Ausgabe

Der „Berghof“ des Komponisten Ignaz Brüll Zum 175.Geburtstag

Stephan Templ

Vulgo heisst er „Berghof“: ein über dem Attersee gelegenes herrschaftliches Anwesen. Seine heutige Gestalt verdankt er grossteils Eduard Louis Freiherrn von Todesco, dem Spross einer Kaufmannsdynastie aus Pressburg, die sich dort noch Hirschl nannte. Nach dessen Tode erwirbt ihn Eduard Brüll gemeinsam mit den verwandten Familien Schwarz und Strisower.

Inhalt

Die grosse Zeit des Berghofes waren alljährlich die privaten „Sommerfestspiele“, als die Freunde des Gastgebers und Komponisten Ignaz Brüll dort weilten, als es zu Uraufführungen einiger Werke von Gustav Mahler, Johannes Brahms oder Karl Goldmark kam. Hugo von Hofmanns- thal trägt hier zum ersten Mal seinen Rosenkavalier vor, Felix Salten schreibt hier sein Bambi nach dem Studium der Rehe im Kastanienwald von Unterach, der Feuilletonist der Neuen Freien Presse Theodor Herzl und der Begründer des Fischer Verlags Samuel Fischer verbringen ihre Sommermonate hier. Arthur Schnitzler kommt mit dem Fahrrad aus dem nicht so nahe gelegenen Bad Ischl auf Stippvisite. Den Librettisten Victor Léon verschlägt es ebenso hierher, er erbaut sich sogar eine Villa. Es waren private Festspiele, eine Vorstufe zu den Reinhardtschen in Salzburg; manche meinen, es wäre deren Generalprobe gewesen.  
Im Gefolge der Brülls entsteht in Unterach im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine lose Villenkolonie, deren Erbauer und Besitzer in ebenso engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu einander stehen wie die Ureinwohner des Bauern- und Fischerdorfes. Brülls Nichte, die Kunstgewerblerin Cornelia Nelly Schwarz heiratet einen Freund Theodor Herzls, den Architekten und Zionisten Oskar Marmorek, der für die Budapester Blaufarbefabrikantenfamilie Goldberger de Buda eine typische Villa im „internationalen“ Sommerfrischestil entwirft: englischer Landhausgrundriss, eingekleidet in alpine Laubsägenarchitektur. Die Goldbergers überliessen die Villa in den 1920er Jahren ihrem Verwandten Leopold Popper-Podraghy, Ehemann der Operndiva Maria Jeritza, die der Villa ihren Namen gab: die kleine Jeritza-Villa. 

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Die Villenkolonie von Unterach am Attersee. Lampenschirm, bemalt, 1920er Jahre. Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung.
 

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Grabmal Ignatz Brüll, alte jüdische Abteilung, Wiener Zentralfriedhof Tor 1. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

Die Familiengeschichten lassen sich anhand der Häuser weiterspinnen, die Familienmitglieder übertrumpften einander im Bekenntnis zum Landleben. Wer hat mehr Laubsägen-Pracht und Tracht an der Fassade? Die Villa Baum, einen Steinwurf von der Villa Jeritza entfernt, hört heute auf den Namen Polese und ist vielleicht die verspielteste: Laubsägenmanierismus pur. 
Nicht immer ist die Verwandtschaft gleich auf den ersten Blick zu erkennen. Wie zeichnete sich denn ein Haus der Bierbrauerdynastie Kuffner aus, oder eines der Eisenbahnmagnaten Reitzes? Die Ölindustriellen Geiringer jedenfalls bevorzugten die Jagdtracht: Hirschgeweih und dunkles Holz. Die Ecksteinsche Residenz erinnert eher an eine Seeburg, und der Librettist Victor Léon prahlt hoch über dem Attersee mit einer imposanten neobarocken Fassade, welche die Schmalbrüstigkeit des Hauses versteckt. Heute kann gar nichts mehr zugeordnet werden, die Familien sind vertrieben, die Gräber verschwunden (Julius Schwarz, Hermine Schwarz geb. Brüll), das Wissen ist verschollen. 
Und wer war der im KZ Mauthausen umgekommene Generaldirektor Eugen Kaldi (Kohn), der die Villa Jeritzastrasse 34 besass, wer waren die mährischen Seifenfabrikanten Schostal (Jeritzastrasse 38), die Kästenbaums (Jeritzastrasse 51 und 53), die Gallias (Jeritzstrasse 28a), die Lederers (Elisabethallee 2) oder der Zementfabrikant Leo Czech (Jeritzastrasse 20), der sich im amerikanischen Exil Kent nannte? Ihre Geschichten auszugraben wird wohl künftigen Mischpochologen – sprich Genealogen – vorbehalten bleiben.

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Grabmonument für Friedrich und Rosa Holitscher geb. Kuffner sowie Angehörige der Familie Goldberger de Buda, 2013 verwaist, umgelegt von der Friedhofsverwaltung, Israelit. Abteilung des städtischen Friedhofs in Wien-Döbling. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
 

Berghof
Der Treffpunkt des Wiener Musik- und Literaturlebens. Zentrale Figur war Ignaz Brüll (1846-1907), dessen Familie aus dem mährischen Prossnitz (tschech. Prostějov) kam und dort das Grosshandelshaus Brüll&Horn begründete. Verwandtschaftlich mit den Baums über Holitscher verbunden (siehe Villa Baum und Villa Geiringer). 
Die Berghof-Eigentümer flohen 1938 und wurden dennoch von den Nazis eingeholt: Hermine Hupka Brüll (Tochter von Ignaz Brüll) wurde nach Auschwitz deportiert, Harry von Sonnenthal (Enkel des berühmten Burgtheatermimen) nach Riga, seine Mutter Clara sowie deren Cousine Risa Horn begingen im Fluchtland Frankreich Selbstmord.
Villa Baum, heute Polese (Jeritzastr. 26) 
Zentrale Figur ist Hermine Baum (Wien 1850–1914 Wien). Sie entstammte der Ottakringer Bierbrauereidynastie Kuffner und war über ihre Schwester Rosa Holitscher mit den Geiringers (Villa Geiringer), über ihre andere Schwester Fanny Schlesinger wiederum mit den Ecksteins verwandt (Villa Eckstein/Jeritza). Fanny Schlesingers Tochter war Gertrude von Hofmannsthal, die Ehefrau des im Berghof sommerfrischenden Dichters.
Villa Goldberger de Buda (Jeritzastr. 15) 
Bekannt als die kleine Jeritzavilla, geplant vom Architekten Oskar Marmorek (siehe Berghof) für Jacques Goldberger de Buda (Budapest 1829–1903 Wien) und Amalie geb. Holitscher (Budapest 1833–1915 Wien). Sie war die Schwester von Friedrich Holitscher (siehe Villa Geiringer).
Villa Eckstein, später Jeritza, heute Turnauer (Jeritzastr. 36)
Der Chemiker und Pergamentfabrikant Albert Eckstein war mit Sigmund Freud und Josef Popper-Lynkeus befreundet gewesen. Seine Witwe Amalie geb. Wehle erwarb in den späten 1880er Jahren die Seeliegenschaft. Der Komponist Hugo Wolf verbrachte viele seiner Sommer hier. Friedrich Eckstein (Perchtoldsdorf 1861–1939 Wien) war wohl Wiens berühmtester Polyhistor, Friedrich Torberg hat ihm in der Tante Jolesch ein Denkmal gesetzt. Seine Schwester Therese Schlesinger née Eckstein (Wien 1863–1940 Blois, Frankreich) war eine der ersten weiblichen Abgeordneten im österreichischen Nationalrat.
Villa Eisler (Hugo Wolf-Weg 13, früher Kastanienwaldstr. 3)
Melanie Eisler (Wien 1856–1940 Wien) entstammte der Industriellenfamilie Reitzes, welche vor allem als Inhaberin der Wiener Pferdetramway bekannt war. Ihr Sohn war der in den KZs Dachau und Buchenwald inhaftierte Religionsphilosoph Robert Eisler (Wien 1882–1949 Oxford). Sein Hauptwerk: Man into Wolf: An Anthropological Interpretation of Sadism, Masochism and Lycantropy.
Villa Geiringer (Jeritzastr. 42)
Die aus dem oberungarischen Stomfa (dt. Stampfen, heute Stupava,
Slowakei) stammende Industriellenfamilie Geiringer erwarb das Haus. Die Sängerin Hilde Güden (Wien 1917–1988 Klosterneuburg) stammte aus dieser Familie. Rosa Holitscher geborene Kuffner (siehe Villa Baum, Villa Eckstein) war die Ehefrau von Friedrich Holitscher (Budapest 1836–1911 Wien), dessen Mutter eine Geiringer war. 

Quellen: 
Grundbuch, Bezirksgericht Mondsee
www.atterwiki.at, www.jewishgen.com, www.geni.com 
Therese Schlesinger-Eckstein | Jewish Women‘s Archive (jwa.org)