Thomas Varkonyi
Karen Körber / Andreas Gotzmann: Lebenswirklichkeiten. Russischsprachige Juden in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. (= Schriften des Jüdischen Museums Berlin, Band 5).
Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht Verlag 2022.
278 Seiten, Euro 52,00.-
ISBN 978-3-525-30197-5
Das aus dem Jahre 1980 stammende und ursprünglich für die Aufnahme vietnamesischer Boatpeople zur Anwendung gelangte Kontingentflüchtlingsgesetz war ab 1991 Grundlage für die Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Entscheidendes Kriterium für eine Aufnahme war die ethnische Zugehörigkeit, unabhängig von einer matrilinearen oder patrilinearen Abstammung. Die deutschen Behörden entschieden also nach dem sowjetischen Nationalitätengesetz, das auch so genannte Vaterjuden als Juden klassifizierte – und nicht nach der jüdischen Halacha. Dies führte unweigerlich zu Spannungen in den orthodoxen Einheitsgemeinden, die Vaterjuden nicht als Juden akzeptierten und das immer noch nicht tun.
Das Buch ist in grob zwei Teile unterteilt: Der erste, grössere Teil von Karen Körber basiert wesentlich auf einer Online-Umfrage unter 267 Menschen und 31 offenen, leitfaden-
unterstützten Interviews. Im zweiten Teil des Buches geht Andreas Gotzmann auf die Identitätskonflikte zwischen russischsprachigen Kontingentflüchtlingen und alteingesessenen Orthodoxen in Deutschland ein. Das Verdienst des Buches ist – neben vielen anderen Klarstellungen –, darauf hinzuweisen, dass die Nachkommen der jüdischen Kontingentflüchtlinge sich einerseits in der deutschen Gesellschaft eingelebt haben und auf soziale und ökonomische Aufstiegsgeschichten verweisen können, andererseits gleichzeitig als Migranten und Juden gesehen werden und daher Diskrimination und Antisemitismus ausgesetzt sind. Ein zusätzliches Dilemma ist die Selbstzuschreibung als Jude aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und nicht der Religion, die aber nicht akzeptiert wird und zu einer sich verbreiternden Distanz zu den jüdischen Gemeinden führt.