Ausgabe

Die Leiden entwurzelter jüdischer Seelenkrüppel in der Armee des Zaren

Christoph Tepperberg

Inhalt

Bella Liebermann: Das Kupfermeer. Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Kollenbach. 

Sofia: Verein der Schriftsteller Bulgariens 2021.

340 Seiten, Euro 19,90.-

ISBN: 978-954-92921-8-3

 

Ausgangspunkt für Bella Liebermanns Roman ist das in der russischen Armee unter Zar Nikolaus I. (1796–1855) eingeführte System der Kantonisten. Während einer Inspektionsreise durch Weissrussland, wo Juden als Händler, Gewerbetreibende und Schankwirte lebten, soll der Zar zur Erkenntnis gelangt sein: „Die Juden hier sind wirkliche Blutsauger, die diese Gouvernements aussaugen und völlig auszehren.“ Nach seiner Meinung waren es die Juden, die für den Niedergang der Landwirtschaft verantwortlich waren. Zur Verbesserung der Situation fasste er den bösartigen Plan, Juden durch Ableistung eines langen Wehrdienstes unter aussergewöhnlichen Bedingungen umzuerziehen. So kam es 1827 zu jenem schrecklichen Zarenerlass, der Kinder und Jugendliche bereits im Alter von 12-18 Jahren zum Wehrdienst zwangsverpflichtete, die sogenannten Kantonisten. Die Kinder von Juden, aber auch von „Zigeunern“ und von polnischen Aufständischen wurden in entfernte Garnisonen verschleppt. Und ab dem 18. Lebensjahr wartete ein 25jähriger Militärdienst auf die Unglücklichen. Wer diese Zeit überlebte, war mit 43 Jahren ein ungebildeter, roher, seelischer Krüppel, abgeschnitten von Familie, Traditionen und Religion. Offenbar versuchten viele jüdische Burschen Russlands aus Angst vor der Rekrutierung über die Grenze zu fliehen, sich zu verstecken oder selbst zu verstümmeln. Um diese dienstuntauglich zu machen, tat sich für manchen Arzt ein neuer Erwerbszweig auf: Amputationen und Verstümmelungen von Jugendlichen. Erst unter Zar Alexander II. (1818–1881) wurde das unsinnige Kantonisten-System 1856 wieder abgeschafft. (Vorwort der Autorin S. 7-14 und Historische Einführung S. 17-21) Es gab damals in vielen europäischen Armeen die Zwangsrekrutierung und lange Wehrdienstzeiten. So bestand etwa in der Habsburgerarmee bis 1802 eine lebenslange Dienstpflicht. Die Rekrutierung von Kindern war allerdings die Ausnahme, ebenso die Erschwernis für ethnisch-religiöse Minderheiten. 

 

Der Roman

In Das Kupfermeer entwirft die Autorin ein breites Pano-
rama russisch-jüdischen Lebens im 19. Jahrhundert: das jüdische Schtetl, die endlosen Strassen in Russlands Schnee, das lebendige Moskau, der Hof eines jüdischen Zaddiks und die brutale Armee von Zar Nikolaus I. Vor diesem Hintergrund erzählt die Autorin das tragische Schicksal des Jungen Itzik, der als Kind entführt, zwangsrekrutiert und zum Opfer der unmenschlichen Politik des Zaren wurde. Diese dramatische Geschichte, das Schicksal des Buben, verbindet Bella Liebermann mit den Geschehnissen jener Zeit. Kupfermeer war ein Gefäss in der Nähe des Tempels von Jerusalem, in dem sich die Priester vor der Darbringung des Opfers die Hände waschen mussten. In Exodus 30,18 heisst es:

 „Mache ein Becken aus Kupfer und sein Gestell aus Kupfer zur Waschung und setze es zwischen das Zelt der Zusammenkunft und den Altar […] Und Aharon und seine Söhne sollen darin waschen ihre Hände und ihre Füsse. Wenn sie hingehen in das Zelt der Zusammenkunft, sollen sie sich mit Wasser waschen, dass sie nicht sterben.“ 

Das Kupfermeer ist also nicht nur eine Geschichte des Untergangs, sondern auch eine Geschichte der Reinigung. 

 

Zur Autorin

Bella Liebermann ist im russisch-ukrainisch-weissrussischen Dreiländereck, später in Moldawien aufgewachsen. Dort war sie von Kindheit an mit der osteuropäischen jüdischen Kultur in Berührung gekommen. Ursprüngliches jüdisches Leben unter dem Eindruck des Holocaust erlebte sie in ihrer Familie. Diese Erinnerungen, die dortige Musik, Landschaft sowie Lebens und Denkweise der Menschen inspirieren sie als Schriftstellerin und Musikerin mit ihrem Ensemble.