Wie im Teil I der Serie über Wiener Architekturschaffende in Erez Israel berichtet, emigrierten, bzw. flüchteten, an die 40 architekturschaffend tätige Personen, die ihre Ausbildung an einer Wiener Architekturschule erhielten, ins britische Mandatsgebiet Palästina, bzw. in den jungen Staat Israel und trugen dort zum Architekturgeschehen bei. Teil II dieser Serie widmet sich den Architektinnen, die bereits in den 1920ern und 1930ern in Wien ausgebildet wurden und bald darauf ins Mandatsgebiet Palästina auswanderten, wo gegen Ende der 1930er Jahre etwa 15 Architektinnen aus Zentral- und Osteuropa tätig waren.1
Im Februar 1933 erschien in der Neuen Freien Presse ein Bericht mit dem Titel „Wie schaffen Wiener Architektinnen?“ In dem kurzen Zeitungsartikel, welcher die Pionierarbeit porträtierte, den die ersten Wiener Architektinnen leisteten – darunter Margarete Schütte Lihotzky, Ella Briggs und Liane Zimbler – wurde auch über zwei Wiener Architektinnen berichtet, die später im Mandatsgebiet Palästina und Israel tätig waren: Helene Roth und Leonie Pilewski:
„Ein ganz anderer Stil ist der blonden Helene Roth eigen, die als erste Frau an der Wiener Technischen Hochschule Ingenieurin wurde. Aus sie hat sich vorerst einem Spezialschaffen zugewendet, dem Umbau von Portalen, der ihr stets glückte. Gemeinsam mit einem männlichen Kollegen hat sie ein Hotel umgemodelt und dabei ihre praktische Begabung, insbesondere durch die Adaptierung des Restaurants und der Schwemme, bewiesen. Weitere Produkte ihrer Tätigkeit sind einige Wohnhäuser und Villen und nicht zuletzt Wohnungseinrichtungen, die, durchaus modern und den Bedürfnissen ihrer Bewohner angepasst, jede Nüchternheit vermeiden.“ 2
1926 absolvierte Helene Roth (1904–1995)3 als erste Frau ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule Wien, wie im Zeitungsartikel erwähnt wird. Vor ihrer Migration ins britische Mandatsgebiet Palästina war Helene Roth unter anderem bei Walter Sobotka beschäftigt, aber auch selbstständig tätig. Helene Roth war Mitglied in der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs. Die Gründe für ihre Auswanderung 1934 nach Tel Aviv dürften im ansteigenden Antisemitismus der Dreissigerjahre sowie den politischen Verhältnissen im autoritären Ständestaat zu finden sein. Nach ihrer Emigration arbeitete Helene Roth mit dem aus Deutschland stammenden Interior Designer Alfred Abraham zusammen, mit dem sie zahlreiche Innenausstattungen im Wohn- und Geschäftsbereich umsetzte.
Helene Roth, Alfred Abraham: Innenausstattung Beit Ami, Netanya.
Unknown author, unknown date (between 1933–1958), Beit Ami in Natanya, black-and-white-photography
Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ben_Ami_lounge.jpg
Credit Line: The Alfred Avraham Archive Archive can now be accessed online, by courtesy of the family and as part of a collaborative initiative between The Ministry of Jerusalem and Heritage, The National Library of Israel, Bezalel Academy of Arts and Design and the Judaica collection at the Harvard University Library.
Leonie Pilewski (1897–1992)4, die ebenfalls in dem Zeitungsartikel erwähnt wird, versuchte ab 1915 zu einem Maschinenbaustudium an der TH Wien zugelassen zu werden, was ihr als Frau verwehrt wurde. Über Umwege konnte sie sich 1917 an der TH Darmstadt einschreiben, wo sie dann zum Architekturstudium gelangte. Pilewski wurde, noch vor Helene Roth, als eine der ersten Frauen zum Mitglied in der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs. Zu ihren bekanntesten Werken zählt die Inneneinrichtung des Hauses Nr. 1 von Hugo Häring in der 1932 errichteten Wiener Werkbundsiedlung. Pilewski war zwischen 1935 und 1936 mehrere Monate im Büro des Architekten Alexander Klein in Haifa tätig,5 wanderte aber nicht nach Palästina aus. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich fand Pilewski in Schweden Zuflucht.
Dora Gad/Yehezkel Gad, Innenausstattung Nationalbibliothek Jerusalem, 1956. Foto: Matthias Dorfstetter (2018), mit freundlicher Genehmigung.
Bezogen auf den Umfang und Stellenwert ihres Schaffens war Dora Gad (1912–2003)6 die bedeutendste der in Wien ausgebildeten und in Israel tätigen Architektinnen. Dora Gad (Geburtsname Siegel) legte 1935 die II. Staatsprüfung an der TH Wien ab. Zusammen mit ihrem Ehepartner Heinrich Goldberg (später Yehezkel Gad), der ebenfalls an der TH Wien Architektur studiert hatte, wanderte Dora Gad 1936 ins britische Mandatsgebiet Palästina aus, wo sie bald darauf ihr eigenes Büro gründete. Yehezkel Gad, der erst für Helene Roth und Alfred Abraham arbeitete, wurde 1942 Dora Gads beruflicher Partner. Ab 1950 erhielt das Duo hochkarätige Aufträge wie die Inneneinrichtung für die Residenz des Ministerpräsidenten und des Aussenministers, Interieurs für Luxushotels sowie die Innenausstattung für die israelische Nationalbibliothek. Nach dem Tod ihres Mannes führte Dora Gad weitere Innenraumdesigns aus, die dem jungen Staat Israel gewissermassen eine Corporate Identity verliehen: sie entwarf Interieurs für Schiffe der nationalen israelischen Schiffahrtslinie sowie für Flugzeuge der israelischen Fluglinie El Al. Auch mit der Innenraumgestaltung des Israel Museums in Jerusalem – eine bedeutungsvolle Institution für die Identität des Staates – wurde Dora Gad 1965 beauftragt. Ihre prestigeträchtigen Werke gipfeln in der Gestaltung der Innenausstattung des israelischen Parlaments, der Knesseth.
Dora Gad, Innenausstattung Israel Museum Jerusalem (mit Al Mansfeld), 1965. Foto: Matthias Dorfstetter (2018), mit freundlicher Genehmigung.
Im Gegensatz zu Dora Gad ist über eine weitere Absolventin der TH Wien, die nach Erez Israel emigrierte, nur sehr wenig bekannt: Anna Klapholtz (1909–?), die 1934 die II. Staatsprüfung ablegte, war am Bauamt von Haifa tätig, wo sie unter anderem an städtebaulichen Projekten beteiligt war.7 Zu den Architektinnen, die in Wien ausgebildet wurden und später ins Mandatsgebiet Palästina emigrierten, zählte auch eine Absolventin der Kunstgewerbeschule. Die gebürtige Wienerin Judith Katinka (1915–2003),8 die als Judith Zweig geboren wurde, emigrierte mit ihrer Familie bereits in ihrer Kindheit nach Palästina. Sie maturierte in Jerusalem und kam danach zurück nach Wien, um ab 1933 in der Fachklasse von Oskar Strnad und dann bei Oswald Haerdtl Architektur zu studieren, die grosses Potential in ihr erkannten.9 Ihrem Abschluss an der Kunstgewerbeschule 1936 folgte ein weiteres Jahr an der Akademie der bildenden Künste bei Clemens Holzmeister. Ob oder inwieweit sich Judith Katinka nach ihrer Rückkehr nach Israel als Architektin betätigte, ist nicht dokumentiert.
In den stark männlich dominierten Disziplinen der Architekturproduktion und Architekturgeschichtsschreibung waren Frauen erst lange Zeit ausgeschlossen und dann wenig beachtet. Dies lässt sich, vielleicht in etwas abgeschwächter Form, auch an der Architekturpraxis im britischen Mandatsgebiet Palästina und im frühen Staat Israel beobachten. Umso wichtiger scheint es, die nach Israel emigrierten Wiener Architekturpionierinnen Helene Roth, Dora Gad, Anna Klapholtz und Judith Katinka ins Blickfeld zu rücken.
Teil I ist in DAVID 144, Pessach 5785/April 2025 erschienen. Die Fortsetzung dieser Serie folgt im kommenden Heft.
Anmerkungen
1 Sigal Davidi, Architektinnen aus Deutschland und Österreich im Mandatsgebiet Palästina. German and Austrian Women Architects in Mandatory Palestine. In: Mary Pepchinski, u.a. (Hg.): Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf. Over 100 Years of Women in Architecture, Berlin (Wasmuth) 2017, S. 49–57, hier S. 49.
2 Gisela Urban, Wie schaffen Wiener Architektinnen? In: Neue Freie Presse (Abendblatt), 15.2.1933, S. 6.
3 Biografie Helene Roth, siehe: Sabine Plakolm-Forsthuber, Helene Roth 1904-1995. In: Ingrid Holzschuh/Sabine Plakolm-Forsthuber (Hg.), Pionierinnen der Wiener Architektur, Basel (Birkhäuser) 2022, S. 128–139.
4 Biografie Leonie Pilewski, siehe: Sabine Plakolm-Forsthuber, Leonie Pilewski 1897-1992. In: Ingrid Holzschuh/Sabine Plakolm-Forsthuber (Hg.), Pionierinnen der Wiener Architektur, Basel (Birkhäuser) 2022, S. 86–97.
5 Clara Kanz, Pionierinnen der Architektur in Österreich. Geschichte der Architektinnen in Österreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938 im europäischen Vergleich, (Masterarbeit 2022), S. 53.
6 Biografie Dora Gad, siehe: Sigal Davidi, Dora Gad 1912-2003, https://jwa.org/encyclopedia/article/gad-dorah [Zugriff: 11.7.2025].
7 Anna Klapholtz, siehe: Sigal Davidi, Architektinnen aus Deutschland und Österreich im Mandatsgebiet Palästina. German and Austrian Women Architects in Mandatory Palestine. In: Mary Pepchinski u.a. (Hg.): Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf. Over 100 Years of Women in Architecture, Berlin (Wasmuth) 2017, S. 49–57.
8 Biografie Judith Zweig, siehe: Beatrix Bastl, Die Jüdischen Studierenden der Akademie der Bildenden Künste Wien, 1848-1948, 2019, S. 28. https://www.academia.edu/41449218/FINALE [Zugriff: 11.7.2025].
9 Universitätsarchiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Katalog der Kunstgewerbeschule des österr. Museums für Kunst und Industrie. Fachklasse für Architektur. Professor Dr. Oskar Strnad. Schuljahr 1933/34.