Ausgabe

Aus altem Sprachgut ein neues Gehör schaffen Zu Leben und Werk des Schriftstellers Elazar Benyoëz

Anna Rosa Schlechter

Das neueste Werk Fazittert (Verlag Königshausen & Neumann, 2020) von Elazar Benyoëtz beginnt so: 

Inhalt

Ich wollte, dass alles Jüdisch-Deutsche / mit seinem ›Stirb und werde!‹ / noch einmal da sei / für eine kurze Zeit / mein Leben lang. / In vielen Jahren, die Bücher geworden sind, / war mir gelungen, / das ›Einmal-und-nie-wieder‹ zu beleben, / und nun, fazittert, / auch wieder sterben zu lassen, / entsetzt, auf den EinSatz gebracht: /
Stehe ich im Wort, / bin ich ausser Zweifel, / ob auch noch da? / Ein Autor muss sich nicht anstrengen, / sein Vermächtnis zu schreiben: / Sein Werk, wenn es Bestand hat, / ist sein Vermächtnis – / hinlänglich und kurzum /

Elazar Benyoëtz wurde 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geboren und ist als Autor zahlreicher Bücher, Essays, Aphorismen und Gedichten in deutscher Sprache bekannt. Er ist mit der Miniaturenmalerin Renée Koppel verheiratet, die viele Cover seiner Werke gestaltet hat. Diese Zeilen berühren bereits den Kern der wiederkehrenden, tiefgehenden, oft weisheitsliterarisch anmutenden Reflexionen des Dichters in einem Deutsch, das mit seiner Geschliffenheit in jedem Werk neu besticht. Benyoëtz‘ Themen umkreisen wieder und wieder Glaube, Sprache, G‘tt, Zweifel, Liebe, Literatur, das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. Benyoëtz‘ Lebenswerk als deutschsprachiger Aphoristiker schuf dieserƒ aus der Ferne Jerusalems und Tel Avivs, die ihm die – vielleicht notwendige – Entfernung zum Deutschen brachte. Seine österreichische Herkunft und Familiengeschichte und das damit verknüpfte Leid ziehen sich quer durch sein Schreiben. In die in Wiener Neustadt bekannte jüdische Familie Koppel geboren, wuchs er behütet in der Haidbrunngasse 4 auf, in welcher sein Grossvater ein privates Bethaus leitete. Der G‘ttesdienst in der »Koppel-Gemeinde« wurde auf traditionelle und konservative Weise gefeiert zu einer Zeit, als in der Israelitischen Kultusgemeinde der »moderne« Mannheimer- oder Wiener Ritus gängig war.1 Nach dem Tod des Grossvaters Alois Elasar Koppel leitete der ebenso strenggläubige Sohn Gottlieb Koppel das Koppel-Bethaus weiter. Elazars Vater war ein prominenter jüdischer Geschäftsmann, der nach Art der jüdischen Wohltätigkeit, die er lehrte und realisierte, mit seinem Haus in Wiener Neustadt bekannt war für sein soziales Engagement. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brachte das Familienglück der Koppels zu einem jähen Ende und zwang die Familie, den Vater Gottlieb und seine Frau Else sowie die beiden Kinder Paul und Susannah-Ruth zur Flucht. Über Stationen in Budapest und Bratislava rettete sich die Familie 1939 über den Schiffweg nach Palästina. Das frühe Vertriebenwerden aus Österreich sollte Benyoëtz‘ gesamten restlichen Le- bensweg prägen und lässt sich in seinen literarischen Reflexionen kaum wegdenken, so in Fazittert:

Auf eine Antwort gefasst, / sieht man die Frage nicht wachsen
Mit einem Jahr, / in Wiener Neustadt, / gehörte ich schon / zu den Raus-Juden-Raus; / ich höre das Rausen / bis heute /
(-294-)

In Palästina vom Hebräischen umgeben, machte er sich früh einen Namen als Kenner der hebräischsprachigen Literatur und publizierte Gedichtbände auf Hebräisch, wiederholt in der Zeitung Ha-Pual Ha-Zair. Er erhielt eine traditionell jüdische Erziehung, besuchte eine Yeshiva und legte 1959 das Rabbiner-Examen ab. Der frühe Tod seines Vaters Gottlieb traf ihn tief; mit ihm sollte viel der deutschen Sprache verloren gehen. Erst mit sechzehn Jahren wandte sich Benyoëtz wieder dem Deutschen zu. Dies wurde zum Moment einer weitgreifenden Veränderung, Paul Koppel suchte sich seinen Namen neu aus und nennt sich von nun an Elazar Benyoëtz: Aus Paul wurde Elazar (nach seinem Grossvater), zu Deutsch »Gott half«, und aus Koppel wurde Yoetz (nach seinem Vater), zu Deutsch der »Ratgeber«, und dessen Sohn eben Ben-yoëtz – der Sohn des Ratgebers. Doch das Deutsche blieb die Basis seines literarischen Wirkens: in den1960ern ging er nach Berlin, um dort das Archiv Bibliographia Judaica zu gründen. Diese Bibliographie versucht penibel die Zeugnisse jüdischer Literatur in deutscher Sprache zu verzeichnen und zu beschreiben. Vielverzweigte Brieffreundschaften mit namhaften jüdischen Denkern und Schriftstellerinnen der Zeit fanden ihren Weg in zwei Korrespondenz-Bände: Vielzeitig. Briefe 1958-2007 (Brockmeyer 2009) und Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz: Ein Porträt aus Briefen (Narr Francke 2019). Darunter finden sich Briefe von Max Zweig, Nelly Sachs, Margarete Susman, Marie Luise Kaschnitz, Rose Ausländer, Dan Pagis, Theodor W. Adorno, Else Lasker Schüler oder Martin Buber, Briefe, die auch immer wieder in Auszügen in Benyoëtz‘ Werken zitiert werden. Die Trümmer der deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts sollte für Benyoëtz ein wiederkehrendes movens für sein Schreiben bleiben. Im Berlin der Sechzigerjahre begann er sich die deutsche Sprache zurückzuerobern und auch auf Deutsch zu schreiben. Dies brachte ihm von Seiten Israels viel Kritik ein, hatten die beiden Staaten doch zu jener Zeit noch nicht einmal diplomatische Beziehungen aufgenommen:
Das jüdische Vermächtnis an die Deutschen / ist das Absurde der Sprache, / »denn sie war nicht unser« / und doch, was wäre sie heute / ohne die Juden von gestern /
(-18-)

Benyoëtz schöpft von seinen frühen Werken an stets aus dem reichen Schatz der jüdischen Tradition. Seine deutschen Texte sind unterlegt mit zahlreichen jüdischen Texten, und er schreibt als Weisheitslehrer auf eine zeitlose Art und Weise, in dem er Tradition neu interpretiert und weitergibt. Dass Benyoëtz auf Deutsch hauptsächlich für ein christlich geprägtes Publikum schreibt, und sich unter seiner Leserschaft tatsächlich auch nicht wenige theologisch Interessierte finden, steht im krassen Gegensatz zu seinem hebräisch-sprachigen, meistens jüdischen Publikum, das aus einem gänzlich anderen Kontext heraus liest. So leistet die zweisprachige Literatur von Elazar Benyoëtz auch einen wichtigen Beitrag zu einem interreligiösen Dialog durch das Medium der Literatur. Seit seinem Standardwerk Treffpunkt Scheideweg von 1990 kam Benyoëtz zu einem neuen Werkformat, das abgesehen von Aphorismen auch Zitate, Collagen, Prosa und Briefe in sich vereint. So finden auch Zitate Eingang in das neueste Werk Fazittert, das als gekonnter Neologismus »Fazit« und »Zittern« vieldeutig in sich vereint. Durch das Zitieren zollt Benyoëtz den ihm Vorangegangen Tribut. Der Dichter zitiert und befragt seine Werke gewissermassen, indem er sie weiterschreibt und in die von ihm erdachte Anordnung setzt. Zitieren bedeutet für Benyoëtz, »hervorrufen und vernehmbar machen« und gleichzeitig »wortentführen«. Als Vorbild dienen ihm in seiner Praxis in erster Linie die Torah und die talmudische Überlieferung.2 Das Rückbeziehen von Alltagssituationen auf Alte Worte ist Benyoëtz‘ ureigenste poetische Intention, »aus altem Sprachgut ein neues Gehör zu schaffen«.3 Im Talmud sind bekanntermassen die Auslegungen der Interpreten gleichberechtigt, wie auch die Sammlung von Schriften keinen einzigen Autor kennt. In Benyoëtz’ hebräischen Büchern wiederum zitiert Benyoëtz kaum. Von seinen Leserinnen und Lesern erwartet der hebräische Dichter, dass diese seine Quellen kennen, oder sich diese selbst erschliessen; das gilt vor allem für die hebräische Bibel und talmudische Quellen. Interkulturelle und interreligiöse Dialoge, Doppelkodierungen und schroffe Gegensätze, all das macht den Charakter des Werkes von Elazar Benyoëtz aus. Die Selbstkonstruktion, das Zerrissenensein zwischen zwei Identitäten führt zu einem spannungsgeladenen Moment in seiner Dichtung. Benyoëtz‘ Literatur ist somit auch Teil der modernen jüdischen Literatur, die sich zwischen Sprachen, Kulturen und Religionen bewegt. Benyoëtz‘ Literatur vermittelt und übersetzt durch die Brückenleistung zwischen Hebräisch und Deutsch, sie trägt damit exemplarisch zu der grösseren Frage der Zweisprachigkeit und der kulturellen Übersetzung jüdischer Autorinnen und Autoren bei. 

Elazar Benyoëtz‘ Vorlass liegt im Literaturarchiv der Nationalbibliothek Wien, er erhielt zahlreichen Preise, u.a. den Adelbert von Chamisso-Preis (1988) und den Joseph Breitbach-Preis (2002). Benyoëtz ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Anna Rosa Schlechter arbeitet an einer Dissertation über die zweisprachige Literatur von Elazar Benyoëtz am Institut für Judaistik in Wien. Zuvor hat sie Translationswissenschaft, Internationale Beziehungen und Judaistik in Madrid und Wien studiert. 

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Nachlese
Anna Rosa Schlechter, Ein verlängerter Weg ins Deutsche. Elazar Benyoëtz zwischen Midrasch und Aphorismus; In: Chilufim 26/2019.

Elazar Benyoëtz, Fazittert. Verlag Königshausen & Neumann 2021
420 Seiten, 35,80 Euro, ISBN-13: 9783826072451, ISBN-10: 3826072456


Anmerkungen
1 Werner Sulzgruber: Die jüdische Gemeinde Wiener Neustadt. Von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerstörung. Mandelbaum 2005, S. 37f.
2 Vgl. René Dausner: Schreiben wie ein Toter. Poetologisch-theologische Analysen zum deutschsprachigen Werk des israelisch-jüdischen Dichters Elazar Benyoetz. Schönigh 2007, S. 51 oder Christoph Grubitz: Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoetz. Niemeyer 1994, S. 82.
3 Elazar Benyoëtz: Querschluss. Wölpert 1995, S. 13.