Ausgabe

Eine andere Jüdische Weltgeschichte

Christoph Tepperberg

Inhalt

Michael Wolffsohn: Eine andere Jüdische Weltgeschichte.

Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2023.

Taschenbuch, 368 Seiten, Euro 19,95.- (Print), Euro 13,99.- (eBook)

ISBN: 978-3-451-39656-4

 

Kaum eine Geschichte ist so spannend und wechselvoll wie der der Juden und des Judentums. Wolffsohn folgt in seiner „anderen Jüdischen Weltgeschichte“ nicht der üblichen Chronologie der historischen Ereignisse, sondern referiert – wie in den modernen Sozialwissenschaften längst allgemein üblich – die Geschichte in thematischen Zusammenhängen und Querverbindungen.

 

Michael Wolffsohn trägt damit der Tatsache Rechnung, dass Geschichte, und besonders die der Juden ohne deren Kultur, Religion und Theologie unverständlich bleibt. Wolffsohn präsentiert gewissermassen ein Geschichtskompendium der Judenheit und des Judentums, bietet mehr als nur eine weitere Erzählung der jüdischen Geschichte, die inzwischen ganze Bibliotheken füllen. Zudem entwickelte der Autor ein eigenes Narrativ von der „jüdischen Diasporaexistenz“ bzw. einer „Existenz auf Widerruf“, Begriffe, die er sowohl auf das Land Israel als auch auf die jüdischen Gemeinden in der Diaspora anwendet. Denn Juden und Jüdinnen lebten und leben immer und überall unter dem Damoklesschwert der Gefährdung, Bedrohung und dem Wissen um die Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz, in dem Bewusstsein, dass jüdisches Leben stets am seidenen Faden hängt. Daher ordnet er diese „Existenz auf Widerruf“ als Grundmuster jüdischen Lebens- und Welterfahrung beiden Säulen der Judenheit zu: nicht nur der „Diaspora“, sondern auch dem Land „Israel“. Die neuesten Entwicklungen im Nahen Osten machen dies inzwischen mehr als deutlich.

 

Der Band ist in neun Abschnitte gegliedert. Die ersten drei bringen eine Hinführung zum Thema. (I) Es beginnt mit einer Typisierung von Geschichte, Weltgeschichte und Jüdischer Geschichte. (II) Es folgt ein Abschnitt über Namen und Benennungen von Juden. (III) Der dritte Abschnitt „Volk, Nation, Religion, Schicksalsgemeinschaft und Identifikation“, beschäftigt sich mit der schon oftmals gestellten Frage, ob das Judentum als Volk, Religion, Nation oder Schicksalsgemeinschaft zu verstehen sei.

 

(IV) Der vierte, zugleich umfangreichste und wesentlichste Abschnitt des Buches ist der zentralen Materie gewidmet: „Geografie: Das Land Israel und die mehrfache Diaspora“. Wolffsohn behandelt darin die jüdische Geschichte in ihrer Vielfalt, erläutert die zahlreichen Schauplätze auf dem gesamten Globus. Er beginnt mit den rund 3000 Jahren nachweisbarer jüdischer Geschichte ab etwa 1000 v.u.Z. bis ins 21. Jahrhundert. Dabei war jüdisches Leben seit der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels durch römische Soldaten (70 n. Chr.) und der daraus erfolgten Zerstreuung der Juden im Römischen Reich bis zur Gründung des Staates Israel 1948 durch ein Leben in der Diaspora geprägt. Da Wolffsohns Buch bereits 2023 erschienen ist, umfasst seine Darstellung nicht den Massenmord der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dessen Folgen. Diese beschreibt er in seinem 2024 neu aufgelegten Spiegel-Bestseller „Wem gehört das Heilige Land“.1 Wolffsohn betreibt kritische Historiographie, bricht daher mit vielen tradierten jüdischen Narrativen, die den Ergebnissen moderner Geschichtswissenschaft (Archäologie) nicht standhalten. Ein Beispiel dafür ist das Kapitel „Moses – Der jüdische Prophet, ein Ägypter“. In diesem hält er es für wahrscheinlich, dass der israelitische Eing‘ttglaube auf den von Pharao Echnaton im 14. Jh. v.u.Z. eingeführten Monotheismus (G‘tt Aton) zurückzuführen sei. Wolffsohn räumt auch mit der heute noch verbreiteten Vorstellung von der islamischen Toleranz auf. Er unterstreicht, dass jüdisches Leben auch in den islamischen Ländern „Besser als im Okzident, doch schlecht genug“, stets auch eine „Existenz auf Widerruf“ gewesen sei.

 

(V) Es folgten zwei judaistische Abhandlungen: über Theologie und Religion (Tora, Talmud, G‘ttesvorstellungen); (VI) und über „Recht, Macht, Gewalt – Klischees und Realitäten“, also eine jüdische Religions-, Kultur- und Rechtsgeschichte. 

 

(VII) Interessanterweise hat Wolffsohn dem „Leben, Lieben, Muskeljuden – Körperlichkeit und Sex“ einen eigenen Abschnitt gewidmet. Im Zuge der jüdischen Assimilation des 19. und 20. Jahrhunderts entstand das Bild vom sportlichen und wehrhaften „Muskeljuden“ als Gegendarstellung zum tradierten christlichen Vorurteil vom schwächlichen, duckmäuserischen Juden.

 

(VIII) Der vorletzte Abschnitt „Rück- und Ausblicke“ ist den Formen und Ausprägungen jüdischen Identitätsbewusstseins gewidmet, stellt Antisemitismus, Holocaust und den Staat Israel in einen breiteren weltgeschichtlichen Zusammenhang. Der Autor schätzt heutiges jüdisches Leben in Europa als stark gefährdet ein und verweist auf den 20%igen Rückgang der Judenheit in Frankreich seit dem Jahre 2000. Dabei betont er, dass jüdisches Leben sowohl vom linken, als auch vom islamistischen Antisemitismus bedroht wird – sehr stark auch in Frankreich. Für Deutschland verweist er auf den Antisemitismusskandal bei der „documenta fifteen“ (2022 in Kassel), dann auf die alljährlichen antisemitischen Demonstrationen in Berlin am „Al-Kuds-Tag“ (den am 7. August 1979 von Ayatollah Khomeini ausgerufenen Massenprotest) und zahlreiche antisemitische Vorfälle während der letzten Jahre, auch an deutschen Schulen. Vielfach wagt es die Exekutive in Europa nicht, gegen antisemitische islamische Demonstranten vorzugehen. Für Österreich sei in diesem Zusammenhang auf die „pro-palästinensischen“ antisemitischen Ausritte am 11. Oktober 2023 auf dem Wiener Stephansplatz verwiesen: Die Kundgebung wurde zunächst behördlich untersagt, während der Ausritte aber von der Polizei grosszügig geduldet. Dies hatte auch Folgen für das weitere Verhalten von Demonstranten und der anti-israelischen Stimmung im Lande.

 

Hinsichtlich des rechtspopulistischen illiberalen Demokraten Viktor Orbán, der sich seit Jahren gegen die Einwanderungspolitik der EU wehrt, verweist der Autor auf die Tatsache, dass in Ungarn Synagogen nicht beschützt werden müssen und jüdisches Leben nicht gefährdet sei. Dabei vergisst Wolffsohn, dass Orbán tausende illegale Zuwanderer über die Grenzen nach Österreich durchwinkt und so das Zuwanderungsproblem in die EU „auslagert“. Und in Ungern hat Antisemitismus durchaus Tradition. In Österreich ist der Antisemitismus nicht ausschliesslich, aber weitgehend Import aus arabischen Ländern.

 

(IX) Im Letzen Abschnitt stellt Wolffsohn unter dem Titel „Bedeutsame Juden – eine subjektive Skizze“ eine Zusammenstellung von etwa 100 Personen vor, die aus den unterschiedlichsten Gründen Einzug in die Geschichte der Juden fanden; darunter Hannah Ahrendt, Ben Gurion, Martin Buber, Anne Frank, Herodes, Theodor Herzl, Franz Kafka, Henry Kissinger, Karl Marx, Benjamin Netaniahu, Jitzchak Rabin, Wolodymyr Selenskyj, Barbra Streisand, Leo Trotzky, Elie Wiesel und Mark Zuckerberg.

 

Der Band ist mit umfangreichen Verzeichnissen an weiterführenden Informationen ausgestattet: Enzyklopädien, Fernsehessays und -Dokumentationen, Literaturangaben.

 

Michael Wolffsohn betreibt kritische Historiographie, wobei er die komplexen historischen, religiösen und kulturellen Zusammenhänge des Judentums innerhalb des Weltgeschehens mit Sachkenntnis pointiert und spitzer Feder dargestellt. Das Narrativ von den „Existenz(en) auf Widerruf“, insbesondere seine pessimistische Diagnose hinsichtlich der jüdischen Zukunft in Europa geben zu denken.2

 

 

Zum Autor:

Prof. Dr. Michael Wolffsohn, geboren 1947 in Tel Aviv, ist Historiker und Publizist, einer der führenden Experten für die Analyse internationaler Politik. Er gilt als einer der meinungsstärksten und streitbarsten Historiker Deutschlands.

 

Anmerkungen:

1 Michael Wolffsohn: Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern. München: Piper Verlag, 22. Aufl. 2024

2 Siehe auch die Rezension von Franz Sz. Horváth: Existenz(en) auf Widerruf? Michael Wolffsohns „andere Jüdische Weltgeschichte“ warnt vor Geschichtsblindheit. In: www.literaturkritik.de  

 

 

Eine andere Jüdische Weltgeschichte (Michael Wolffsohn) [Taschenbuch]