Die Tora meint, dass der Mensch 120 Jahre alt wird (Exodus 6,3). Das hat etwas für sich, man ist offenbar mit 121 wirklich tot. Die jüngeren Mitmenschen, denen ich erzähle, dass ich über Hugo Wiener1 schreibe, fragen mich: „Hugo wer?“ Früher kannte ihn jedes Kind, und auch seine Ehefrau, die unvergleichliche Cissy Kraner.
Hugo Wiener wurde am 16. Februar 1904 in der Arnsteingasse 2 in Wien/Rudolfsheim-Fünfhaus geboren; seine Mutter Berta war eine geborene Gerstl, sein Vater Wilhelm, damals schon 47 Jahre alt, hatte noch für Johann Strauss Sohn auf Hausbällen Klavier gespielt. Es folgte eine unbeschwerte Kindheit in der Mariahilferstrasse 200a. Das Haus lag an der Strecke, die Kaiser Franz Josef I. täglich von Schönbrunn zu seinem Arbeitsplatz in der Hofburg mit der Kutsche entlangfuhr. Der kleine Hugo stellte sich zum Fenster schwenkte eine schwarzgelbe Fahne, wenn der Kaiser vorbeirollte; als dies dem Kutscher eines Tages auffiel, pflegte Franz Josef jedes Mal vor Hugos Haus zu salutieren – se non è vero, è ben trovato! Neben dem Besuch der Realschule am Henriettenplatz erhielt Hugo Musikunterricht, vor allem Klavier, und mit fünfzehn Jahren die erste Statistenrolle am Raimundtheater. Das Theater liess ihn nicht mehr los, mit Zwanzig durfte er als Dirigent beim Apollotheater einspringen. Es folgten Engagements als Pianist und die Freundschaften mit Fritz Imhoff und Robert Stolz.
Der Anschluss im März 1938 war ein Schock, die Zukunft schien düster, doch da kam im Mai ein Brief aus Kolumbien, in Bogotá wollte man für die 400-Jahr-Feier der Stadt eine Wiener Revue aufführen und lud Hugo Wiener und seinen Kompagnon Eugen Strehn ein. Das traf sich gut, man konnte endlich ab Mai 1938 Ausreiseanträge stellen und Hugo tat dies rechtzeitig am 16. Juni 1938, Emigrationsnummer 29731. Sein Glück war, dass sein Fragebogen von Oberbahnrat Schön kontrolliert wurde, der nicht so missgünstig wie seine Kollegen agierte. Er stellte bereits zwei Tage nach dem Ansuchen dem jungen Musiker ein ausgezeichnetes Zeugnis aus, Hugo hatte selbst 414 Reichsmark aufgebracht, bekam von der Kultusgemeinde 120 Reichsmark dazu und eine Fahrkarte nach Amsterdam, und so konnte er sich nach Südamerika absetzen. Weniger gut erging es seiner Familie, die in der Zwölfergasse 3 geblieben war. Sein Vater, Jahrgang 1857, war schon sehr gebrechlich, seine Mutter versuchte Geld für die Ausreise aufzutreiben, seine Schwester Gisela war mit den Nerven fertig, wie wir aus seinen Briefen erfahren. Dazu wohnte dort noch sein Schwager, den er nur als „Bauer“ apostrophierte und der auch nicht in den Ausreisegesuchen aufscheint.
Auf der Überfahrt lernte Hugo Wiener der Legende nach Gisela Marie aus Holland kennen, die nicht mehr von seiner Seite wich und zu „Cissy Kraner“, der gefeierten Diseuse wurde. Sie kümmerte sich rührend um Ausreisepapiere für ihre Noch-nicht-Schwiegereltern – ohne Erfolg. Zuerst mangelte es an Geld, und als Berta 1.500 Reichsmark zusammengebracht hatte, gab es keine Einreisepapiere für Venezuela mehr. Wiener plante eine Tournee mit der Revuetruppe durch Südamerika, doch schon bei der nächsten Station in Caracas, Venezuela war Endstation. Nach Kriegsbeginn im September 1939 wollten einige der neunzehn Ensemblemitglieder – die meisten waren „Arier“ – nach Europa zurück, Wiener und Kraner blieben. Hugo arbeitete beim Radio, wurde aber entlassen: er hatte einen deutschen Pass bekommen. Mit dem Kriegseintritt der U.S.A. 1941 war auch die geplante Einreise in die Vereinigten Staaten nicht mehr möglich. Die beiden heirateten 1943 und eröffneten eine Bar mit einer Kabarettbühne, die einigermassen erfolgreich war, Hugo schrieb und Cissy sang auf Deutsch, Englisch, Holländisch und Spanisch.
Hugo Wiener im Kreis seiner Familie. Quelle: Wien Bibliothek, Nachlass Hugo Wiener, Digitale Sammlung, mit freundlicher Genehmigung M. Bittner, link: https://www.wienbibliothek.at/sites/default/files/images/page-pix/wienbibliothek-neuerwerbung2016-hugo-wiener-familie.jpg
Aus der Emigration schrieb Hugo mehrere Briefe an seine Familie, die zumeist unbeantwortet blieben. Etliche Briefe kamen zurück mit dem Vermerk “Adressat unbekannt“, denn die Familie wurde aus der Zwölfergasse vertrieben und in eine Wohnung in der Neutorgasse 8/10 gebracht. „Wie habt ihr den Papa die drei Stockwerke hinaufgebracht?“ sorgte sich Hugo. Doch schon bald musste man wieder übersiedeln, auf den Fleischmarkt 22/41, dann hörte Hugo nie wieder etwas von seiner Mutter, die er sehr liebte, von seinem Vater, seiner Schwester Gisela, um die er sich sorgte, und vom „Bauer“, dem Schwager, den er nicht so gern mochte. Erst nach seiner Rückkehr erfuhr er von der Israelitischen Kultusgemeinde, dass seine Mutter, seine Schwester und Adolf Bauer am 23.12. 1941 nach „Riga“ (richtig Kaunas) deportiert worden waren und „nicht auf der Liste der Rückkehrer aufscheinen“. Vom Schicksal seines Vaters erfuhr er nichts – dieser war am 13. Februar 1942 unter ungeklärten Umständen gestorben, er erhielt als Einziger ein Grab am Zentralfriedhof. Nach Kriegsende wartete Hugo Wiener ab, korrespondierte mit überlebenden Freunden, entschloss sich 1948 zur Rückkehr nach Wien, fuhr jedoch bald wieder nach Caracas, dann kam er wieder nach Wien, diesmal endgültig. Entscheidend war für ihn die Partnerschaft mit Karl Farkas, der ihn ins Simpl einlud und zum Teilhaber machte. 1956 gab Wiener seinen venezolanischen Pass zurück.
Jahrzehnte der intensiven Arbeit, der grossen Erfolge und der Ehrungen folgten, 1.000 Chansons (Der Novak!), viele Bücher, Musikproduktionen (er war Teilhaber der AKM), erfolgreiche Auftritte im Kabarett, im Radio und im Fernsehen. Ein echter Star, der aber bescheiden und authentisch wirkte, kein Blender, ein stiller, sympathischer Mensch, der lächelnd hinter dem Klavier sass und seiner geliebten Frau den Vortritt liess. Er starb am 14. Mai 1993 im 90. Lebensjahr. Im Jahr 1975 hatte Hugo Wiener die Zeilen geschrieben, denen die Überschrift entnommen wurde. Es geht dabei um das Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagtorte und was man sich dabei denkt. Wenn man jung ist, wünscht man sich, dass man die Schule überlebt. Später, dass man die Suche nach der grossen Liebe überlebt. Dann kommt das Geld, das man noch verdienen muss. Und zum Schluss? Denkt man daran, dass man das Ausblasen der Kerzen überlebt.
Anmerkung
1 Alle Informationen stammen aus dem Nachlass Hugo Wieners, der in der Wienbibliothek im Rathaus zugänglich ist, Signatur ZPH 1654/39 und 40. Zusätzliche Informationen zu seiner Familie und Auswanderung aus dem Wiesenthal Institut für Holocaust Studien, A/W 2589 und im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde, A/VIE/IKG/II/AUS/Devisenberatungsstelle/Konto „D“.