Ausgabe

Unglaubwürdige Reise Ilse Aichinger (1.11.1921–11.11.2016)

Stephan Templ

Ilse Aichingers letzte Publikation 
Unglaubwürdige Reise sind 
tägliche Erinnerungen, Einfälle und Begebenheiten, die sie auf den wenigen hundert Metern 
zwischen ihrer Wohnung in der Herrengasse und der Konditorei Demel am Kohlmarkt erlebte.

Inhalt

Nur solche Reisen bergen Unerwartetes. Die Reisen in die Ferne führen nur in das Erwartete. Wenn einer eine Reise in die Ferne macht, hat er nichts zu erzählen. Doch der tägliche Kaffeehausgang vermag das Fremde im scheinbar Bekannten zu offenbaren.

Aichingers tägliches Vermessen der nächsten Umgebung ist trainiert: nach dem Hinauswurf aus der Wohnung in der Gumpendorferstrasse zog sie zu ihren Grosseltern ins Fasanenviertel, genau dorthin, wo die Transporte in den Osten gingen, gleich beim Aspang-Bahnhof. Dann folgte wieder ein Hinauswurf, nun in die Marc Aurelstrasse 9 mit direktem Blick auf das Hotel Metropol, den Sitz der Gestapo.

Hier am Schwedenplatz sieht sie auch ihre geliebte Grossmutter zum letzten Mal: sie erkennt den Zipfel ihres Kopftuches am Deportationswagen, rundherum gaffende, grinsende Menschen. 

Der Krieg, so schreibt Aichinger einmal, war ihre glücklichste Zeit. Man wusste genau, wo die Menschen stehen.Der Transport der Grossmutter ging nach Minsk, in die Ferne, in das Erwartete.  

Natürlich gibt es Sehnsuchtsorte, das Meer, die Heimat schlechthin, denn im Meer gibt es keine Heimatorte.