Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Budweis
Die ersten Aufzeichnungen über im südböhmischen Budweis lebende Juden gehen bis ins Spätmittelalter zurück, die kleine Gemeinde wurde aber bereits im Jahr 1337 erstmals vertrieben. Schon im Jahr 1341 wurde den Juden von König Ottokar II. die Ansiedlung in der Stadt wieder erlaubt. Die Häuser der jüdischen Bevölkerung befanden sich in der nach aussen hin abgeschlossenen Judengasse („vicus judeorum“), die in ihren Anfängen aber nur aus einer Handvoll Gebäuden bestand. Hier stand auch die erste Synagoge der Stadt, sie wurde im Jahr 1380 erstmals schriftlich erwähnt. Ein Grossbrand zerstörte im Jahr 1480 alle Gebäude der Judengasse, inklusive der Synagoge. Bis zu dieser Zeit lebte die jüdische Bevölkerung in Budweis grossteils in Harmonie mit ihren Nachbarn. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts änderte sich die Lage dramatisch, die nichtjüdische Mehrheit der Stadt fühlte sich immer öfter zu Klagen über die Juden veranlasst. Schlussendlich musste König Wladislaw im Jahr 1506 der Mehrheitsbevölkerung von Budweis nachgeben; er erlaubte der Stadt, sämtliche Juden auszuweisen. Infolgedessen wurden 24 Juden öffentlich hingerichtet, die restlichen Juden wurden ihres Vermögens beraubt und vertrieben. Die nach dem Grossbrand wiederhergestellte Synagoge wurde in eine christliche Kapelle umgebaut, die jüdischen Friedhöfe wurden zerstört. Die jüdische Gemeinde von Budweis war für die nächsten dreihundert Jahre vernichtet, ein jüdisches Leben in Budweis fand hunderte Jahre lang nicht statt. Es dauerte bis zu den Revolutionsjahren 1848/49, bis es den Juden wieder erlaubt war, sich dauerhaft in Budweis anzusiedeln. In den Folgejahren kam es zu einer starken Zuwanderung jüdischer Bürger und ein jüdisches Gemeindeleben entwickelte sich wieder. Die offizielle Gründung der neuen jüdischen Gemeinde erfolgte im Jahre 1859. Zu dieser Zeit lebten knapp zweihundert Juden im Bezirk Budweis. Bis dahin hatte sich der Budweiser Betraum für die Mitglieder in einem Privathaus befunden, nun wurde ein grösserer Tanzsaal zur Abhaltung der G’ttesdienste angemietet.
3D-Modell der Altstadt von Budweis um 1905 (links) und der Bauplatz der Synagoge im „Stadterweiterungsgebiet“ (rechts, rot markiert) – Visualisierung.
Der Wohlstand unter der neuen jüdischen Bevölkerung wuchs beständig, wovon auch die Kultusgemeinde profitierte. Das Provisorium für die G’ttesdienste wurde rasch zu klein und war nicht mehr angemessen für eine selbstbewusste Glaubensgemeinschaft. So wurde die Errichtung einer repräsentativen Synagoge beschlossen und Max Fleischer mit dem Projekt beauftragt. Die meisten jüdischen Einwohner hatte der Bezirk Budweis rund um das Jahr 1900, damals lebten hier knapp 1.700 Juden. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Einrichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im Jahr 1939 war die Budweiser Gemeinde auf etwa 1.100 Juden geschrumpft. Mit der Besetzung von Budweis durch die deutsche Wehrmacht am 15. März 1939 begannen die Repressalien der Besatzer, unter denen die jüdische Bevölkerung, wie überall in den annektierten Gebieten, am meisten zu leiden hatte. Anfang April des Jahres 1942 wurde sämtlichen jüdischen Bewohnern von Budweis und Umgebung befohlen, sich in einer nahen Fabrik einzufinden. Am 18. April 1942 wurden 909 Juden von dort in das KZ Theresienstadt (tschech. Terezín) deportiert, manche wurden in die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen weitertransportiert. Nur dreissig von ihnen erlebten das Ende des Krieges und die Befreiung durch die Alliierten. Am 5. Juli 1942 erteilte der deutsche Stadtprotektor Friedrich David den Befehl, die knapp 54 Jahre zuvor fertiggestellte Synagoge zu sprengen. Das Gebäude und das Grundstück waren von der Israelitischen Kultusgemeinde kurz nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten an die Stadtverwaltung übergeben worden.
3D-Längsschnitt – Visualisierung.
Nach Kriegsende wurde die örtliche Kultusgemeinde wiederbelebt, langsam siedelten sich einige wenige Juden in Budweis an. Es gab wieder einen kleinen Betsaal, der Friedhof wurde so gut es ging instandgesetzt. Die Bemühungen waren aber vergebens; mit der Zeit wanderten immer mehr Gemeindemitglieder aus. Die Kultusgemeinde wurde noch an jene in Pilsen und später an die Prager jüdische Gemeinde angegliedert, aber ab 1970 fanden keine G’ttesdienste mehr statt. Das traditionelle Leben der Budweiser Juden war erloschen. Fünfzig Jahre nach der Sprengung der Synagoge, 1992, wurde in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Bauplatz ein Mahnmal errichtet. An der exakten Stelle, an der einst die Synagoge gestanden hatte, befindet sich heute der Parkplatz des Finanzamtes Budweis.
3D-Querschnitt mit Blick Richtung Ostwand – Visualisierung.
Zur Baugeschichte der Synagoge in Budweis
Da der bis dahin als provisorischer Kultusraum gemietete Tanzsaal für die aufstrebende jüdische Gemeinde nicht mehr ausreichte, wurde der Architekt Max Fleischer mit dem Entwurf eines neuen G’tteshauses beauftragt. Er hatte im Jahr zuvor die Synagoge in Wien-Mariahilf fertiggestellt, die der Budweiser Kultusgemeinde gefiel. Das von ihr erworbene Grundstück befand sich etwas ausserhalb des historischen Stadtkerns, rund 500 Meter südlich vom Hauptplatz entfernt. Aus damaliger Sicht kann man von einem „Stadterweiterungsgebiet“ sprechen. Bis etwa zehn Jahre vor Baubeginn war hier die Trasse der Pferdeeisenbahn Budweis-Linz verlaufen; mit deren Auflassung wurde das Gebiet neu parzelliert und damit frei für die Errichtung der Synagoge. Fleischer wählte für seinen Entwurf einen Backsteinbau im neugotischen Stil, wie bei der Synagoge in Wien-Mariahilf. Er war der Meinung, in Ermangelung eines einheitlichen „jüdischen Baustils“ sei jener Stil für Synagogen zu wählen, der den Gepflogenheiten vor Ort entspreche. Darüber hinaus war er der Ansicht, dank des neugotischen Stils könne ein monumentaler Charakter mit verhältnismässig geringem finanziellem Aufwand erreicht werden. Hierfür sind weder teure Materialien (wie zum Beispiel Naturstein) noch kostspielige Arbeiten (etwa von Steinmetzen) nötig, da die sichtbare Konstruktion für sich schon als Gestaltungselement dienen kann. Die Wahl des neugotischen Stils und die freistehende Lage der Synagoge waren ausserdem Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses der jüdischen Gemeinden in Europa. Davor waren Synagogen für die nichtjüdische Bevölkerung oft unsichtbar im Ghetto zwischen Wohnhäusern oder in Hinterhöfen errichtet. Nun zeigten sich die Sakralbauten selbstbewusster im Stadtbild. Grund dafür war unter anderem, dass sich die jüdische Bevölkerung immer mehr zum wohlhabenden und kulturell bedeutenden Teil des Bürgertums entwickelte. Dieser Aufstieg wurde ausgedrückt, in dem man die aufwendigen Baustile der europäischen Sakralbauten übernahm. Als Nebeneffekt, manchmal aber auch ganz bewusst eingesetzt, ergab sich so eine Form der Integration der jüdischen Sakralbauten in die christlich geprägten Städte.
3D-Querschnitt mit Blick Richtung Westen– Visualisierung.
Die Synagoge war eine dreischiffige Basilika mit einer Länge von etwa 35 Metern, einer Breite von rund 21,5 Metern und einer bebauten Fläche von circa 675 Quadratmetern. Das Mittelschiff mündete an der Ostseite in eine etwas niedrigere Apsis für die Bima, war aber über die ganze Länge deutlich höher als die Seitenschiffe. An der Westseite war es begrenzt von zwei etwa 40 Meter hohen Türmen und einem dazwischen befindlichen Bauteil für die Zugänge der Frauen. Überdeckt wurde das Mittelschiff von vier kunstvoll bemalten Kreuzrippengewölben mit einer lichten Höhe von etwa 11,2 Metern. Ein deutlicher Höhenunterschied zu den Seitenschiffen ermöglichte grosse, dreiteilige Masswerkfenster in der Obergade zur Belichtung des Hauptraumes. Die Seitenschiffe lagen eine Stufe tiefer als das Mittelschiff, über sie erfolgte der Zugang der Männer in den Hauptraum. An der Westseite befand sich im Mittelschiff über den Eingängen eine Galerie für Frauenchor und Orgel, die bis auf halbe Gewölbetiefe in den Hauptraum hineinragte. Für die Männer gab es etwa zweihundert, für die Frauen etwa zweihundertsechzig Plätze im Mittelschiff. Zusätzlich gab es Sitzbänke in den Seitenschiffen für Gemeindemitglieder, die sich die Mietgebühren für die Plätze im Mittelschiff nicht leisten konnten. Hier war Platz für etwa achtzig weitere Gläubige.
Besonders auffällig am Grundriss der Synagoge ist die fehlende räumliche Trennung zwischen Männern und Frauen. Lediglich ein Quergang liegt zwischen den Männer- im vorderen und den Frauenbänken im hinteren Bereich. Für Fleischer war die gängige Variante mit einer oder mehreren Frauengalerien nicht ideal, weil dadurch die Belichtung, die Sicht und die Luftqualität eingeschränkt wurden. Da beim bisher bestehenden Gebetsraum der Gemeinde, einem angemieteten Tanzsaal, ebenfalls keine räumliche Trennung vorhanden war, hatte die Gemeinde gegen diese ungewöhnliche Lösung nichts einzuwenden. Erst dadurch konnte der bereits erwähnte, deutliche Höhenunterschied zwischen dem Mittel- und den Seitenschiffen realisiert werden. Die so entstandenen Proportionen der einzelnen Gebäudeteile zueinander sind auf den ersten flüchtigen Blick kaum von einem christlichen Sakralbau zu unterscheiden – eine von Fleischer bewusst geplante Parallele.
Ansicht der Westfassade – Visualisierung.
Die virtuelle Rekonstruktion
Bei der Nachbildung der Synagoge wurde das zur Verfügung stehende Plan- und Bildmaterial aus diversen Quellen miteinander verglichen und daraus ein digitales Modell erstellt. Das Besondere an dieser Rekonstruktion war die Tatsache, dass der Innenraum durch zwei detaillierte Schnitte gut dokumentiert war, von der Fassade aber nur Fotos und keine Zeichnungen auffindbar waren. Daher wurde ein etwas unkonventioneller Weg eingeschlagen. Es wurde nicht, wie sonst üblich, mit den Aussenmauern begonnen, sondern mit innenliegenden konstruktiven Bauteilen. Bei diesem ungewöhnlichen Ansatz des Konstruierens von Innen nach Aussen war der von Fleischer gewählte Stil der Neugotik von Vorteil, da sich die innere Konstruktion an der Fassade ablesen lässt. So konnten die bekannten Abmessungen aus dem Innenraum auf die Gebäudehülle übertragen werden. Ausserdem ist das Gebäude geprägt von Symmetrien und axialen Beziehungen der Bauteile zueinander. So zeigt sich zum Beispiel die Lage und Grösse der einzelnen Gewölbefelder des Mittelschiffes an der Lage der Strebepfeiler an den Fassaden, die Fenster des Seitenschiffes liegen auf einer Achse mit den Arkadenbögen des Mittelschiffes, die Längsachse der Seitenschiffgewölbe ist gleichzeitig die Achse der Eingangstüre für die Männer. Nachdem diese Gestaltungsprinzipien erkannt und verinnerlicht waren, konnten sie gleichermassen auf weniger gut dokumentierte Bereiche angewandt werden.
Ansicht der Rückseite – Visualisierung.
Innenraum, Blick Richtung Bima – Visualisierung.
Innenraum, Blick aus den vorderen Reihen – Visualisierung.
Ein weiterer wichtiger Faktor bei der Rekonstruktion ist die sogenannte Texturierung des digitalen Modells. Bei diesem Vorgang werden die zuvor erzeugten Formen und Geometrien mit Farben und Materialabbildungen versehen, um einen realistischen Gesamteindruck zu erhalten. Dabei ist zu beachten, dass als Quellen meist nur Schwarzweissaufnahmen oder nachträglich kolorierte Postkarten zur Verfügung standen. Daher ist die Farbgebung in der Rekonstruktion nur eine plausible Variante, aber nicht immer durch Quellen belegbar.
Nichtsdestoweniger ermöglichen die so entstandenen Schaubilder ein Wiedererleben der seit beinahe achtzig Jahren nicht mehr existierenden Synagoge. Der im höchsten Masse gelungene und von Zeitgenossen überaus gelobte Entwurf Fleischers und die stilsichere und prachtvolle Ausgestaltung der Synagoge müssen auf die damaligen Betrachter beeindruckend gewirkt haben. Die historischen Aufnahmen und die hier rekonstruierten Bilder können nur einen kleinen Teil dieser Faszination wiedergeben, da ein Bauwerk in seiner Gesamtheit nie auf ein zweidimensionales Medium reduziert werden kann. Umso mehr schmerzt der sinnlose Verlust einer solchen Sehenswürdigkeit.
Innenraum, Blick von der Kanzel vor dem Thoraschrein Richtung Orgelbühne – Visualisierung.
Nachlese
HAUFF, Fabian, Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Budweis. Wien, Diplomarbeit TU Wien, 2024.
URL: https://repositum.tuwien.at/bitstream/20.500.12708/204313/1/Hauff%20Fabian%20-%202024%20-%20Die%20virtuelle%20Rekonstruktion%20der%20Synagoge%20in%20Budweis.pdf
FLEISCHER, Max, Die neue Synagoge in Budweis. In: Der Bautechniker. Centralorgan für das österreichische Bauwesen. Zeitschrift für Bau- und Verkehrswesen, Technik und Gewerbe. XI. Jg./40 (2. Oktober 1891), Wien: Druck u. Verlag d. Druckerei d. „Sport“, S. 649-651.
URL: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=bau&datum=18911002&zoom =33
FLEISCHER, Max, Ueber Synagogen-Bauten. In: Zeitschrift des oesterr. Ingenieur- und Architekten-Vereins. XLVI. Jg./18 (4. Mai 1894), Wien: Seidel, S. 253-258, inkl. Bildteil Tafel IX.
Hauptteil URL: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=zia&datum=189 4&pos=11&size=45
Bildteil URL: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=zia&datum=1894 XLVI. Jg.&pos=606&size=45
ALICKE, Klaus-Dieter, Budweis (Böhmen). In: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (s. a.).
URL: https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a-b/492-budweis-boehmen
GOLD, Hugo, Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I., Brünn–Prag: Jüdischer Buch- und Kunstverlag, 1934, S. 44-48.
URL: https://digi.landesbibliothek.at/viewer/image/AC07942390/64/LOG_0051/
WLASCHEK, Rudolf M., Juden in Böhmen. Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 66, München: Oldenbourg Verlag, 1990, S. 14-18.
URL: https://www.osmikon.de/metaopac/search;jsessionid=72EA54437E468249DF3349C769FEF532.touch02?id=BV002462988&View=ostdok
LÖW, Andrea, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Deutsches Reich und Protektorat September 1939–September 1941, Bd. 3, München: Oldenbourg Verlag, 2012, S. 23-26.
Brockhaus, České Budějovice (s. a.).
URL: https://brockhaus-at.uaccess.univie.ac.at/ecs/enzy/article/ceske-budejovice
PODLEŠÁK, Jan, Židé. In: Encyklopedie Českých Budějovice (s. a.).
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FRANK, Chaim, Jüdische Gemeinden. In: Juden in der ehemaligen Tschechoslowakei (s. a.).
URL: https://www.hagalil.com/czech/juedische-geschichte/cssr-6.htm
KLEMMER, Klemens, Jüdische Baumeister in Deutschland. Architektur vor der Shoa, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1998, S. 77 f.
Alle Abbildungen: F. Hauff, mit freundlicher Genehmigung.