Das Bild der Nachwelt von Fanny von Arnstein als berühmter Salondame ist dank klischeeüberladener Zeitungsberichte ihrer Zeitgenossen, aber auch anachronistischer Vergleiche ihrer berühmten Biografin dermassen verzerrt, dass die historische Persönlichkeit hinter dem Spiegel kaum zu erkennen ist.
Hilde Spiel spielte, aus ihrem an der Realität der Kriegskorrespondentin sozialisierten weiblichen Blickwinkel, mit dem mehr als doppeldeutigen Begriff der „Emanzipation“. Sie unterschob dem Lesepublikum eine Lebensrealität, die so mit Sicherheit nicht bestanden haben kann, aber viel über sie selbst aussagt, wenn sie sich (unzutreffend) als angeheiratete Verwandte der Arnsteins vorstellt. „Emanzipiert“ meinte für die jüdischen Zeitgenossen Franziskas von Arnstein (1758 Berlin–1818 Wien), sich nach Möglichkeit und Neigung an Werte der umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu adaptieren im Sinne eines aufgeklärten Bildungsbürgertums. Eine Frauenrechtsbewegung entstand in Wien definitiv erst Jahrzehnte nach Fannys Tod.
Die Beobachtung ist dennoch interessant, zeigt sie doch, wie sehr die Wahrnehmung eingeschränkt werden kann durch mangelhafte Überlieferung privater Schriftstücke. Bedauerlicherweise herrschte über mehrere Generationen ein innerfamiliärer Konsens, Gegenstände des persönlichen Nachlasses der berühmten, aber verschämt nicht als solche wahrgenommenen, da jüdischen Ahnin nicht aufzubewahren. Fannys Tagebuch ging der Nachwelt verloren. Ein unwiederbringlicher Verlust an Informationen über Lebenshöhepunkte, Einstellungen und Alltagserfahrungen resultiert daraus. Anstelle direkter Überlieferung gab es nur Stereotype, Gerüchte, eine je nach Bedarf („quod erat demonstrandum“) manipulierte Öffentlichkeit.
Jüdische Geschichtsforscher versuchten zur Zeit der Hochblüte der Wissenschaft vom Judentum, die Bedingungen der eigenen Existenz zu hinterfragen und beschäftigen sich dazu unter anderem mit Fanny als Akteurin, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und sich, umgekehrt, für diese auch entsprechend einsetzte – sei es als Patronin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, des Marien-Spitals in Baden bei Wien, und so weiter. Tatsächlich entsprach Fanny in vielerlei Hinsicht ganz dem Rollenbild des gläubigen Judentums mit seinen strengen Pflichten, wie in diesem Falle der Wohltätigkeit, der Zedakah.
Hilde Spiel: Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. S. Fischer Verlag 1962.
Andererseits mag es ihr gegangen sein wie Nathan Mayer Rothschild in seinen ersten englischen Jahren nach der Ankunft aus Frankfurt, dessen Ehefrau Hannah Cohen zu glätten verstand, was die englisch Umwelt als Kultur- und Stilbrüche ansah. Die „aufgeklärte“ (hochgebildete) Berlinerin eckte mit ihrer weltgewandten Art vor allem bei ihren Glaubensgenossen an und wurde zugleich wie ein exotisches Gewächs mit einer Mischung von wohligem Schauer der Sensationslust und gehöriger Skepsis in der nichtjüdischen Adelsgesellschaft herumgereicht. Ihren Höhepunkt erreichte die voyeuristische Mentalität der Zeitgenossen, als Carl Prinz Liechtenstein bei einem Duell – angeblich mit einem Mitbewerber um Fannys Gunst, wie sofort anzüglich angemerkt wurde – verstarb.
Eingebettet in den engen Zusammenhalt der Familienbande, namentlich den zu ihrer Schwester Cäcilie und dem diplomatisch versierten Schwager Bernhard Eskeles, segelte Fanny dennoch, in den Augen ihrer Umgebung und jenen der Nachwelt, vorrangig als geistreiche Gastgeberin glanzvoller Salons über alle Wogen von Neid und Missgunst hinweg.
Aus der Perspektive Nachkriegsdeutschlands und des schwierigen Umgangs mit der nicht wegzuredenden Tatsache der Shoah sind die an ihrer feuilletonistischen Tätigkeit geschulten Bemühungen der in Berlin und London lebenden Wiener Journalistin Hilde Spiel zu verstehen, aus Fanny eine politische Lobbyistin, gar eine Bürgerrechtsaktivistin zu machen. Das mag wohl zur Selbstbespiegelung der weiblichen Kriegsgeneration gedient haben, trifft aber auf niemanden weniger zu als auf Fanny von Arnstein.
In der kommenden Ausgabe folgt ein Interview mit Fannys aktueller Biografin Homa Jordis, deren Buch im Herbst 2022 bei Morawa erschienen ist.
Ingrid Schramm/Michael Hansel (Hg.): Hilde Spiel und der literarische Salon. Studien Verlag 2011.
Nachlese
Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitwende, 1758-1818. Frankfurt: Fischer 1962.
Spiels Passagen über den Wiener Kongress und Kontext stammen aus:
Salo Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongress. Auf Grund von zum Teil ungedruckten Quellen dargestellt. Wien-Berlin 1920.