Ausgabe

Die jüdische Gemeinde von Oberwart (ung.Felsőőr)

Ursula K. Mindler-Steiner

„Wir lebten in Oberwart, bis man uns beigebracht hat, das[s] wir Fremde sind und das Land verlassen müssen“.

Inhalt

Diese Worte schrieb Alexander Glaser (1912 – ca. 2000) im Jahr 1988 an Gert Tschögl, welcher sich als erster intensiv mit der jüdischen Geschichte Oberwarts auseinandersetzte. Die Familie Glaser war im März 1938, nach dem sogenannten Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland, wie alle anderen jüdischen Familien aus dem südburgenländischen Oberwart (ung. Felsőőr) vertrieben worden. Nach Kriegsende gehörten Glasers Eltern Alfred (geb. 1881) und Cäcilie (geb. 1888) zu den wenigen Personen, die zurückkehrten. Von den einhunderteinundvierzig im März 1938 als jüdisch registrierten Personen Oberwarts ist nur von zweiundvierzig bekannt, dass sie überlebt haben. Innerhalb kürzester Zeit wurde nach dem Anschluss 1938 die Israelitische Kultusgemeinde zerstört und die jüdische Bevölkerung vertrieben.

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Aus dem Fotoalbum des Oberwarters Joseph P. Weber (1922–2008): „Mit der zionistischen Jugend ‚Macabi Hazair‘ in Unterschützen“, 1937; Quelle: Burgenländische Forschungsgesellschaft, Fotoarchiv, mit freundlicher Genehmigung.

Die Anfänge der jüdischen Gemeinde

Als sich die ersten Juden und Jüdinnen im 19. Jahrhundert in Oberwart niederliessen, das damals in der ungarischen Reichshälfte lag, unterstanden sie noch der orthodoxen Kultusgemeinde von Stadtschlaining. Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen immer mehr Menschen in die aufstrebende, multikonfessionelle Marktgemeinde Oberwart, darunter auch viele Juden und Jüdinnen: Waren um 1850 etwa vierzehn Personen jüdisch gewesen, so waren es im Jahr 1900 bereits über einhundert. Oberwart war die einzige Kultusgemeinde des Burgenlandes, die bis 1934 einen Anstieg ihrer Mitgliederzahlen verzeichnen konnte. In Stadtschlaining lebten beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts über sechshundert Juden und Jüdinnen; 1934 waren es nur mehr knapp unter zwanzig.  Bereits um 1900 lebte die Mehrheit der Gemeindemitglieder ausserhalb von Stadtschlaining. Dies führte zu Diskussionen, den Sitz des Rabbinats zu verlegen, was Stadtschlaining jedoch erbittert bekämpfte. 1868 gründete sich in Oberwart offiziell eine Filialgemeinde, welche – im Gegensatz zur Muttergemeinde – neolog orientiert war. Zu dieser Zeit fand in Ungarn ein jüdischer Kongress statt, der zur Aufspaltung des ungarischen Judentums führte: Fortan gab es sogenannte status quo ante–Gemeinden, orthodoxe Gemeinden und – einzigartig und nur in Ungarn anzutreffen – neologe Gemeinden (ähnlich den Reformgemeinden). Die Ausrichtung der neuen, liberaleren Oberwarter Gemeinde war daher für viele attraktiv, die sich aus der ihnen zu „eng“ gewordenen Orthodoxie lösen wollten. Als Gemeindevorstand fungierte Samuel Suschny (1849–1922), der eine Spezerei- und Schnittwarenhandlung führte. Er war in religiösen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Belangen sehr engagiert: So bemühte er sich um den Bau einer Synagoge, war Mitglied im Ausschuss des Oberwarther bürgerlichen Lesevereins und im Bauausschuss für das Krankenhaus. Auch an diesem Engagement kann man die neologe Haltung der Gemeinde erkennen. 

 

Synagogenbau und Etablierung einer eigenen Kultusgemeinde

Der Bau einer Synagoge war aufgrund der wachsenden Anzahl an Gemeindemitgliedern nötig – der bis dahin genutzte Betraum war zu klein geworden. Ausserdem konnte mit dem repräsentativen Bau 1904 ein sichtbares Zeichen der Emanzipation gegenüber der Muttergemeinde gesetzt werden. Die Spannungen innerhalb der Gemeinde nahmen jedoch zu und führten schliesslich dazu, dass Rabbiner Dr. Felix Blau (1861–1932) 1923 in Stadtschlaining kündigte und nach Oberwart zog. Der darauffolgende Rechtsstreit um den offiziellen Rabbinatssitz ging zugunsten Oberwarts aus, und 1930 konstituierte sich die Kultusgemeinde von Oberwart, welcher nun umgekehrt Stadtschlaining angeschlossen wurde. Die Gemeinde verfügte über eine Synagoge (heute: Zentralmusikschule) mit Rabbinerhaus und eigenem Friedhof. Der jüngsten Kultusgemeinde des Burgenlandes war jedoch nur eine kurze Existenz gegönnt: Nach acht Jahren wurde sie 1938 gewaltsam aufgelöst.

 

Gesellschaftliches Leben

Die jüdische und die nichtjüdische Bevölkerung des Ortes hatte nicht nur, wie oft üblich, im wirtschaftlichen Bereich Kontakt, sondern auch im gesellschaftlichen. Dies ist vor allem in den 1930er Jahren als aussergewöhnlich anzusehen, als der Antisemitismus in Österreich zunahm, viele Vereine einen Arierparagraphen einführten und jüdische Mitglieder ausschlossen. In Oberwart hatten Juden und Jüdinnen jedoch regen Anteil am gesellschaftlichen Leben; sie waren nicht nur in jüdischen, sondern auch in nichtjüdischen Vereinen (Kultur- und Sportverein, Verschönerungsverein et cetera) tätig, teilweise selbst in führenden Positionen. Jüdische Veranstaltungen wurden ferner auch von „Andersgläubigen“ besucht, und an jüdischen Begräbnissen nahmen Trauergäste „ohne Unterschied der Konfession“ teil. Beides zeigt die neologe Ausrichtung der Gemeinde an.

 

Antisemitismus und NS-Zeit

Dieser hohe Grad der Integration kann jedoch nicht über den dennoch vorhandenen, in der Zwischenkriegszeit zunehmenden Antisemitismus hinwegtäuschen. Gleichwohl wähnten sich viele im Ständestaat geschützt und wurden von der NS-Machtergreifung im März 1938 überrascht. Diese wurde auch in Oberwart noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen vollzogen. Die jüdische Bevölkerung wurde diskriminiert, entrechtet, ihres Vermögens beraubt (arisiert), vertrieben. Im Juli 1938 erklärte die Tagespost, im Burgenland wären „die Juden [...] zur Gänze verschwunden“.

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Ansichtskarte von Oberwart/Felsőőr, undatiert, Atelier Karner. Links: r.-k. Kirche, Mitte: Synagoge, dahinter: evang. Kirche H.B., rechts: evang. Kirche A.B., Quelle: U. Mindler-Steiner, mit freundlicher Genehmigung.

Nachkriegszeit

1945 waren die Oberwarter Jüdinnen und Juden entweder ermordet worden (wie zum Beispiel die Familie Stössel) oder befanden sich in der Emigration (wie die Familie Löwy). Nur wenige kehrten in ihren Heimatort zurück – aus dem Konzentrationslager kommend (wie Max Schein) beziehungsweise aus dem Exil (wie die Familie Glaser). Das Schicksal der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ist bislang ungeklärt. Wenn auch heute keine Juden und Jüdinnen mehr in Oberwart leben, so gelang es den Nationalsozialisten dennoch nicht, sie aus der Geschichte auszulöschen. Nicht zuletzt erinnert ein Gedenkweg an die ehemals lebendige jüdische Gemeinde.


Nachlese (Auswahl)

Gedenkweg: https://www.gedenkweg.at/gedenkweg-oberwart

Hosemann, Simon: Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Oberwart/Felsőőr. Unveröffentlichte Diplomarbeit, TU Wien 2015. Vgl. dazu auch Simon Hosemanns Coverbeitrag in DAVID, Heft 113, Sommer 2017.

Mindler, Ursula: Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarischen/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsőőr. Innsbruck 2011.

Mindler, Ursula: Die jüdische Gemeinde von Oberwart/Felsőőr. Oberwart 2013.

Tschögl, Gert: Geschichte der Juden in Oberwart: In: Baumgartner/Müllner/Münz (Hg.): Identität und Lebenswelt. Eisenstadt 1989, S. 116–127.