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Ein Leserbrief und seine Folgen Ein Pogrom in St. Gallen im Jahre 1883

Fabian Brändle

Wer an antijüdische Pogrome in der Moderne denkt, denkt wohl zuerst an Russland und Polen, in zweiter Linie an das Deutsche Reich mit seinen „Hep-Hep“ Unruhen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber auch die Schweiz des 19. Jahrhunderts kannte antisemitische Manifestationen, so mehrmals im Kanton Aargau und im Jahre 1883 auch in der Stadt St. Gallen. 

Inhalt

Diese Pogrome sind leider noch nicht so gut erforscht, passen sie doch nicht gut zum liberalen Selbstbild der modernen Eidgenossenschaft. Die Judenemanzipation war indessen relativ spät und oft gegen den Widerstand der einheimischen Bevölkerung erfolgt. In der Stadt St. Gallen war es ein auf den ersten Blick relativ harmloser Leserbrief eines deutsch-jüdischen Unternehmers, der dort für gehörige Unruhe sorgte. 

Louis Bamberger, der seit kurzem ein Abzahlungsgeschäft in guter Lage betrieb, äusserte sich im „St. Galler Stadt-Anzeiger“ vom 6. Juni 1883 über die schweizerische Landesausstellung in Zürich, teils durchaus lobend, teils mit paternalistischer Kritik, mit der er den Nationalstolz vieler Schweizerinnen und Schweizer verletzte. Im spöttisch-schnoddrigen Ton führte Louis Bamberger zudem die geistig-kulturelle Überlegenheit des nördlichen Nachbarn Deutschland ins Feld, was seitens der Leserschaft ebenfalls ganz und gar nicht goutiert wurde. So antwortete ein „W.S.“ am 16. Juni 1883 im „Tagblatt der Stadt St. Gallen“ drohend und verwies mehrfach auf das Jüdischsein Louis Bambergers. Der anonym gebliebene Leserbriefschreiber wies auch recht unverblümt darauf hin, dass es ihn überhaupt nicht verwundern würde, wenn die einheimische St. Galler Bevölkerung mit physischer Gewalt auf den Brief Bambergers reagieren würde, mit Gewalt also, wie sie aus Osteuropa bekannt sei. 

Tatsächlich kam es zwei Tage später, am Montagabend, dem 18. Juni 1883, in Reaktion auf Louis Bambergers Artikel zu einem Auflauf vor dessen Wohn- und Geschäftshaus (Tigerhof) in der Innenstadt. Eine Menge Unzufriedener demonstrierte mit einer Katzenmusik („Charivari“) mit Trommeln, Pfeifen, Geigen, Gitarren etc. Charivaris waren bereits in der Vormoderne bekannte Mittel der Unmutsäusserung, eigentliche Rügerituale, nicht nur im antisemitischen Sinne. Im frühneuzeitlichen Dorf wurden beispielsweise nicht standesgemässe Ehen von der Dorfjugend mit einer Katzenmusik sanktioniert, die den fehlbaren Ehemann demütigen sollte. 

Zu den antijüdisch gesinnten „Musikern“ gesellten sich alsbald rund dreihundert Schaulustige. Die Stimmung wurde immer gereizter, so dass schliesslich ein Jugendlicher das Firmenschild der jungen Firma Bamberger hinunterriss. Die Zahl der Tumultantinnen und Tumultanten soll auf 500, später sogar auf rund 2.000 Personen angewachsen sein. Die Fenster des Tigerhofes wurden mit Steinen eingeworfen, so dass nun endlich die Polizei einschritt und einige wenige Schuldige festnahm. Die Menge forderte daraufhin die Freilassung der Inhaftierten, und ein Metzgergeselle traktierte einen Polizisten heftig. Der Ordnungshüter wurde dabei verletzt.

Am Tag darauf riefen die Behörden zu Ruhe und Ordnung auf, auch schriftlich, äusserten sich indessen auch kritisch zu Louis Bamberger. Die zaghafte Intervention der Behörden nützte insofern nichts, als sich tags darauf wiederum eine grosse Menschenmenge vor dem Geschäftshaus Bambergers, dem Tigerhof, versammelte. Es sollen mehrere tausend Personen gewesen sein, die wiederum lärmten und Steine schmissen. Erst nachdem die St. Galler Regierung ein an sich unerfahrenes, aber sich in der Not bewährendes Rekrutenbataillon aus der Landschaft aufgeboten hatte, kehrte zumindest an der Oberfläche wieder Ruhe ein.

Der vielleicht etwas unglücklich formulierte Leserbrief Louis Bambergers mag der Auslöser für das St. Galler Pogrom gewesen sein. Die wahren Ursachen dafür sind indessen anders gelagert. Die Judenemanzipation in der Schweiz erfolgte relativ spät und oftmals gegen den Willen der Bevölkerung, die dagegen protestierte. Namentlich die katholische Kirche pflegte Judenfeindschaft, nicht nur von der Kanzel herab, sondern auch in ihren zahlreichen Presserzeugnissen, wie der an sich angesehenen Zeitung „Die Ostschweiz“. Die neu gewonnene Gewerbefreiheit provozierte den Neid von Bauern und Handwerkern auch auf dem Land, die in den feindselig beäugten Juden unliebsame Konkurrenten erblickten. "Sozialneid", so meinte bereits der deutsche Historiker Götz Aly, sei ein Hauptmotor für den virulenten Antisemitismus der unteren Schichten gewesen. 

Da die frühen 1880er Jahre wirtschaftlich gesehen nicht nur in der Ostschweiz Krisenjahre waren, verschärften sich wirtschaftliche Konflikte unter Händlern oder Handwerkern. Vor der allgemeinen Gewerbefreiheit waren den Juden nur wenige Berufe wie Viehhändler oder Geldverleiher offen gestanden. Viele Juden packten die neu sich bietenden Chancen und eröffneten kleine Geschäfte oder gingen sogar an die Universität. Dies sahen wiederum Teile der alten Eliten ungerne, denn auch sie witterten Konkurrenz.

Leider wissen wir wenig über die soziale Zusammensetzung der Krawallanten. Waren es vornehmlich Handwerksgesellen, ausländische gar, oder doch einheimische Handwerker und „kleine“ Geschäftsbetreiber, die Fenster einschlugen, lärmten und Parolen skandierten? Vom Metzgergesellen, der einen Polizisten verletzte, war bereits die Rede. War er eher eine Ausnahme, oder waren eher jüngere Gesellen überrepräsentiert? Solche und andere Fragen müsste man meiner Meinung nach zu dem Pogrom, das zum Glück keine Menschenleben forderte, an die Quellen stellen. Es bleibt zu hoffen, dass die historische Forschung, nicht bloss die Lokalgeschichte, sich des unrühmlichen Treibens des Jahres 1883 annehmen wird.

Bergmann, Werner. Tumulte, Excesse, Pogrome. Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789-1900. Göttingen: Wallstein Verlag 2020.