Nach 1848 zogen – bedingt durch die rasante Industrialisierung – viele Rechnitzer Juden in die Grossstädte, wo Gewerbefreiheit herrschte.
Im Jahr 1850 hatte Rechnitz 4.382 Einwohner, darunter 868 Juden. Bis 1880 hatte sich die Judengemeinde fast halbiert. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfolgte eine markante Abwanderung in die Wirtschaftszentren Ungarns: Szombathely (dt. Steinamanger), Győr (dt. Raab),
Pozsony (dt. Pressburg, slowak. Bratislava) und Budapest. Zudem wanderte eine grosse Zahl von Rechnitzer Juden nach Kroatien aus, sodass im Jahr 1900 nur mehr 311 Juden in Rechnitz lebten. Auffallend ist, dass zu dieser Zeit neunundachtzig(!) Rechnitzer Handelsbetriebe in jüdischem Besitz waren.
Die Zentren jüdischen Lebens waren: Herrengasse, Hauptplatz, Klostergasse und Judengasse. Herrengasse: Spiegler Adalbert, 5, Gemischtwaren, Baumaterial, Landesprodukte; Margarethen Julius, 7, Gemischtwaren; Schreiner Leopold, 14, Schnitt- und Gemischtwaren; Holzer David, 16, Fellhändler; Spiegel Wilhelm, 16, Schnittwaren und Landesprodukte; Spielmann Fanny, 18, Gemischtwaren; Fellner Leo Max, 24, Gemischtwaren, Eisen, Landesprodukte, Baumaterial; Spitzer Leopold, 31, Fellhändler; Adler Mathilde, 35, Lederwaren; Steuer Samuel, 39, Pferdehändler; Kertesz Moritz und Laura, 57a, Spengler und Badeanstalt. Hauptplatz: Engel Viktor, 6, Gemischtwaren; Mayer Katharina, 12, Schnittwaren; Hirschler Karoline, 13, Eisenhandlung; Schönwald Philipp Franz, 17, Schnittwaren; Spiegel Emil, 20, Trafikant; Spiegel Gottlieb, 20 u. 21, Gemischtwaren; Spiegel Sophie, 21, Benzinverkäuferin. Klostergasse: Dr. Grünfeld Ludwig, 2, Arzt; Stern Josef, 7, Fotograf; Breuer Eduard, 17, Fellhändler; Holzer Adolf 17, Holz- und Schnapsagent. Judengasse: Weiss Friedrich, 10, Gemischtwaren; Benau Moritz, 16, Lederhandlung; Frankl Heinrich, 31, Gasthaus; Fellner Hugo, 31, Schnittwaren.
Leo Blau mit seiner Schwester Riza und seinem Schwager Rechnitzer. Foto: Archiv Dr. Herbert Gossi, mit freundlicher Genehmigung.
Einige über Rechnitz hinaus bekannte Persönlichkeiten
Joachim Heitler war Direktor der Israelitischen Schule in Rechnitz und ein Mann mit vielseitiger Begabung. Er war Aufsichtsrat der ältesten Rechnitzer Sparkasse und profilierte sich auch publizistisch und schriftstellerisch. So war er Mitarbeiter des Deutschen Volksblatts in Szombathely und verfasste die Sage vom Öden Schloss. Seine Arbeit ist durchdrungen vom Bemühen um Toleranz und ein friedliches Zusammenleben zwischen den Konfessionen. Heitler starb am 13. April 1918 im 76. Lebensjahr. Sein gut erhaltener Grabstein am jüdischen Friedhof in Rechnitz ist sowohl in hebräischer als auch in deutscher Sprache verfasst. Nach 1945 kehrte bloss eine jüdische Familie nach Rechnitz zurück. Leo Blau hatte den Krieg in Shanghai überlebt, einer Stadt, die zur Rettung für all jene wurde, die weder Verwandte noch Freunde oder Bekannte im westlichen Ausland hatten und nicht länger auf ein Visum warten wollten. Leos Mutter lebte während der NS-Zeit in Palästina, seine Schwester Riza (Theresia) hatte im Exil Herrn Rechnitzer geheiratet. Nach dem Krieg übernahm Leo Blau das Geschäft seines Onkels, Hauptplatz 6, wo in der Zwischenzeit Josef Frühwirth und später KONSUM einquartiert gewesen waren. Nach Leos Tod 1959 führte seine Schwester Riza das Geschäft weiter. Mit ihr verstarb am 21. April 1984 die letzte Rechnitzer Jüdin. Heinrich Frankl war lange Jahre hindurch Vorsteher der Rechnitzer Israelitischen Kultusgemeinde. Er war auch Gastwirt, in dessen Lokal viele Zusammenkünfte der Rechnitzer Juden stattfanden. Gustav Pick, der berühmte Komponist des Fiakerlieds wurde 1832 in Rechnitz geboren; er zog 1845 nach Wien, wo er 1921 verstarb. Moritz Günsberger: Die Firma Weiss & Günsberger/Fellner in der Herrengasse 24 war ein Unternehmen, das Geschäfte mit Eisen, Mehl, Holz, Früchten und Baumaterial machte. Die Vermessung des Gebäudekomplexes zeigt für jene Zeit gewaltige Dimensionen: Verkaufslokal 73,92 Quadratmeter, Wohngebäude 174 Quadratmeter, drei Magazine mit insgesamt 550 Quadratmetern. Günsberger gründete 1931 den Rechnitzer Sportverein und war auch im Vorstand der Rechnitzer Sparkasse tätig. Im Verschönerungsverein war er die treibende Kraft für den Bau des Schwimmbads.
Riza Rechnitzer als Violinistin – Musikverein Haydn Rechnitz – Streich-
orchester 1934. Foto: Archiv der Trachtenmusikkapelle Rechnitz, mit freundlicher Genehmigung.
Die Rechnitzer Synagoge und ihre Rabbiner,
Badergasse 2 – 4
Die Rechnitzer Synagoge von 1718 hatte vierhundert Sitze und wurde weithin als Sehenswürdigkeit geschätzt. Nach dem Zuzug vieler Juden entschloss man sich zum Bau einer grossen neuen Synagoge. Auf drei Seiten befand sich eine Frauengalerie, zudem zierten eindrucksvolle Wandgemälde die Synagoge. Über dem Thoraschrein stand die Aufschrift: Er ist die Burg zum Heil des Königs. Noch vor dem Novemberpogrom von 1938 wurde die Einrichtung des Tempels zertrümmert. Es gelang bloss, einige wertvolle Kultgegenstände nach Eisenstadt, später nach Wien und Prag zu transferieren. Ein über Rechnitz hinaus bekannter Rabbiner war Maier Zipser. Nach dem Tod des orthodoxen Rabbiners Gabriel Engelsmann im Jahr 1850 folgte nach 8-jähriger Vakanz 1858 der Reformer Maier Zipser. Er war von seiner Gemeinde Stuhlweissenburg (ung. Székesfehérvár) aufgrund seiner liberalen Einstellung und seiner Modernisierungsbestrebungen gekündigt worden, worauf ihn die Rechnitzer mit offenen Armen aufnahmen. Als bedeutender Gelehrter verfasste er eine Geschichte der ungarischen Juden unter der Türkenherrschaft. Maier Zipser propagierte die Einführung der Landessprache als Predigtsprache; er erlaubte deutsche und ungarische Aufschriften auf den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs sowie in der Synagoge die Versetzung des Almemors von der Raummitte zum Thoraschrein hin. Diese Massnahme stiess auf heftigen Widerstand der Orthodoxen; sie wurde als „stilwidrig“ und „Schönheitsfehler“ bezeichnet. So weigerte sich der Mattersdorfer Rabbiner Ehrenfels strikt, die Rechnitzer Synagoge – allein wegen der Versetzung des Almemors – zu betreten. Die Rechnitzer jüdische Gemeinde war unter Maier Zipser wohl eine der fortschrittlichsten und liberalsten ungarischen Gemeinden.
Das Ende der Rechnitzer jüdischen Gemeinde
Am 13. März 1938 erfolgte die Eingliederung Österreichs in das Grossdeutsche Reich. In den jüdischen Verkaufsläden wurden zuerst Vertrauensleute der NSDAP eingesetzt, die den Geschäftsgang kontrollierten. Der jüdische Besitz wurde bei den sogenannten Arisierungen oft weit unter Wert an „Parteigenossen“ verschleudert. Die Gestapo Wien stellte im September 1940 fest: „…so viel gestohlen, unterschlagen und veruntreut wie im Burgenland wurde nirgends.“ Mitte April 1938 wurden die noch verbliebenen Rechnitzer Juden auf Autobusse verladen und in Richtung Jugoslawien abtransportiert. Nur der Arzt Dr. Hugo Graner durfte noch einige Monate länger bleiben. Dreiundvierzig Juden aus Rechnitz mussten wochenlang in einer Scheune im Niemandsland hausen. Im Juni fanden sie endlich Asyl in Jugoslawien. Nach dem Einmarsch Hitlers in dieses Land 1941 kamen viele Juden ums Leben, einigen gelang die Flucht nach Italien oder in den Fernen Osten.
Der letzte Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde in Rechnitz
Präsident: Heinrich Frankl; Vizepräsident: Max Fellner; Kultusvorstände:Viktor Engel, Dr. Hugo Graner, Adalbert Spiegler, Josef Stern, Samuel Weiss, Moritz Kertesz; Tempelvorsteher: Alexander Holzer, Adolf Holzer. Wiewohl man als Wissenschafter dazu angehalten ist, jedweder Problemstellung tunlichst sine ira et studio zu begegnen, gewannen im Zuge der Beschäftigung mit diesem Thema allmählich Personen an Konturen und Leben, und es stellten sich unweigerlich Betroffenheit, Empathie und schiere Wut ein, namentlich, wenn man in Erfahrung bringt, mit welcher Unverschämtheit sich die Machthaber und deren Vasallen am Vermögen und den Immobilien der ehemals in Rechnitz gut integrierten jüdischen Bevölkerung bereicherten und die blühende jüdische Gemeinde von Rechnitz letztendlich vernichtet haben.
Nachlese
Näheres zum Thema bei Herbert Gossi: Lebenswelten jüdischer Familien in Rechnitz im 20. Jahrhundert. Sonderheft der Burgenländischen Heimatblätter, herausgegeben vom Burgenländischen Landesarchiv, Eisenstadt: 2020. Weitere Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigt haben: Gerhard Baumgartner, Herbert Brettl, Ingke Brodersen, Alois Mandl, Gert Polster, Harald Prickler und Johann Temmel.