Christoph Tepperberg
Philipp Ammon: Get Your Kicks. Ein altes Gleichnis
Moloko Print, 2025.
Euro 15,00.-
ISBN 978-3-910431-94-2
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu den bekanntesten biblischen Geschichten. Seit Jahrhunderten inspiriert es Theologen, Künstler und Pädagogen.
Philipp Ammon, Historiker und Schriftsteller mit einem breiten internationalen Hintergrund, greift diese Erzählung nun auf und verwandelt sie in ein literarisches Experiment: ein „Lustspiel in mehreren Auftritten“, das gleichermassen Theaterstück, Sprachspiel und politisches Zeitdokument ist. Sein Buch Get Your Kicks. Ein altes Gleichnis ist 2025 bei Moloko Print erschienen und stellt eine Einladung dar, die vertraute Parabel aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten.
Vielstimmigkeit statt eindeutiger Moral
Die Originalgeschichte, die wir aus dem Lukas-Evangelium kennen, ist klar strukturiert: Ein Reisender wird überfallen, liegt verletzt am Strassenrand. Ein Priester und ein Levit gehen vorüber, nur der verachtete Samariter hilft. Die Moral ist deutlich: Nächstenliebe kennt keine Grenzen von Ethnie oder Religion. Ammon übernimmt diese Ausgangssituation, stellt sie aber in einen theatralischen Rahmen. Seine Bühne bevölkern dutzende Figuren: Libertäre, Konservative, Sozialisten, Prediger, Missionarinnen, Pädagogen, Tiere, sogar Fabelwesen wie Hyänen und eine Grinsekatze. Alle treten auf, reden, deuten, erklären – und widersprechen sich. Jeder beansprucht, die richtige Sicht auf den am Boden liegenden Reisenden zu haben. Doch anstelle einer eindeutigen Lösung entsteht ein Stimmengewirr, das die Einfachheit der ursprünglichen Botschaft auflöst. Genau darin liegt die Stärke des Textes: Ammon macht erfahrbar, wie unsere Gegenwart funktioniert. Auch heute werden moralische Fragen selten klar beantwortet. Stattdessen melden sich Experten, Ideologen und Interessenvertreter zu Wort. Jeder weiss es besser, jeder deutet im eigenen Sinn. Ammon überträgt die biblische Situation so in die Welt unserer Talkshows, Kommentarspalten und sozialen Medien.
Historische und politische Spiegelungen
Als Historiker scheut Ammon nicht davor zurück, grosse historische Linien in sein Stück einzuweben. Da treten Figuren auf, die an die römische Herrschaft in Judäa erinnern, und andere, die heutige politische Schlagworte im Mund führen. Privatisierung, Sicherheitsindustrie, Aktivismus – vieles klingt uns vertraut, auch wenn es in der Sprache der Bühne verfremdet erscheint. Besonders spannend ist, wie Ammon die Frage nach Recht und Gesetz thematisiert. Mehrfach tauchen Sikarier auf, jene jüdischen Widerstandskämpfer, die in der Zeit vor der Zerstörung des Tempels gegen die Römer kämpften. Sie erscheinen mal als gefährliche Wegelagerer, mal als Kämpfer für Gerechtigkeit. Hier spiegelt sich ein uraltes Dilemma: Wann ist Gewalt Terror, wann Befreiungskampf? Wann ist Eigentum schützenswert, wann ein Ausdruck von Unterdrückung? Ammon zwingt seine Leserinnen und Leser, sich mit diesen Ambivalenzen auseinanderzusetzen.
Nähe zur jüdischen Auslegungstradition
Für das jüdische Lesepublikum ist dieses Werk besonders interessant, weil es an eine vertraute Tradition anknüpft: die Auslegung durch Vielstimmigkeit. Schon der Talmud lebt von der Gegenüberstellung widersprüchlicher Meinungen. Es geht nicht darum, am Ende einen Konsens zu erzwingen, sondern die Fülle der Deutungen sichtbar zu machen.
Ammons Stück funktioniert ganz ähnlich. Es gibt keinen abschliessenden Schiedsrichter, der sagt, welche Figur recht hat. Stattdessen bleibt der Leser oder Zuschauer zurück mit einer Vielzahl von Perspektiven. Dieses Verfahren erinnert an den Midrasch: Ein Text wird nicht einmal, sondern immer wieder neu gelesen, mit Fragen, Widerspruch und kreativen Ergänzungen. Damit zeigt Ammon zugleich, dass das Gleichnis vom Samariter nicht nur christliches Erbe ist. Es ist eingebettet in eine jüdische Lebenswelt, spielt in Judäa unter römischer Besatzung und verhandelt Fragen, die Juden seit der Antike umtreiben: Solidarität, Abgrenzung, Gewalt, Gesetz und Barmherzigkeit.
Sprachwitz und Satire
Trotz des ernsten Hintergrunds ist Get Your Kicks kein schweres Lehrstück. Ammon hat Sinn für Humor und Sprachwitz. Viele Figuren sprechen in überzeichneten Tonlagen, greifen auf Sprichwörter, Liedzeilen oder politische Parolen zurück. Mal klingt es nach Nestroy, mal nach Monty Python, mal nach den absurden Szenen eines Woody Allen. Dieser satirische Ton erfüllt eine wichtige Funktion: Er macht die ideologischen Floskeln erkennbar. Wenn der Libertäre die Privatisierung der römischen Strassen fordert oder eine Missionarin den Überfall als „Satire“ interpretiert, dann spüren wir sofort die Absurdität. Der Text entlarvt, wie gerne Menschen komplizierte Theorien an die Stelle einfacher Hilfe setzen.
Die unbequeme Frage: Wer hilft wirklich?
Bei all den Wortspielen, Anspielungen und satirischen Spitzen darf man nicht vergessen, worum es im Kern geht: Ein Mensch liegt am Boden, verwundet und hilflos. Die entscheidende Frage lautet: Wer hält an, wer hilft? Ammon zeigt, wie leicht es ist, Ausreden zu finden. Die einen erklären den Überfall zum anthropologischen Naturgesetz, die anderen sehen darin eine Halluzination, wieder andere beschuldigen das Opfer selbst. Jeder hat Argumente, warum er nicht eingreifen muss. Damit wird das Stück hochaktuell. Auch heute begegnen wir Armut, Gewalt und Not in unserer unmittelbaren Umgebung. Doch statt konkret zu helfen, verstricken wir uns oft in Diskussionen, Zuständigkeitsfragen und ideologischen Debatten. Ammon hält uns diesen Spiegel vor – ohne moralischen Zeigefinger, aber mit grosser Schärfe.
Bedeutung für die jüdische Gegenwart
Gerade für jüdische Leserinnen und Leser in Europa hat dieses Buch eine zusätzliche Ebene. Der Text macht deutlich, dass das jüdische Erbe in vielen grossen Erzählungen mitschwingt, auch wenn es oft vergessen wird. Das Gleichnis vom Samariter spielt im jüdischen Land, zwischen Jerusalem und Jericho. Die Konflikte, die Ammon aufgreift, erinnern an die jüdische Geschichte: die Erfahrung von Gewalt, das Ringen um Gerechtigkeit, die Gefahr von Zerrbildern und falschen Anschuldigungen. Auch die Gegenwart ist präsent. Wenn Ammon verschiedene Figuren reden lässt, klingt das wie eine Parodie auf heutige Diskurse über Sicherheit, Migration oder politische Verantwortung. Für jüdische Gemeinden, die sich täglich mit Fragen von Schutz, Zugehörigkeit und öffentlicher Wahrnehmung auseinandersetzen, hat das eine besondere Resonanz.
Literatur, die herausfordert
Get Your Kicks ist kein einfaches Buch. Wer eine klassische Theaterhandlung erwartet, wird verwirrt sein. Die Szenen folgen einander nicht nach strengem, dramaturgischem Aufbau, sondern eher nach dem Prinzip einer Collage. Manche Passagen wirken wie Kabarett, andere wie gelehrte Parodie. Manchmal verliert man fast den Überblick in der Vielzahl der Stimmen.
Doch genau das ist Absicht. Ammon will keine glatt polierte Geschichte erzählen. Er will die Leser fordern, irritieren, vielleicht auch provozieren. Wer sich darauf einlässt, wird am Ende reicher sein: nicht mit einer fertigen Moral, sondern mit vielen Denkanstössen.
Fazit
Philipp Ammons Get Your Kicks. Ein altes Gleichnis ist eine mutige literarische Arbeit. Sie verbindet Bibelauslegung mit Satire, historische Reflexion mit politischer Gegenwartskritik. Sie führt vor Augen, wie kompliziert die Welt geworden ist – und wie leicht wir uns in Worten verlieren, wenn eigentlich Taten gefragt wären. Das Buch ist damit mehr als ein literarisches Experiment. Es ist ein Beitrag zur Diskussion darüber, wie wir heute mit alten Geschichten umgehen, wie wir sie in unsere Zeit hinein verlängern und welche Fragen sie uns stellen. Für das Publikum des DAVID ist es eine besondere Empfehlung: weil es zeigt, dass jüdische Traditionen der Vielstimmigkeit, der Deutung und des Widerstreits lebendig sind – auch dort, wo man sie vielleicht nicht sofort erwartet.
Kurz gesagt: Get Your Kicks ist kein bequemes Buch. Aber es ist ein wichtiges, kluges und witziges Buch, das dazu einlädt, ein uraltes Gleichnis mit neuen Augen zu sehen.