Ausgabe

Briefe von Wiener Emigrantinnen

Christoph Tepperberg

Inhalt

Ernst Strouhal: Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt.  

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2022. 

416 Seiten, Euro 28,80.-

ISBN: 978-3-552-07312-8; E-Book ISBN: 978-3-552-07332-6

 

Im Fokus von Ernst Strouhals Wiener Familiengeschichte stehen vier Schwestern: Gerda (geb. 1915), Frieda (geb. 1916), Ilse (geb. 1918) und Susanne (geb. 1923). Die Vier waren Töchter bzw. Enkelinnen von Ernst Martin Benedikt (1882–1973) und Moriz Benedikt (1849–1920), Herausgebern der liberalen Neuen Freien Presse. Lebensmittelpunkt der Mädchen war bis zum Anschluss 1938 die Villa der Familie Benedikt, Himmelstrasse Nr. 55, im damals noch sehr ländlich geprägten Grinzing. Die keineswegs elegante, jedoch weitläufige Villa "im Himmel 55" mit Hund und Garten trugen wesentlich zur Glückseligkeit der Kinder bei. In unmittelbarer Nachbarschaft wohnten Elias Canetti (1905–1994) und dessen Gattin Veza (1897–1963), die sich zusammen mit anderen Schriftstellern, Journalisten, Künstlern und Musikern zu den Soireen der Benedikts einfanden. Der Anschluss 1938 bereitete dem privilegierten Dasein der vier Mädchen und der Familienidylle im warmen Nest ein jähes Ende. Die elterliche Villa wurde arisiert. Ihre Flucht erfolgte zwischen 1938 und 1939 in unterschiedliche Richtungen: Susanne entkam gemeinsam mit den Eltern nach Stockholm und lebte danach in Paris. Ilse floh nach Zürich um zu studieren, Gerda emigrierte nach New York, Friedl nach London. Alle vier wählten unterschiedliche Berufe, hatten unterschiedliche politische Einstellungen und Lebenspartner: Ilse wurde Ärztin und war nach dem Februar 1934 kommunistischen Ideen verpflichtet, Susi war entschlossene Antikommunistin und Redakteurin beim amerikanischen Radio Free Europe in Paris, Gerda, Sozialarbeiterin in New York, war eine klassische Liberale, die Sigmund Freud verehrte, Friedl schliesslich, englische Schriftstellerin mit dem Pseudonym Anna Sebastian und zeitlebens mit Elias Canetti verbunden, "glaubte an die Kunst und sonst nichts". 

Das Buch schöpft aus den Nachlässen, die der Autor aus den Domizilen der Schwestern in Wien, Paris, Zürich und New York zusammengetragen hatte. Es handelt sich dabei neben Ausweisen, Publikationen, Zeichnungen, Fotografien, Zeugnissen und Tagebüchern vor allem um mehrere tausend Briefe, die in mehreren Jahrzehnten zwischen New York, Wien, Zürich, Paris, Stockholm und London hin- und her geschickt worden waren. Nur eine der Vier kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurück: Ilse, die Mutter des Autors. Nach 1938 trafen die Schwestern nie wieder zu viert zusammen. Der familiäre Zusammenhalt verlagerte sich während und nach dem Krieg in die Briefe und es gelang ihnen über das Medium Brief so etwas wie "Familiarität in der Diaspora" herzustellen. Ganze Passagen des Briefverkehrs sind im Buch (im Kursivdruck) wiedergegeben. In ihren Briefen und Erinnerungen wird ihre Wiener Kindheit und turbulente Jugend in grossbürgerlichen Verhältnissen beleuchtet, die Vertreibung aus Wien, das Überleben im Krieg; sie erzählen schliesslich über ihre Versuche, sich in den veränderten Lebenssituationen zurechtzufinden und eine Existenz in der Nachkriegszeit aufzubauen. Alle vier Schwestern konnten hervorragend erzählen und waren grossartige Briefstellerinnen. Sie hatten auch viel gestritten, waren selten einer Meinung. Die Briefe sind voller Sehnsucht, dennoch launig, mit unsentimentalem Witz, galligem Humor, bisweilen verzweifelt und von drastischer Offenheit. Ernst Strouhal lässt uns in seinem Buch an versunkenen Welten teilhaben: an der Welt europäischer Briefkultur und der des assimilierten europäischen Judentums. 

Zum Autor

Ernst Strouhal, geboren 1957, Professor an der Universität für angewandte Kunst in Wien, Autor und Publizist, Mitarbeit bei Ausstellungen, u. a. Ein Lied der Vernunft (Jüdisches Museum der Stadt Wien 1996), Spiele der Stadt (Wien Museum 2011); letzte Publikationen: Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten (2015), Böse Briefe. Zur Geschichte des Drohens und Erpressens (gem. mit Christoph Winder, 2017) und Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen (2019); Strouhal erhielt 2010 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.