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Ad meah we esrim Peter Demetz zum 100. Geburtstag

Stephan Templ

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Peter Demetz, 2012. Foto: Zandegan55, Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6c/Peter_Demetz_2012_%28cropped%29.jpg

Der aus Prag stammende Germanist Peter Demetz feierte jüngst im Exilland Amerika seinen 100. Geburtstag. Der Spross einer böhmisch-jüdischen und Südtiroler ladinischen Familie gilt als bedeutender Mittler der deutschen und der tschechischen Literatur.

Inhalt

Hundert Jahre sind lang, doch die vielen Aktivitäten von Peter Demetz lassen sich schwerlich in so vielen Jahren unterbringen: Journalist bei Radio Free Europe, Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an der Yale University, wo er bis zu seiner Emeritierung die Sterling Professur innehatte, Juror beim Bachmann-Preis und Herausgeber unzähliger Anthologien zur deutschen und tschechischen Literatur. Besonders seit seiner Pensionierung – die schon eine Weile zurückliegt – befasst er sich mit seiner Heimat Böhmen, dort, wo er als sogenannter „Halbjude“ die Nazizeit in Lagern überlebte und schliesslich nach dem kommunistischen Putsch im Jahre 1949 in den Westen floh. Als vielleicht bedeutendste Publikation seines Spätwerkes gilt sein in unzählige Sprachen übersetztes Prag-Buch Prague in Black and Gold, wo er mit der eindimensionalen Darstellung der böhmischen Hauptstadt als Hochburg der Mystik und Magie aufräumt. 

 

Dieses Etikett hat Prag schon lange vor der (nach dem Fall des Eisernen Vorhanges einsetzenden) Tourismusindustrie verpasst bekommen, mindestens seit Gustav Meyrinks Golem-Darstellung samt seiner Verfilmung durch Paul Wegener. Die mittelalterlichen Winkel der Stadt, die aus dem Boden wachsenden Stelen des alten jüdischen Friedhofes bieten heute noch eine brauchbare Kulisse für das Heraufbeschwören okkulter Handlungen mit dem bekannten Personenstand, von Rabbi Löw bis Rudolf II

 

Demetz setzt dem entgegen: Rudolf II., der aufklärerische Herrscher, der eine unstillbare Neugier auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst hatte, der den Ketzer Giordano Bruno genauso an den Hof rief wie  Johannes Kepler und Tycho Brahe, denen er im Schloss Benatky nad Jiserou ein Observatorium einrichtete, wo auch der jüdische Mathematiker und Astronom David Gans forschte. 

 

Die beliebte Darstellung, dass diese Wissenschaftler in den winzigen Hütten des Goldmachergässchens auf der Prager Burg hausten, verdankt man unter anderem der Vorstellung des Surrealisten-Papstes André Breton. Nachweislich fanden sie in den Adelpalais‘ Unterkunft. Breton war es auch, der Prag bei seinem Besuch im Jahre 1935 als „die magische Hauptstadt des alten Europa“ bezeichnete. 

 

Doch zurück zu Rudolf II. Einer seiner Gesprächspartner war der Maharal, also Rabbi Löw, der Oberrabbiner von Prag. Auch er war der Aufklärung und Renaissance verpflichtet, zwei Jahrzehnte lang Landesrabbiner von Mähren in Nikolsburg, danach Oberrabbiner in Posen, beide Orte werden wohl nicht mit Mystik und Kabbala in Zusammenhang gebracht, sie haben wahrlich nichts mit Safed oder Gerona gemein. Rabbi Löw wird dennoch die Erfindung des Golem angedichtet. Die Sage vom Golem, dem Erdkloss, dem Unfertigen oder Unbereiteten, ist um Jahrhunderte älter als sein Prager Erscheinen. Sie stammt laut Demetz aus einem gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Worms entstandenen hebräischen Kommentar zum Sefer Jezira (Buch der Schöpfung) und beschreibt, wie man den Golem aus Erde durch ein kompliziertes Ritual herstellt, in dem Gesten ebenso wichtig sind wie Zahlen und Alphabet-Kombinationen. In vielen Legenden wird der Golem zum gefährlichen Meisterstück des mit besonderen Kräften begabten Rabbiners. Einer von ihnen war im 16. Jahrhundert Rabbi Baal Schem aus dem polnischen Chełm. Nichts aber deutet darauf hin, dass die Zeitgenossen Rabbi Löws von seinem Prager Golem berichteten, auch nicht eine spätere Lebensgeschichte, die einer seiner Nachkommen in Prag im Jahre 1718 publizierte. Die Prager Version der Legende von Rabbi Löw und dem Golem erschien zum ersten Male, und zwar in deutscher Sprache, in der Prager Zeitschrift Panorama des Universums im Jahre 1841, aus der Feder des deutsch-tschechischen Journalisten Franz Klutschak

 

Die Versuche, Rabbi Löw in einen Zaddik zu verwandeln, der magischer Kräfte fähig war und seine Weisheit aus der kabbalistischen Tradition schöpfte, wiederholt sich in den Bemühungen, den Prager Versicherungsjuristen Franz Kafka als Schriftsteller zu deuten, dessen Schaffen seine Wurzeln in der Kabbala und im Chassidismus gehabt hätte. Kafka kam mit der Welt des Ostjudentums in Berührung, durch den osteuropäischen jiddischen Schauspieler Jizchak Löwy und dessen Verlobte Dora Diamant. Doch das westlich von Wien gelegene Prag hatte keine Schwäche für den Osten; stets blickte man nach Westen, ab 1918, als man sich von allem Deutschen abwandte, nach Frankreich und Amerika. 

 

Und heute?  

Demetz schliesst: 

„In allem Reichtum ist das „magische Prag“ eine arme Stadt, denn sie lebt ohne Hussiten, ohne die tschechischen und deutschen Aufklärer, ohne den liberalen Polemiker Karel Havlicek-Borovsky, ohne die deutschen und jüdischen Expressionisten und ohne die Prager Philosophen wie Bernhard Bolzano, Emanuel Radl oder Jan Patocka“. 

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Peter Demetz: Prague in Black and Gold. Penguin 1998.

Gerade von Peter Demetz erschienen: 

Was wir wiederlesen wollen. Literarische Essays 1960 -2010.

Wallstein-Verlag Göttingen 2022.

320 Seiten, Euro 32,90.-

ISBN 978-3-8353-5218-6

 

 

 

Nachlese (Auswahl)

Goethes „Die Aufgeregten“. Zur Frage der politischen Dichtung in Deutschland. Nowack, Hann.-Münden 1952.

René Rilkes Prager Jahre. Diederichs, Düsseldorf 1953.

Marx, Engels und die Dichter. Zur Grundlagenforschung des Marxismus. Deutsche Verlagsanstalt 1959. Taschenbuchausgabe: Ullstein 1969.

Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. Hanser 1964. Taschenbuch: Ullstein 1973. ISBN 3-548-12985-4.

Die süsse Anarchie. Deutsche Literatur seit 1945. Eine kritische Einführung. Propyläen 1970. Taschenbuch: Ullstein 1973. ISBN 3-548-12985-4.

Fette Jahre, magere Jahre. Deutschsprachige Literatur von 1965 bis 1985. Piper 1988. ISBN 3-492-03128-5.

Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912–1934). Mit einer ausführlichen Dokumentation. Piper 1990. ISBN 3-492-11186-6.

Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen. Deuticke 1996, ISBN 3-216-30203-2.

Prag in schwarz und gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt.  Piper 1998, ISBN 3-492-03542-6. Taschenbuch: Ebd. 2000, ISBN 3-492-23044-X.

Die Flugschau von Brescia. Kafka, d’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen. Zsolnay 2002, ISBN 3-552-05199-6.

Böhmen böhmisch. Essays. Mit einem Vorwort von Karel Schwarzenberg. Zsolnay 2006, ISBN 978-3-552-05373-1.

Mein Prag. Erinnerungen 1939 bis 1945.  Zsolnay 2007, ISBN 978-3-552-05407-3.

Auf den Spuren Bernard Bolzanos. Essays. Arco 2013. ISBN 978-3-938375-49-5.

Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin. Zsolnay 2019. ISBN 3-552-05928-8. ISBN 978-3-552-05928-3