920er Jahren Musik und Welthandel studiert hatte. Mit seiner Lebensgefährtin fuhr Wechsberg nun immer wieder nach Meran und verbrachte hier auch längere Aufenthalte. In Meran wurde seine Tochter Poppy geboren und in Meran besann er sich auf seine jüdischen Wurzeln. In der biographischen Darstellung „Die Manschettenknöpfe meines Vaters“ schreibt Joseph Wechsberg: „Meran ist einer der wenigen Plätze auf der Erde, wo ich im Reinen mit mir bin“. Wechsberg schreibt ferner, vielleicht mit einer leisen Vorahnung: 
„Vom Bahnhof in Meran, auf dem ich gewöhnlich ankomme, ist es zum Friedhof nicht weit. (…) Schon immer liebte ich Züge und Bäume, Weingärten und Berge. Wenn ich für immer auf dem Friedhof sein werde, werde ich das alles haben. Eine angenehme Erwartung für einen Mann, dessen Vater in einem namenlosen Massengrab beerdigt ist und dessen Mutter überhaupt kein Grab hat.“ 

Der von Wechsberg selbst entworfene Grabstein bildet ein pyramidenförmiges Dreieck. Woher diese Idee stammt und warum Wechsberg diese Form seines Grabsteines wünschte, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Die Wiener Pharmazeutin und Kunstkennerin Christine K. hat allerdings eine Vermutung: Möglicherweise war Joseph Wechsberg fasziniert vom Grabstein der Industriellenfamilie Knips am Hietzinger Friedhof in Wien. Auch dieser Grabstein weist eine Pyramidenform auf. 
Im Jahr 1929 zog Josephs Cousine Marta Gold mit ihrem Mann Franz Koll von Mährisch-Ostrau nach Meran, wo letzterer die städtische Nachtwache leitete und Marta Gold in der Ifingerstrasse 6 in Meran-Obermais die Villa Praderhof führte, die unter dem Druck faschistischer Behörden bald in „Pensione Carlo Coldoni“ umbenannt wurde. 1939 musste sie geschlossen werden. Marta Gold wurde 1949 im jüdischen Friedhof in Meran begraben, Joseph Wechsberg im April 1983.

Alle Fotos: J. Innerhofer, mit freundlicher Genehmigung.