Der Frühwinter 1999 bedeutete das Aus für die kleine jüdische Gemeinde, aus rund sechzig Juden bestehend, in Kosovas Hauptstadt Pristina. Über den Neubeginn: Ein Bild-Essay.
Die jüdische Gemeinde von Pristina endete mit der Vertreibung ihres Vorsitzenden Cedomir Prljinčević durch die albanischen Banden, die nach dem Einmarsch der NATO raubend und mordend durch die Stadt zogen. In späteren Interviews wurde Prljinčević nicht müde zu betonen, dass es sich nicht um Albaner aus dem Kosova gehandelt habe, mit denen sich die serbischen Einwohner gut verstanden hätten, hatten sie doch Generationen miteinander gelebt. Die Eindringlinge stammten seinem Eindruck nach – er stützte sich dabei auf sprachliche Kriterien – aus Albanien.
Ruzhdie Shkodra am Grab seiner Grossmutter Hana Mois Rubenic.
Als Zweijähriger aus der kleinen Stadt Desivojce nach Pristina gekommen, hatte er sein ganzes Leben hier verbracht und alle Kraft in den Aufbau der jüdischen Gemeinde gesteckt. Legendär sind die „Jüdischen Filmwochen“ in Pristina, die Feste nach dem jüdischen Kalender, mit internationalen, multireligiösen, multiethnischen Gästen. Foto: L. Reich, mit freundlicher Genehmigung.
Aus dem Telefonbuch suchten sie serbische Namen und Adressen in nobleren Wohnvierteln, standen mit Maschinenpistolen im Anschlag vor den Wohnungstüren, auf die sie albanische Namen schrieben, und forderten die Bewohner mit Gewalt oder durch das Setzen einer kurzen Frist auf, zu verschwinden. Prljinčević gelang es noch, binnen dieser Frist Hilfe von britischen KFOR-Soldaten zu erbitten. Der britische Major liess sich aber zu keinem Eingreifen in die Vorgänge bewegen, auch nicht, als Prljinčević, ein Mann in höherer Position – Milošević hatte ihn zum Direktor der Kosova-Archive gemacht – sich mit einem Dokument als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde ausweisen konnte. Sein Vorfahre war im 16. Jahrhundert aus Spanien ins Amselfeld gekommen und hatte hier Fuss gefasst, nun musste Cedomir zusammen mit seiner mehr als achtzig Jahre alten Mutter die Wohnung im elften Stock eines komfortablen Hochhauses verlassen. Die Mutter, die unter den Nationalsozialisten Bergen-Belsen überlebt hatte, erlitt einen Herzanfall, als plötzlich zehn Bewaffnete in der Wohnung standen und sie hinauswarfen. Sie war Jüdin, hatte in Pristina einen Serben nach orthodoxem Ritus geheiratet, von den Juden aber keine Erlaubnis erhalten, zur Orthodoxie zu konvertieren. Auf Intervention Israels bekamen Mutter und Sohn Militärschutz bei ihrer Flucht nach Belgrad, wo sie sich auf eine Übersiedlung nach Israel vorbereiten konnten. Prljinčević hatte alle Dokumente, die das jüdische Leben in Kosova betrafen, mitgenommen. Sie befinden sich seit 1999 in Serbien, wo sein Bruder Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde ist.
Zwei Jahrzehnte später treffe ich in Pristina auf eine vor Leben sprühende jüdische Gemeinde. Sie ist klein, entfaltet aber eine rege und von der Allgemeinheit wohlwollend akklamierte kulturelle Tätigkeit. Sie ist mit allen anderen religiösen Gemeinden gut vernetzt, besonders mit dem Sufi-Orden der Bektashi befreundet, in dessen Tekke in Gjakova sie gerne die Bibliothek benutzt. Kosova, der jüngste Staat Europas, hat die modernste Verfassung von allen multireligiösen, multiethnischen, multisprachlichen Staaten der Welt. Und die Juden waren stark daran beteiligt, die Gleichberechtigung in jeder Hinsicht in der Gesetzgebung zu verankern.
Synagogenentwurf. Ein grosses Anliegen war Shkodra die Erhaltung der diversen jüdischen Friedhöfe, nicht nur des historischen Sefardenfriedhofs im Stadtteil Velania in Pristina, sondern auch des ältesten Friedhofs in Novo Brdo, dem berühmten Bergbauort mit jüdischem Bevölkerungsanteil seit dem 15. Jahrhundert. Die Zeit drängt, denn die Gräber sind zum grössten Teil bereits im Boden versunken. Mit dem Innenministerium verhandelte Shkodra zumindest um eine Zufahrtsmöglichkeit. Foto: Bet Israel Kosovo, mit freundlicher Genehmigung: L. Reich.
Pristina feiert die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Israel. Im Gegenzug für die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovas erkannte der mehrheitlich muslimische Balkanstaat das sowohl von Palästinensern als auch Israel beanspruchte Jerusalem als Hauptstadt Israels an und eröffnete am 13. März – als erster europäischer Staat – dort seine Botschaft. Eine von Votim Demiris Töchtern, nämlich Ines Demiri, die lange am kosovarischen Konsulat in New York gearbeitet hatte, wurde die erste Botschafterin der Republik Kosova in Israel. Foto: www.bing.com/images, 8.6.2022, 12:24 h
Bet Israel Kosova wurde mit 45 Personen am 23. April 2008 gegründet, der Präsident, Ruzhdie Shkodra, hat grosse Aufbauarbeit geleistet. Zwei seiner Kinder gingen zum Studium nach Israel. Seinen Wunsch, im Alter ebenfalls dort zu leben, wollte er sich erst nach dem Erreichen seines grössten Zieles erfüllen: einer Synagoge in Pristina. Die Stadt hatte drei Synagogen, die letzte wurde erst 1963 abgerissen – durch die damalige kommunistische Regierung. Die Juden verhandeln seit 18(!) Jahren mit den Behörden wegen eines Bauplatzes für eine neue Synagoge. Die Pläne eines jungen Architekten-Duos liegen fertig in der Lade.
Nachlese
Hofbauer Hannes, Die Vertreibung des Cedomir Prlincevic; In: Europa erlesen. Kosovo. Wieser Verlag 2021.
Reich Ludwiga, Paradise regained – Kosova heute. MyMORAWA Verlag 2022.
https://oralhistorykosovo.org
www.epochtimes.de
Chanukka. In den Schulen wurden Klassen mit Israel-Schwerpunkt eingerichtet, Absolventen können nach dem Schulabschluss ein Gratisjahr an einer Schule in Tel Aviv anhängen. Im Büro von Bet Israel in der Fehmi Agani in Pristina kreuzten sich viele internationale Fäden. Foto: Bet Israel Kosovo, mit freundlicher Genehmigung: L. Reich.
Flaggen vor dem Büro. Shkodra, der mir viele jüdische Plätze gezeigt hatte, mich zum Grab seiner Grossmutter in Novo Brdo mitgenommen und mich mehrmals zu wundervollen Feiern zu Rosch Haschana eingeladen hatte, freute sich riesig auf das Buch Paradise regained – Kosova heute, in dem zum ersten Mal der Sefardenfriedhof dokumentiert wird. Er sollte das Erscheinen des Buches nicht mehr erleben. Am 9. Mai 2021 verstarb er plötzlich unerwartet. Es wirkt wie eine Fügung, dass am 10. Mai 2022, dem Jahrestag seines Begräbnisses, das Buch in der Nationalbibliothek in Pristina präsentiert wurde. Foto: L. Reich, mit freundlicher Genehmigung.
Dr. Hysen Hyseni im neuen Büro. Dr. Hysen Hyseni setzt die Arbeit seines Vorgängers fort, veranstaltet Feste nach dem jüdischen Kalender. In Kosova gibt es keinen Rabbi. Der letzte Rabbiner von Pristina, Rabbiner Josif Levi, amtierte bis kurz vor dem Holocaust. Damals umfasste die jüdische Gemeinde in Kosova rund 1.700 Mitglieder. Heute kommt der Hauptrabbi aus Saloniki herüber, nach Pristina ebenso wie nach Skoplje, nach Tirana. Kein kosovarischer Jude ist Mitglied irgendeiner politischen Partei. Aber das Verhältnis zu allen Parteien ist sehr gut, man erhält von allen Seiten Unterstützung. Wichtig ist der jüdischen Minderheit, dass alle Kinder in Kosova über Antisemitismus und Holocaust informiert werden müssen und dass Kurse für Hebräisch stattfinden. Im Augenblick liegt das Hauptaugenmerk von Bet Israel auf der Vergrösserung der Gemeinde. Sie umfasst laut Vorsitzendem 57 jüdische Mitglieder. Vor allem in der Diaspora, in Deutschland und der Schweiz, wird nach Personen gesucht, die womöglich gar nicht wissen, dass sie jüdische Wurzeln haben. Ein neues Projekt in diese Richtung involviert Personen mit ottomanischer Sprache, die in alten Dokumenten nach Juden in der ottomanischen Periode suchen sollen. Man will ihre Nachfolger identifizieren und sie in die Gemeinde aufnehmen. Die Stadt Prizren, seit Jahrhunderten das eigentliche kulturelle Zentrum Kosovas, war immer schon ein Anziehungspunkt für Juden gewesen. Dort existiert die Jüdische Gemeinde Kosovas unter Führung von Votim Demiri. Er wurde als Sohn einer jüdischen Mutter, die einen Albaner geheiratet hatte, 1945 in Prizren geboren. Nach seinem Studium an der Technischen Universität Belgrad, das er 1969 abschloss, ging er nach Prizren zurück. Unter anderem arbeitete er dort zehn Jahre als Generaldirektor einer Fabrik mit 2.600 Mitarbeitern. Er erhielt verschiedene Auszeichnungen und war Minister in der damaligen Provinz Kosovo. Von 1988 -1992 war er Vorsitzender der Kammer für Handel und Industrie Ex-Jugoslawiens in Paris. Seit 2002 steht er der Jüdischen Gemeinde Kosovas vor, er ist Mitglied des European Jewish Parliament seit 2013, des Euro Jewish Congress seit 2015 und des World Jewish Congress seit 2017. Foto: L. Reich, mit freundlicher Genehmigung.
Votim Demiri mit seiner Tochter Ines. Die beiden jüdischen Gemeinden in Prizren und in Pristina verbindet das gleiche Bestreben: erstens, mit Israel gute Beziehungen zu gestalten, und zweitens, für ihre Mitglieder Synagogen zu bekommen. Während sich die Verhandlungen in Pristina weiter hinziehen, ist man in der Erreichung des zweiten Ziels in Prizren schon ein Stückchen vorangekommen, allerdings nur durch einen Kompromiss. Es wird derzeit keinen Neubau einer Synagoge geben, aber die Gemeinde hat ein Haus für ein Museum zur Verfügung gestellt, in dem es auch einen Betraum für die jüdische Bevölkerung geben soll. Die Beziehung zu Israel war seit 2008 geprägt durch die fehlende Anerkennung des neuen Staates Republik Kosova durch Israel. Aber 2021 war es endlich so weit. Am 1. Februar 2021 wurden diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Staaten aufgenommen. Foto: Ines Demiri, mit freundlicher Genehmigung: L. Reich.
Ihre Exzellenz Botschafterin Ines Demiri vor der Botschaft Kosovas in Jerusalem. Foto: Ines Demiri, mit freundlicher Genehmigung: L. Reich.
Asije Rrahmani, Witwe von Ruzhdie Shkodra, übernimmt von der Autorin das Buch Paradise regained nach der Präsentation in der Nationalbibliothek Pristina. Am Vortag, dem 9. Mai 2022, empfing mich sein Nachfolger, der Anästhesist und Intensivmediziner Dr. Hysen Hyseni zu einem Interview im neuen Büro von Bet Israel Kosovo im Grand Hotel Pristina. Seine Mutter war die beste Freundin der Mutter von Cedomir Prljinčević gewesen. Vor seiner Wahl zum Vorsitzenden war er Mitglied im Vorstand, von dem er am 15. Juli 2021 gewählt wurde. Stolz verweist er darauf, dass Bet Israel Kosova die erste registrierte Judengemeinde in Kosova war. Foto: Bet Israel Kosovo, mit freundlicher Genehmigung: L. Reich.