Ausgabe

Der Pass mein Zuhause

Arno Tausch

Inhalt

 

Andrei S. Markovits: Der Pass mein Zuhause. Aufgefangen in Wurzellosigkeit. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Robert Zwarg. Mit einem Vorwort von Michael Ignatieff. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Hans Ulrich Gumbrecht. Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 26. Berlin: Neofelis Verlag 2022.

326 Seiten, Euro 18,00.-

 ISBN: 978-3-95808-350-9

 

Der Pass mein zu Hause. Aufgefangen in Wurzellosigkeit erschien im Neofelis Verlag in Berlin und ist die deutsche Ausgabe der Autobiographie (The Passport As Home: Comfort In Rootlessness) des bekannten amerikanischen Politikwissenschaftlers Andrei S. Markovits, die auf Englisch durch die Central European University Press 2022 publiziert wurde und nun von Robert Zwarg hervorragend und im kurzen Zeitabstand zur amerikanischen Originalausgabe übersetzt wurde. Nach den 326 Seiten Text in deutscher Sprache wird die Leserschaft unter anderem die grosse Zuneigung des Autors nicht nur für analytische Politikwissenschaft, Sport und italienische Oper erkennen, sondern auch für verschiedene Sprachen – Rumänisch, Ungarisch, Deutsch, und Englisch – und am besten gleich die englische und die deutsche Ausgabe ob der vielen sprachlichen Nuancen und Feinheiten gleichzeitig verschlingen. 

 

Der kleine, aber feine Neofelis Verlag in Berlin sollte jedenfalls von Autoren und Lesern nicht nur wegen des vorliegenden Bandes wohlwollend bemerkt werden. Zahlreiche Studien zur jüdischen Kultur und Geschichte in Europa, Titeln zu den kulturellen Erzählungen der südlichen Ozeane; Afrikanische Gedanken zur kolonialen und neokolonialen Welt; zum Bosnien- und Kosovo-Krieg im Spiegel der deutschen Printmedien u.a. haben laut dem globalen Bibliotheks-Verbundkatalog OCLC Worldcat die Aufmerksamkeit der globalen Bibliotheken hervorragend erreicht. Das gleiche gilt natürlich auch für die Central European University Press, die ab 2015 über 2.400 Titel publizierte, wobei 137 mehr als 500 globale Bibliotheken erreichten.1 In zwölf Kapiteln erzählt Markovits in diesem flott geschriebenen und oft humorvollen Werk seine Geschichte, die vor allem für die jüdische Studentenjugend in Europa und für alle, die sich mit Israel solidarisieren, wichtige Implikationen enthält. Andrei Steven Markovits wurde am 6. Oktober 1948 in Timișoara, Rumänien geboren und ist seit 1999 der Karl W. Deutsch Collegiate Professor of Comparative Politics and German Studies an der University of Michigan in Ann Arbor (USA). Im März 2009 verlieh ihm die University of Michigan zusätzlich den Arthur F. Thurnau Lehrstuhl als Auszeichnung für seine Verdienste in der Lehre und der Unterstützung der Studierenden an der University of Michigan. Sehr witzig und kritisch in Richtung der politikwissenschaftlichen Branche bemerkt er in dem Buch denn auch, dass bei Wissenschaftler-Konferenzen ein Raunen durch die Menge geht, wenn Autoren von Artikeln in renommierten Fachzeitschriften auftauchen, aber niemand scheint es zu kümmern, wenn jemand in der akademischen Lehre sich ausgezeichnet bewährt. 

 

Markovits wurde also 1948 in eine jüdische Familie in jener Zeit geboren, nachdem in der Shoah nicht weniger als 28 nahe Verwandte umgekommen waren. Eine leichte Kindheit hatte Markovits nicht: im Alter von zehn Jahren starb seine geliebte Mutter an schwerer Krankheit. 1958 sollte auch sonst ein entscheidendes Jahr in der Lebensgeschichte des jungen Andrei werden. Im August erhielt der Vater, der sich in all den Jahren liebevoll um seinen Sohn kümmerte, und der bis ins hohe Alter sein Wegbegleiter und Freund war, die Möglichkeit, aus Rumänien auszureisen, und am 1. September 1958 setzte sich der Zug mit den Markovits an Bord in Richtung Budapest als Zwischenstation nach Wien in Bewegung. Markovits verbrachte die prägenden Jahre seiner Jugend mit dem Status eines staatenlosen Flüchtlings in Wien und dann während der Sommer in New York, und er war während dieser Jahre auch ein aktives Mitglied der IKG und feierte dort seine Bar Mitzwa. Schon in Timișoara hatte der Autor am jüdischen Gemeindeleben aktiv teilgenommen.  Ein Leuchtturm seiner Zeit als Mittelschüler am Wiener Theresianum war sein Engagement in der zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair. 1960 erfolgte die erste Reise nach New York und ab September 1967 begann er sein Studium an der dortigen Columbia University. Der Traum des Vaters erfüllte sich. Die erste Zeit an der Columbia war für Markovits sehr hart – und der Unterschied zwischen dem schablonenhaften europäischen Bildungssystem und der analytisch-schöpferischen Vorgangsweise in den Lehrveranstaltungen der grossen U.S.-Universitäten wurde ihm bitter bewusst.

 

Durch seinen Fleiss und seine grossen Sprachkenntnisse fand er leicht Anschluss an sehr berühmte Lehrpersönlichkeiten, beginnend mit Professor Robert Austerlitz (1923 – 1994). Hinzu kam, dass amerikanische Professoren ihm nicht als die unnahbaren und oft arroganten „G'tter“ auf den Lehrkanzeln Europas entgegentraten, sondern als Lehrpersonen, die am Wissenserwerb der Studierenden ein grosses Interesse hatten. Schon im Jahr 1968, dem Jahr der Studentenrevolution, wurde ihm aber auch klar, dass - bei aller Sympathie für sozialdemokratische oder sozialistische Ideen – in der neuen Bewegung, insbesondere im den U.S.-Campus damals dominierenden SDS, sich auch ein Totalitarismus entfaltet. Diese Erfahrungen spielen im späteren akademischen Wirken von Professor Markovits eine wesentliche Rolle. Sehr prägend sind auch seine Erinnerungen an den despektierlichen Umgang der linken Berliner Studenteneliten mit ihren Kolleginnen und Kollegen in der Tschechoslowakei des Reformprozesses 1968. Statt ein Ideologe zu werden, wurde Markovits Politikwissenschaftler, und 1972 begann seine Zusammenarbeit mit dem weltbekannten Sozialwissenschaftler Seymour Martin Lipset (1922 – 2006). Ab 1975, als er seine 567 Seiten lange Doktorarbeit über die rechtsradikalen Studierenden in Österreich schrieb (The Austrian Student Right: A Study In Political Continuity. Thesis, Columbia University) begann auch seine Zusammenarbeit mit dem Harvard Center for European Studies und seine fruchtbringende akademische Zusammenarbeit über viele Jahre mit dem Harvard-Professor Karl Wolfgang Deutsch (1912 – 1992). An ihm lernte er das unumwundene, empirisch-analytische, mit Statistik und Mathematik arbeitende Politikwissenschaftsverständnis zu schätzen. Viele Abschnitte dieser Autobiographie sind einfach rührend, etwa als Markovits davon erzählt, dass er nach all den Stationen seines Lebens – unter anderem als staatenloser Jude aus Osteuropa im Wien der Nachkriegszeit zu leben – nun so stolz darauf war, einen Pass, und zwar den U.S. amerikanischen, zu besitzen, den er auch bei jeder Gelegenheit, statt wie sonst in Amerika üblich, den Führerschein, präsentierte. Vieles ist wirklich lustig, etwa, als er seinem Vater das Ticket für das Fussball-Europapokal-Endspiel am 27. Mai 1964 im Praterstadion „abluchste“. Inter Mailand – für Markovits damals das demokratische Bollwerk gegen die spanischen „Faschisten“ – gewann mit 3:1 gegen Real Madrid zum ersten Mal den Pokal. Ins wahrhafte Schwärmen gerät der Autor, wenn er über die damaligen Fussballstars Sandro Mazzola (Inter Mailand) und Ferenc Puskás (Real Madrid) spricht. 

 

Als drei Jahre jüngerer Rezensent, ebenso wie Markovits früherer Mitarbeiter von Karl Wolfgang Deutsch (wenn auch nur Forschungsgast im Sommer 1980), und ebenso wie Markovits – wenn auch nur für ein Semester – Inhaber einer U.S. amerikanischen, auf dem freien Stellenmarkt gewonnenen Professur (Gastprofessor an der University of Hawaii, Sommersemester 1990) kann ich den positiven Amerika-Befund von Markovits nur teilen, und Amerika ist für Markovits alles in allem doch tatsächlich immer noch die weithin ausstrahlende City upon a Hill, die sich durch akademische Exzellenz, intellektuelle Offenheit, kulturelle Vielfalt und religiöse Toleranz auszeichnet. Dies ist die optimistische, trotz Donald Trump sicherlich diskutierenswerte Botschaft des Buches.

 

Anmerkung

1      Recherche des Rezensenten mit seinem OCLC First Search Zugang als Gastprofessor der University of the Freestate in Bloemfontein in Südafrika.