Ausgabe

Zur Gedenkveranstaltung der Stadt Wels am 9. November 2022

Thomas Varkonyi

Am 9. November 2022 kam es im 

Pollheimerpark im Zentrum von Wels zu einer Veranstaltung im Gedenken 

an die Opfer der Novemberpogrome vor 84 Jahren. 

Inhalt

Eingerahmt wurde die würdig und stimmungsvoll gestaltete Veranstaltung von Darbietungen des städtischen Chors Choice of Voice. Neben Grussworten des Vizebürgermeisters Gerhard Kroiß und der zweiten Präsidentin des oberösterreichischen Landtags Sabine Binder wurden auch drei Reden gehalten. Die erste Rede, Zwei Minuten, wurde von zwei Schülerinnen der Mozartschule gestaltet, die durch abwechselndes Vorlesen die Nähe der Geschehnisse zum Stadtkern und damit die Augenfälligkeit der Pogrome eindrucksvoll darstellten. 

 

„Zwei Minuten von hier besitzt Familie Grünberg ein Kleidergeschäft am Kaiser-Josef-Platz. Sie flüchten vor den Nazis. Der Vater flieht nach China. Er will seine Familie nachholen. Schafft es aber nicht mehr. Seine Frau und seine Tochter werden im KZ ermordet. Zwei Minuten von hier verkaufen die drei Brüder Jelinek Kleidungsstücke in ihrem Geschäft am Kaiser-Josef-Platz. Weil sie Juden sind, werden sie vertrieben und schliesslich im KZ ermordet. Zwei Minuten von hier wird der Direktor der Rainerschule festgenommen. Er hatte sich in seiner Meinung gegen die Nazis gewandt. Wenige Tage später stirbt er beim Steine tragen auf der Todesstiege im KZ Mauthausen. Zwei Minuten von hier inhaftieren die Nazis einen Mitarbeiter des Welser Gemeinderates in der Rablstrasse. Er widerstand ihrem mörderischen Gedankengut. Er kommt ins Gefängnis. Dort stirbt er. Eine Minute von hier betreibt der Wirt Alois Smolka seine Gaststätte. Weil er Jude ist, wird er im KZ ermordet. Und hier stehen wir heute Abend. Hier gedenken wir dieser Menschen. Die ein Teil von uns sind. Die unser Land bereichert haben. Hier heisst es VERACHTET. Hier heisst es VERTRIEBEN. Hier heisst es VERNICHTET. Hier heisst es VERGESSEN.  Vergessen? Nein! Nicht mit uns. Wir werden daran erinnern. Für die Hinterbliebenen. Für uns. Für immer.“ 

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Bürgermeister Dr. Andreas Rabl und Vizebürgermeister Gerhard Kroiß.

Die zweite Rede, jene des Autors, Historikers, DAVID-Mitarbeiters und Lehrbeauftragten der Universität Wien, setzte sich neben den Eckdaten der Novemberpogrome vor allem mit der Frage auseinander, ob man aus der Geschichte lernen und gegen Antisemitismus aktiv sein könne. Entgegen dem berühmten Satz von Friedrich Hegel, dass „das Einzige, dass man aus der Geschichte der Völker lernen kann, ist, dass die Völker nichts aus der Geschichte lernen,“ vertritt Varkonyi die Auffassung, dass dies möglich sei: 

 

„Tatsächlich ist Geschichte vergangene, daher nachträglich und ausschnitthaft rekonstruierte Realität, mosaikhaft zwar, aber begrifflich verständlich darstellbar. Und daher können wir aus der Geschichte durchaus Dinge erfahren und daher auch lernen.“ Nicht zuletzt lernten die überlebenden Juden drei Dinge: Erstens, dass was auch immer Juden tun, sie liefern den Antisemiten stets nur neues Material zur Illustration ihres Wahns. Und ergänzend kann man mit Jean-Paul Sartre sagen, „(w)enn es den Juden nicht gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden.“ 

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Bürgermeister Dr. Andreas Rabl, Herr Beresin mit seiner Lebensgefährtin Fatma Deniz, Vizebürgermeisterin Christa Raggl-Mühlberger, Vizebürgermeister Gerhard Kroiß und Thomas Varkonyi (von rechts).

Zweitens, dass er nicht der Höhepunkt des Erlösungs- und Vernichtungsantisemitismus der Nazis war, sondern Teil eines Radikalisierungsprozesses. Und drittens, dass Juden ihren Schutz nicht nur nichtjüdischen Staaten und Gesellschaften anvertrauen konnten und können, sondern am Ende nur sich selbst – das ist die raison d’ être des Staates Israel. Was aber haben wir, die Mehrheitsgesellschaft, daraus gelernt? Wir gedenken toter Juden, die wegen irrationalen Hasses und Indifferenz ermordet wurden. Das ist löblich und eine Errungenschaft der demokratischen Republik Österreich, zweifellos. Allerdings muss man das Bild ergänzen: In Westeuropa, wie in Österreich, stehen jüdische Institutionen permanent unter Polizeischutz. Auch im Jahre 2022. Nicht aus Paranoia, sondern wegen konkreter Bedrohungsszenarien: durch Rechts- und Linksradikale sowie Islamisten. Es zeigt sich hier die Wahrheit, die der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt so beschreibt: 

„Den Juden gegenüber hat sich die Welt nicht verändert, verändert haben sich nur die Begründungen, die man gegen sie ins Feld führt.“ 

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Bürgermeister Dr. Andreas Rabl.

Es besteht in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch die Tendenz zu Antisemitismus. Jean-Paul Sartre schrieb, der Antisemit sei aus Angst Antisemit. Nicht aus Angst vor Juden, sondern aus Angst, Mensch zu sein. Wenn wir aus dem Novemberpogrom heute etwas lernen können, so die Rede weiter, ist es, dass wir uns individuell für das Menschsein entscheiden können, mit allen Problemen, die das aufwirft:

 

„Wir können uns dafür entscheiden, ohne Angst aufzustehen und unsere Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht; uns dafür entscheiden, zu diskutieren und abzuwägen. Uns dafür entscheiden, nicht dem Ressentiment anheimfallen; uns dafür entscheiden, uns ungeachtet unserer individuellen Herkunft unserer historischen Verantwortung als Österreicher zu stellen und überkommene Narrative, selektive Wahrnehmungen und Geschichtslügen, seien sie öffentlich oder privat, kritisch zu hinterfragen. Was wir daher aus der Geschichte lernen können, ist, dass wir alle die Wahl haben: Niemand muss den Antisemitismus – den der Philosoph Theodor W. Adorno das „Gerücht über die Juden“ nannte – verinnerlichen! Niemand muss Antisemit sein!“  

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Schülerinnen der MS 5 Mozartschule.

Den Abschluss der gelungenen Veranstaltung markierte die dem Anlass entsprechende Rede des Welser Bürgermeisters Andreas Rabl, in der er nochmals die Fakten in Erinnerung rief. 

 

Der DAVID-Herausgeber und Chefredakteur Ilan Beresin lobte in einem Interview zur Veranstaltung das Lernen aus der Geschichte, das zwar spät, aber doch erfolge, und das nicht zuletzt in Anbetracht der Jugend besonders wichtig sei. Das Vermitteln von Zusammenhängen und nicht nur von Jahreszahlen sei hierbei essenziell.

 

Alle Fotos: gewefoto. Mit freundlicher Genehmigung: Stadt Wels.