Christoph Tepperberg
Ismar Schorsch: Leopold Zunz. Vorkämpfer der Emanzipation und Begründer der Wissenschaft des Judentums. Biografie 1794–1886. Aus dem Englischen von Ursula Kömen.
Göttingen: Wallstein Verlag 2024. (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 57)
[Amerikanische Originalausgabe: Leopold Zunz. Creativity in Adversity.
Philadelphia: University Of Pennsylvania Press 2016.]
392 Seiten, 98 Abb., Buch gebunden mit Schutzumschlag, Euro 41,95.- (Print), Euro 39,99.- (eBook)
ISBN 978-3-8353-5488-3 (Print), 978-3-8353-86204 (e-Book)
Zum Autor
Ismar Schorsch, geb. 1935, ist emeritierter Kanzler des Jewish Theological Seminary (Jüdischews Theologisches Seminar) in New York, war Präsident des Leo Baeck Instituts und Rabbi-Herman Abramovitz-Professor für Jüdische Geschichte, ein angesehener und mehrfach ausgezeichneter Gelehrter für deutsch-jüdische Kultur. Leopold Zunz hinterliess einen umfangreichen Fundus an Notizen, Briefen und Dokumenten. Das Studium dieses Nachlasses machte Ismar Schorsch zum besten Kenner des komplexen theologisch-wissenschaftlichen Wirkens von Leopold Zunz. Ismar Schorsch war somit dazu prädestiniert, die erste umfassende Biographie dieses bedeutenden Gelehrten und Wissenschafters des Judentums zu verfassen.
Die Übersetzerin
Ursula Kömen, geboren 1969 in Bremen, studierte Geschichte und Anglistik in Marburg und Göttingen, war von 1999–2022 im Wallstein Verlag als Lektorin für Geschichte tätig und ist seit 2023 freiberufliche Übersetzerin und Lektorin.
Der deutsch-jüdische Wissenschafter Leopold Zunz (ursprünglich Jom Tov Lippmann Zun) wurde 1794 in Detmold (Fürstentum Lippe) geboren und verstarb 1886 in Berlin. Er besuchte von 1803–1809 die Samson-Schule zu Wolfenbüttel in Niedersachsen und absolvierte 1811 als erster Jude das dortige Gymnasium. Ab 1815 studierte er Philosophie, Philologie und Geschichte an der Berliner Universität. Hervorzuheben ist seine Auseinandersetzung mit dem Historiker Friedrich Rühs (1781–1820), dessen radikal-judenfeindliche Texte bereits dem völkischen Antisemitismus zuzuordnen sind. 1819 gründete Zunz gemeinsam mit anderen in Berlin den Jüdischen Wissenschaftszirkel (Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden), dem 1822 auch Heinrich Heine beitrat. 1821 wurde Zunz an der Universität zu Halle an der Saale zum Doktor der Philosophie promoviert, amtierte 1820–1822 als Prediger im »Beer-Tempel«, einer Berliner Reformsynagoge. Sein Brot verdiente er als Redaktionsmitglied der Tageszeitung Haude- und Spenersche Zeitung (1824–1831) und als Direktor einer jüdischen Grundschule (1826–1830). 1835 fand er eine Anstellung als Prediger bei der böhmisch-deutschen Synagogengemeinde in Prag, die er jedoch nach nur einem Jahr wieder kündigte. Schon zuvor hatte er seine Anstellungen wiederholt gekündigt, weil er dort seine Reformvorstellungen nicht durchsetzen konnte. 1840 gründete er in Berlin das Seminar für Jüdische Lehrer, wurde dessen Direktor und trat 1850 mit nur 56 Jahren in Pension. Zunz war auch politisch tätig. Während der Revolution von 1848 schloss er sich der demokratischen Bewegung an und wurde mehrmals zum Wahlmann für die Parlamentswahlen gewählt. In der Ära der Reaktion führte er regelmäßige Debatten über die Situation der Juden in Deutschland. 1874 zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück und starb 1886 im Alter von 91 Jahren. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg beigesetzt.
Leopold Zunz gilt vor allem als Begründer der Wissenschaft des Judentums, also der Erforschung der jüdischen Geschichte, Kultur und Religion mit den wissenschaftlichen Methoden des 19. Jahrhunderts. Sein berühmter Essay Etwas über die rabbinische Litteratur (1818) wurde zur intellektuellen Agenda der Wissenschaft des Judentums, dem Hauptthema seiner eigenen Forschungen. 1832 erschien unter dem Titel Die g'ttesdienstlichen Vorträge der Juden eine Geschichte der Predigt. Dieses Buch, das zugleich die Grundsätze zur wissenschaftlichen Untersuchung der rabbinischen Exegese hervorbrachte, hob Zunz in die höchste Position unter den jüdischen Gelehrten seiner Zeit. 1837–1839 leitete er eine Gruppe jüdischer Wissenschafter, die an einer Übersetzung der Heiligen Schrift arbeitete und diese 1848 unter dem Titel Die vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Texte herausgab, später die Rabbinerbibel genannt. 1845 erschien sein Zur Geschichte und Literatur, das die literarische und Sozialgeschichte der Juden behandelte. Zunz verkörperte die Hinwendung zu den kritischen Methoden der Geschichtswissenschaften und die Loslösung von der traditionellen Gelehrsamkeit im Studium des Judentums. Zunz war revolutionär, dennoch stand er in der Tradition der rabbinischen Gelehrsamkeit.1851 erklärte Zunz das Ethos, das seine eigene wissenschaftliche Arbeit leitete: Das kritische Studien des Judentums erfordere die Kenntnis dessen gesamten literarischen Erbes. Die Vertreter einer kritischen Wissenschaft müssten ebenso umfassende Kenntnisse in den Disziplinen und Wissensgebieten ausserhalb ihres eigenen Feldes erwerben. »[Es] ist unsere Pflicht, jede Wissenschaft und Weisheit, die die Großen Israels betrieben und lehrten, zu kennen. [...]« Schließlich versicherte Zunz, dieses neue Lernen sei nicht Selbstzweck, sondern ein geeignetes Mittel, um die conditio humana, die besonderen Wesensmerkmale des Menschen gegenüber anderen Lebensformen anzuheben: »Das Ziel der Tora und der Wissenschaft, mithin der Zweck der Öffnung des Herzens für den Geist, besteht allein im Begehen guter und rechtschaffener Taten. [...] Wir studieren daher nicht, um reich zu werden oder uns damit zu schmücken oder um uns zu streiten und uns zu ereifern; ebenso nicht um Lohn – in dieser oder in jener Welt – zu erlangen, sondern allein um der Liebe zur guten und ewigen Wahrheit willen!« Sein Kernsatz lautete: »Echte Wissenschaft ist taterzeugend!« Für Zunz war Wissenschaft eine ethische Unternehmung. Er steht damit im krassen Gegensatz zum heutigen Wissenschaftsbetrieb, bei welchem oft unschöner Wettbewerb und pure Eitelkeit im Vordergrund stehen. Bei Zunz treffen in wunderbarer Weise jüdisch-rabbinische Gelehrsamkeit mit der deutschen Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts zusammen. Zunz war Patriot und im Gleichklang mit der deutschen Romantik zugleich ein Bewunderer des Mittelalters. Neben seiner bahnbrechenden wissenschaftlichen Arbeit war Zunz auch Vorkämpfer der Emanzipation der Juden; er engagierte er sich für die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden in Deutschland.
Trotz ständiger Rückschläge arbeitete er durch mehr als fünf Jahrzehnte beharrlich an einem Werk, das Generationen von Juden an deutschen Universitäten inspirierte und das Verständnis des Judentums für immer veränderte. Als er 1886 starb, hatten seine Vision und seine Arbeit eine intellektuelle Bewegung in Gang gebracht, die in verschiedenen Zentren jüdischen Lebens ihre Wirkung entfaltete. All diese Leistungen erbrachte Zunz als »Teilzeitgelehrter«: stets auf der Suche nach einer Brot-Beschäftigung, die ihm Raum für seine Forschungen geben sollte.
Die Biographie ist mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis ausgestattet: Archive, (gedruckte) Quellen und Sekundärliteratur. Zudem enthält der Band ein Register der Werke von Leopold Zunz sowie ein Personenregister. Das vorliegende Werk von Ismar Schorsch ist eine ausführliche, wissenschaftlich fundierte Studie über das Leben und Wirken des Begründers der Wissenschaft des Judentums, zugleich eine Geschichte der neuen jüdischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.