„Wir sässen hier nicht, wenn die Nazis ihren Plan, Ägypten zu erobern, vollendet hätten,” erzählte mir der Historiker und Journalist Gershom Gorenberg in einem Jerusalemer Café Ende Oktober 2022 und sprach ausführlich von Fantasien der Nazis, den ganzen Nahen Osten zu übernehmen.
Der aus Kalifornien gebürtige Gershom Gorenberg lebt seit vierzig Jahren in Jerusalem und berichtet seit mehr als fünfunddreissig Jahren über den Nahen Osten, darunter für die Washington Post. Er schrieb das Buch The Accidental Empire: Israel and the Birth of the Settlements, 1967-1977 und ist der Co-Autor von Shalom, Friend: The Life and Legacy of Yitzhak Rabin. In das Thema der eingangs erwähnten, relativ unbekannten Nazi-Fantasien wurde er bei einem Schabbat-Essen mit einem Freund hineingezogen. Dieser erwähnte, die Briten hätten im Sommer 1942 Juden und Jüdinnen aus Palästina, dem britischen Mandatsgebiet, evakuieren wollen. Sechs Jahre sorgfältiger Recherchen in britischen, amerikanischen, deutschen, italienischen und israelischen Archiven (einschliesslich vieler Privatarchive bislang unbekannter Akteure) führte Gorenberg dazu, die weniger bekannten Details eines der wesentlichsten Schwerpunkte im Krieg der Alliierten gegen die Nazis und die Achsenmächte zu beschreiben. Gorenberg erzählt von einigen jener Siege, die nicht von den gefeierten Generälen des Militärs erzielt wurden, sondern von wenigen, vergessenen,
arbeitswütigen und recht exzentrischen Männern und Frauen, die es schafften, die deutschen Enigma-Codes zu dechiffrieren und dabei halfen, die Nazi-Streitkräfte im Nahen Osten in eine entscheidende Niederlage hinein zu manövrieren. Darüber hinaus zerstört Gorenberg viele bekannte Vorstellungen und Mythen über bekannte handelnde Charaktere. Er erzählt eine Geschichte, die sich hinter der bislang bekannten Geschichte verbirgt, aber er ist klug genug, zu wissen, dass es auch bei seiner Geschichte immer noch viele Ebenen gibt, die von amerikanischen, britischen beziehungsweise ägyptischen Geheimdiensten geheim gehalten werden und meint: „Ich werde nicht weinen, wenn in den kommenden fünf oder zwanzig Jahren weitere Teile dieser Geschichte enthüllt werden und ich vielleicht herausfinde, dass ich mich geirrt oder getäuscht habe.“
Gershom Gorenberg. Foto: E. Hareuveni, mit freundlicher Genehmigung.
Was aber war diese Nazi-Fantasie? Die Nazi-Streitkräfte im Nahen Osten, die hauptsächlich im besetzten Libyen stationiert waren und von Adolf Hitlers Lieblings-Generalfeldmarschall Erwin Rommel („Wüstenfuchs“) angeführt wurden, sollten Ägypten von den britischen Streitkräften erobern und dann den Suezkanal, Palästina, den Libanon, Syrien, den Irak und Persien übernehmen. Sie sollten auf Nazitruppen aus dem Norden treffen, die aus dem besetzten Russland kamen, und auf die japanische Armee, die aus dem Osten kam. Für das ausgeweitete Nazi-Imperium wurden die riesigen irakischen und persischen Ölvorräte gebraucht. Die jüdischen Gemeinden sollten hingegen ausgerottet werden; die Nazis setzten für diese Aufgabe bereits den SS-Offizier Walther Rauff ein, den Erfinder der mobilen Gaskammern. Die jüdische Gemeinde Ägyptens zählte damals etwa 75.000 Menschen; in Palästina lebte etwa eine halbe Million und im Irak gab es weitere 100.000 Juden und Jüdinnen. Wie die meisten von uns aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wissen, wurde Rommels Afrika-Korps in der Zweiten Schlacht von El Alamein von Ende Oktober bis Mitte November 1942 von der britischen Armee unter der Führung von Generalleutnant Bernard Montgomery in Ägypten besiegt. Gorenberg fügt der Geschichte eine weitere, reichhaltigere und detailliertere Ebene über die militärischen Geheimdienstkriege zwischen den Deutschen und den Italienern auf der einen und Briten und Amerikanern auf der anderen Seite hinzu, ohne die strategische Brillanz der britischen Kommandeure und ihrer tapferen Soldaten ausser Acht zu lassen. Rommels Niederlage veränderte den Ausgang des Krieges und führte zur Offensive der Alliierten, Europa von der Nazi-Besatzung zu befreien.
Gorenberg verflicht die Berichte jener Tage aus der Perspektive der ungenannten, weil geheim agierenden Kryptologen in Bletchley Park, die als erste davon erfuhren, dass Deutsche in Russland Juden massakrierten. Diese Code-Knacker waren damit beschäftigt, die angeblich undechiffrierbaren deutschen Enigma-Codes zu entschlüsseln. Nebenbei stellt Gorenberg die korrekten historischen Erzählungen über Alan Turing wieder her, der in Morten Tyldums Film The Imitation Game/Ein streng geheimes Leben dargestellt wird, und über den Grafen László Almásy aus Michael Ondaatjes The English Patient/Der englische Patient, und er erzählt von vielen anderen, darunter einem gewissen Ian Fleming, damals junger Geheimdienstoffizier in der Marine, der später seine Erfahrung nutzte, um den Superspion James Bond zu erfinden.
Neben Turing gab es viele bislang unbekannte Heldinnen und Helden, die diese Aufgabe meisterten, darunter drei polnische Kryptologen, angeführt vom brillanten Marian Rejewski, dessen bahnbrechende Erfolge bei der Entschlüsselung der Enigma-Codes später den britischen Dechiffrierern in Bletchley Park dienten. Und es gab Geheimdienstanalysten, die wussten, wie man die deutsche verschlüsselte Korrespondenz nutzte, um ihr Wissen über die geheimen Pläne der Nazis offenzulegen. Alle, unter ihnen auch die bemerkenswerte Expertin für Signalabwehr Margaret Storey, schworen, für den Rest ihres Lebens niemals über ihre damalige Aufgabe zu sprechen. Das Top-Geheimnis des Dechiffrierens der Enigma-Codes wurde erst etwa dreissig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelüftet.
Zurück zum Nahen Osten. Rommel galt damals als militärisches Genie, als ungeschlagener General und als „Guter Nazi“, der einen Krieg ohne Hass führte. Gorenberg reisst diesen Mythos nieder und porträtiert Rommel als militärischen Spieler, dessen Siege auf genauen, zuverlässigen Geheimdienstinformationen beruhten und den Briten all ihre Geheimnisse und Militäroperationen raubten. Und er war sicherlich kein „Guter Nazi“. Unter seiner Führung verübten die Nazis Kriegsverbrechen und misshandelten feindliche Soldaten, aber auch die einheimischen Bevölkerungen der von ihnen besetzten Länder Nordafrikas. Sie begannen, die Juden Libyens und Tunesiens in Konzentrationslager zu sperren und richteten sich darauf ein, alle zu ermorden. Rommels Armee gelang es, im Juni 1942 die libysche Hafenstadt Tobruk in der westlibyschen Wüste nach 241-tägiger Belagerung zu erobern und 35.000 britische Soldaten, die meisten von ihnen Australier, gefangen zu nehmen. Ihre Versorgung erhielten die deutschen und italienischen Streitkräfte nun dank des Tiefwasserhafens von Tobruk. Jetzt standen nur noch die Briten in El Alamein zwischen Rommels Armee und der Eroberung Ägyptens, und unmittelbar danach Palästinas und des restlichen Nahen Ostens. Rommels Armee war kaum 100 Kilometer von Alexandria und nur einen Tag von Kairo entfernt; das dortige britische Hauptquartier verbrannte bereits seine Archive. Rommel war sich angesichts der zuverlässigen Informationen, die er bislang erhalten hatte, sicher über den nahen Sieg und eilte mit seinen Streitkräften nach El Alamein – versäumte jedoch, Nachschub für seine Streitkräfte sicherzustellen.
Ohne allzu viel von den faszinierenden Geheimnissen in War of Shadows preiszugeben – Rommels Geheimdienstquelle versiegte (dank brillanter britischer und amerikanischer Geheimdiensttaktik, und natürlich dank Montgomerys erfolgreicher Kampftaktik) im entscheidenden Moment der Zweiten Schlacht von El Alamein, beziehungsweise erblindete in Hinblick auf die Kriegspläne der britischen Streitkräfte. Rommels unvermeidlicher und demütigender Verlust in dieser Schlacht zwang seine verbleibenden Streitkräfte, etwa 1.300 Kilometer weit nach Westen zu fliehen und sich ein halbes Jahr später den alliierten Streitkräften zu ergeben. Diese Niederlage der Nazis rettete die jüdischen Gemeinden des Nahen Ostens. War of Shadows bietet eine sehr aufschlussreiche und oft recht unterhaltsame Lektüre; es rechtfertigt viele Lobeshymnen, unter anderem vom ehemaligen Chef des Mossad, Efraim Halevy, der das Buch als „eine spannende Spionagegeschichte“ bezeichnete.
Noch eine Frage an Gorenberg: „Wenn wir jetzt in Jerusalem sitzen, und nachdem Sie auch ein anderes Buch geschrieben haben – The Accidental Empire: Israel and the Birth of the Settlements, 1967–1977 (2006), gibt es irgendwelche Lehren aus Ihren Forschungen, die für das heutige Israel relevant sind?“
Das wesentliche Problem bei der Verwendung von Material aus Geheimdienstquellen besteht darin, es in Echtzeit zu analysieren und seinen Wert einzuschätzen, und nicht an politische oder militärische Konzepte gebunden zu sein. Die Amerikaner wussten, dass die Japaner in den Krieg zogen, glaubten aber nicht, dass sie es wagen würden, Pearl Harbor anzugreifen. Es gab viele Geheimdienstinformationen darüber, dass Deutschland in Norwegen einmarschieren würde, aber Churchill glaubte nicht, dass die Deutschen genug Kräfte dafür hätten. Dasselbe lässt sich über Israel sagen. Das israelische Konzept war bis 1973, Israel durch die besetzten Gebiete strategische Tiefe und Sicherheit zu garantieren, und wie wir wissen, ist genau das Gegenteil davon richtig.
Nachlese
Gershom Gorenberg – War of Shadows: Codebreakers, Spies, and The Secret Struggle to Drive the Nazis from the Middle East, Public Affairs, 2021.
(Übersetzung aus dem Englischen: Monika Kaczek)