Der Traktat derekh eretz rabbah 6:2
Originaltext Sefaria
הנכנס לבית כל מה שיגזר עליו בעל הבית יעשה ([כשהוא דבר כשרות]) ומעשה בשמעון בן אנטיפטרס שהיו אורחין נכנסין אצלו וגזר עליהן שיאכלו וישתו. והיו נודרין [בתורה שלא יאכלו ושלא ישתו ואח״כ היו אוכלין ושותין]. בשעת פטירתן היה מלקה אותן נשמעו הדברים לפני רבן יוחנן בן זכאי וחכמים. וקנטרן בדבר. אמרו מי ילך ויודיענו. אמר להם רבי יהושע אני אלך ואראה מה מעשיו (אמרו לו לך לשלום). הלך ומצאו על פתח ביתו אמר לו שלום עליך רבי. אמר לו שלום עליך רבי ומורי. אמר לו ביתא אני צריך אמר לו שב לשלום. ישבו ועסקו בתורה עד הערב. לשחרית א״ל רבי אלך למרחץ. א״ל רצונך. היה רבי יהושע מתירא שמא יקפחנו על שוקיו. לאחר שיצא אכלו ושתו. אמר מי מלויני. אמר לו אני. היה רבי יהושע מחשב בדעתו ואמר מה אשיב לחכמים ששגרוני. נפנה רבי יהושע לאחוריו אמר לו רבי למה נפנית לאחריך. אמר לו דבר אני צריך לשאול ממך. מפני מה בני אדם הנכנסין אצלך אתה מלקה אותן. ולי לא הלקית. אמר לו רבי אתה חכם גדול ודרך ארץ יש בידך. בני אדם הנכנסין אצלי גזרתי עליהן שיהו אוכלין. והן נודרין בתורה ועוברין. וכך שמעתי מפי חכמים שכל מי שנודר בתורה ועוברה לוקה ארבעים. [א״ל ברוך אתה לשמים שעשית כך חייך וחיי ראשך מי שנוהג לעשות כך הלקה אותו] ארבעים שלך וארבעים של חכמים ששגרוני. הלך רבי יהושע וספר דברים לפני חכמים מה שראה בשמעון אנטיפטרס:
Deutsche Übersetzung
Wenn man ein Haus (über Einladung) betritt, muss man tun, was immer der Gastgeber sagt. Es wird die Geschichte von Rabbi Simeon ben Antipatros erzählt, zu dem viele Gäste kamen und blieben. Sobald er sie drängte, zu essen und zu trinken, schworen sie bei der Thora, dass sie weder essen noch trinken würden, später assen und tranken sie doch. Als für sie die Zeit kam, zu gehen, pflegte er sie zu peitschen. Diese Angelegenheit kam Rabbi Jochanan ben Zakkai und den Weisen zu Ohren, die darüber erzürnt waren. Sie sagten: „Wer wird gehen und uns über die Sache berichten?“ Rabbi Joshua antwortete:“ Ich werde gehen und sehen, wie er sich verhält.“ Er ging und fand ihn am Eingang seines Hauses und begrüsste ihn: „Friede sei mit Dir, Meister.“ Der andere antwortete: „Friede sei mit Dir, Meister und Lehrer.“ Er sagte: „Ich brauche eine Unterkunft.“ Der andere antwortete: „Bleibe hier in Frieden.“ Sie setzten sich und beschäftigten sich mit dem Studium der Thora bis zum Abend.
Am Morgen sagte (R. Joshua): „Meister, ich möchte ins Bad gehen.“ Er antwortete: „Wie Du willst.“ Danach war R. Joshua besorgt, er würde ihn auf die Schenkel schlagen. Nachdem er (vom Badhaus) zurückgekehrt war, assen und tranken sie. Dann sagte er: „Wer wird mich begleiten (auf meinem Weg zurück)?“ Der andere antwortete: „Ich.“ R. Joshua dachte nach und sagte (zu sich selbst): „Was kann ich den Weisen berichten, die mich gesandt hatten (um Nachforschungen zu unternehmen)?“ Dann drehte er sich um (um zurückzusehen). (R. Simeon) fragte ihn: „Meister, warum hast Du Dich umgewendet, um hinter Dich zu schauen?“ Er antwortete: „Ich habe Dich etwas zu fragen. Warum hast Du andere Gäste geschlagen, die bei Dir blieben, und mich hast Du nicht geschlagen?“ Er sagte zu ihm: „Meister, Du bist ein grosser Weiser und hast gute Manieren. Die Personen, die bei mir bleiben, pflege ich zu drängen, zu essen, doch sie schwören bei der Thora (nicht zu essen) und übertreten (ihren Schwur); und so habe ich aus dem Mund der Weisen gehört, dass jeder, der bei der Thora schwört und sein Gelübde bricht, vierzig Peitschenhiebe bekommen soll.“ Er sagte zu ihm: „Möge Dich der Himmel segnen für das, was Du getan hast. Bei Deinem Leben und beim Leben Deines Kopfes! Wer sich so benimmt, dem gib vierzig Hiebe auf Deine Rechnung und (nochmals) vierzig auf Rechnung der Weisen, die mich gesandt haben.“ R. Joshua kehrte zurück und berichtete den Weisen, was er beobachtet hatte, während er bei Simeon ben Antipatros weilte.1
Englische Übersetzung
If one enters a house [by invitation], whatever the host tells him he must do. The story is told of R. Simeon b. Anṭipaṭros with whom many guests used to come and stay. When he pressed them to eat and drink, they vowed by the Torah that they would neither eat nor drink, but later they partook of food and drink. When the time came for them to depart, he used to flagellate them. This matter came to the notice of Rabban Joḥanan b. Zakkai and the Sages who were angered by it. They said, ‘Who will go and inform us [of his action]?’ R. Joshua replied, ‘I will go and see how he conducts himself.’
He went and found him at the entrance of his house and greeted him, ‘Peace be upon you, Master.’ The other replied, ‘Peace be upon you, Master and Teacher.’ He said, ‘I need a lodging.’ The other replied, ‘Lodge here in peace.’ They sat down and occupied themselves in the study of the Torah until evening. In the morning [R. Joshua] said to him, ‘Master, I want to go to the bathhouse.’ He replied, ‘As you wish;’ whereupon R. Joshua was afraid lest he would smite him on his thighs. After he returned [from the bathhouse] they ate and drank. He then said, ‘Who will accompany me [on my way back]?’ The other replied, ‘I will.’ R. Joshua was then meditating and saying [to himself], ‘What can I report to the Sages who sent me [to institute inquiries]?’ He then turned [to look] back. [R. Simeon] asked him, ‘Master, why did you turn to look behind you?’ He replied, ‘I have something to ask you. Why did you flagellate other guests who stayed with you and me you did not flagellate?’ He said to him, ‘Master, you are a great Sage, and you have good manners. The persons who stay with me I usually press to eat, but they vow by the Torah [not to eat] and transgress [their vow]; and so have I heard from the mouth of the Sages that whoever vows by the Torah and breaks his vow has to be given forty lashes.’ He said to him, ‘May Heaven bless you for what you have done. By your life and by the life of your head! Whoever behaves in this manner, give him the forty lashes on your account [57a] and [another] forty on account of the Sages who sent me.’ R. Joshua returned and reported to the Sages what he had witnessed while he was with Simeon b. Anṭipaṭros.2
Bei erstem Lesen wirkt die Erzählung von einem Gastgeber, der ein offenes Haus für jedermann führt, seine Gäste nötigt, beim Essen und Trinken ohne Zwang zuzugreifen, um sie nach dem gemeinsamen Mahl ordentlich zu verprügeln eher wie eine Schelmengeschichte, wie wir sie häufig in den Erzählungen aus den 1001 Nächten vorfinden. Die Sache mit den grosszügig verabreichten Streichen (im Sinne von Prügeln) für die Gäste klingt eher nach lustigen, vielleicht auch bösen Streichen (hier im Sinne von Schabernack) des Einladenden. So absonderlich die Geschichte auch erscheinen mag, handelt es sich dennoch um eine klassische rabbinische Erzählung, die – wenn auch ganz offensichtlich erfunden – einen lehrreichen Inhalt vermitteln soll. Die satirische Note des Traktates ist nicht zu übersehen, auch wenn er sich der klassischen Form eines solchen bedient und keineswegs die Scherzerzählung gleichsam als Unterhaltungslektüre im Vordergrund steht.
Hauptfigur ist ein Rabbi Simeon ben Antipatros – wohl eine nicht historische, fiktive Figur, da ein solcher in der gesamten Literatur sonst keine Erwähnung findet. Dieser ist ein bekannter und beliebter Gastgeber, der laufend Gäste einlädt und diese auch bittet, geziemend zu speisen und zu trinken. Sobald das Essen vorüber ist, pflegt er seine Gäste zu schlagen, wobei er dies in weiterer Folge damit rechtfertigt, dass die Geladenen stets unter Berufung auf die Thora erklären würden, sie seien überhaupt nicht hungrig, um dann umso intensiver zu tafeln. Er sieht sich also veranlasst, seine Gäste zu strafen, da diese regelmässig leichtfertig Meineide zu schwören pflegen.
Die Sache gerät einem der grossen rabbinischen Gelehrten, Rabbi Jochanan ben Zakkai und dessen Kreis von Weisen zu Ohren, die umgehend eine Überprüfung am Ort des Geschehens vornehmen und einen freiwilligen Probanden aus ihrer Mitte zu Antipatros senden, der dort auch tatsächlich aufgenommen und bewirtet wird. Rabbi Joshua wird also geschickt, er speist und diskutiert in guter rabbinischer Tradition mit dem Gastgeber. Am folgenden Morgen sucht er das Bad auf und ist besorgt, bei seiner Rückkehr Schläge zu empfangen. Nichts dergleichen geschieht. Im Gegenteil, er isst und trinkt erneut mit Simeon, der schliesslich von ihm wissen will, warum er sich beim Weggehen umdreht. Nachdem ihn Joshua befragt, warum er die anderen geprügelt habe, ihn selbst aber verschont, erhält er die Erklärung, dass Simeon die Leute richtiggehend zu essen nötige, was diese stets unter Eid, sie seien nicht hungrig ablehnten, um dann umso begeisterter zu essen. Er beruft sich auf die Thora, die auf den Bruch eines Eides die Strafe von vierzig Streichen vorsieht. Joshua stimmt ihm zu und bestärkt ihn, die vierzig auf Basis des Gesetzes zu verabreichen und gleich nochmals vierzig dazu im Namen der Weisen, die ihn gesandt hatten. Was vordergründig nach Willkür des Gastgebers aussah, entpuppt sich als strenge Rechtsauslegung und -anwendung. Die abstruse Erzählung stellt sich somit als Lösung eines Rechtsfalles dar, die auch einen moralischen Inhalt vermittelt: das Verbot des Meineides und den Hinweis, sich leichtfertiger Schwüre zu enthalten.
Die Geschichte hat mehrere Ebenen, nämlich den Dialog zwischen Simeon und Joshua, eingebettet in die rabbinische Diskussion im Jochanaan-Kreis, quasi als Rückblende, die – bei allem Schmerz – doch heitere Note mit tiefliegendem rechtlichem Hintergrund. Das schlichte Gastmahl wird zum Schauplatz religiös begründeter Rechtsprechung und gleich folgender Vollstreckung aus derselben Hand. Es stellen sich nachstehende Fragen: in welchem rechtlichen und ethischen Kontext steht die Schilderung? Welche Stellung hat die Erzählung in der rabbinischen Tradition und wie funktioniert – durchaus subtiler – rabbinischer Humor?
Es gilt zu zeigen, dass hinter dem absurd anmutenden Text nicht nur ein Lehrstück über Recht, Ethik, sondern sogar Höflichkeitsregeln, um sich in Gesellschaft zu bewegen, stecken.
Einordnung des Traktates
Derekh eretz rabbah (abgekürzt DER, „Weg der Erde“ also Lebensregeln) gehört zu den sogenannten Kleinen Traktaten und ist eigentlich nachtalmudisch, bestehend aus drei Abteilungen, beziehungsweise aus elf sogenannten perakim. Sefaria gibt als Entstehungszeit einen Rahmen von 100 bis 900 nach Beginn der Zeitrechnung an.3 Es handelt sich durchwegs um Themen, zu denen es keine eigenen Traktate in Mischna und Talmud gibt. Nach Stemberger könnte der Grundstock schon in tannaitischer Zeit entstanden sein, wurde aber später überarbeitet und erfuhr ein lebendiges Wachstum, das zu sehr variierender Texttradition führte.4 Die Texte wirken demnach auch eher bunt zusammengewürfelt, wenngleich es doch eine gewisse Ordnung gibt:
6:1 behandelt ein halachisches Thema, nämlich verbotene Heiraten, also reine Rechtsfragen.
6:2 spricht von den Sünden der Schlechten, denen die Tugenden der Guten gegenübergestellt werden, wobei es jeweils zwölf Klassen von den Guten und von den Schlechten gibt.
6:3 bis 6:11 diskutieren allgemeine Anstandsregeln, aber auch die Verhaltensweisen der Weisen und ihrer Schüler untereinander.
Das Kapitel sechs – aus dem unser Textbeispiel stammt – formuliert besondere Benimmregeln in Gesellschaft, vornehmlich bei Einladungen zu Gastmahlen. Der Titel signalisiert, dass es sich nicht vorrangig um rituelles oder rechtlich richtiges Verhalten handelt, vielmehr um Regeln für zwischenmenschliche Begegungen und des alltäglichen Anstandes, aber stets im Einklang mit den Geboten der Thora. Dieser Abschnitt enthält also praktische Empfehlungen für das korrekte Verhalten von Gastgebern und deren Gästen, ferner anekdotische Erzählungen, die Fehlverhalten blossstellen und somit als Lehrbeispiele dienen.
Handelnde Personen
Da ist zunächst der Gastgeber, der immerhin Rabbi Simeon ben Antipatros genannt wird, von dem man ausser seinem (griechisch klingenden) Namen nichts weiss, der somit keine historische Figur sein dürfte. Der Titel Rabbi sagt insofern nichts aus, als es sich dabei auch um eine bloss höfliche Anrede handeln kann. Er geriert sich einerseits als freigiebiger Gastgeber, der ein offenes Haus führt, zugleich aber andererseits als sittenstrenger Richter, der um die Wahrung der Werte des Gesetzes und der Moral bemüht ist. Er nimmt seine Form der Rechtsprechung aus eigener Machtvollkommenheit über die ihm quasi ausgelieferten Gäste selbst wahr, ohne ein formelles Verfahren mit Möglichkeit der Verteidigung durchzuziehen, er macht gewissermassen „kurzen Prozess“ und vollstreckt seine Entscheidung auch gleich persönlich. Ob er die Delinquenten über das ihnen Vorgeworfene eigentlich aufklärt, bleibt im Text offen. Die Figur stellt sich im Text als sehr zwiespältig dar, einerseits als gastfreundlicher Mann, der gerne und reich bewirtet, andererseits als gewalttätige Person, die zumindest vordergründig scheinbar grundlos ihren Gästen doch ganz erhebliche Gewalt antut. Erst durch genaues Hinterfragen offenbart sich, dass seine Handlungen religiös motiviert sind und es ihm um strenge Beachtung wichtiger Gebote geht und Ahndung von Vergehen, die harmlos scheinen mögen, es nach seiner strengen Auslegung jedoch keineswegs sind. Die Prügel sind somit kein Akt der Willkür oder sadistischer Gewaltausübung, sondern vielmehr die einzig richtige, da vom Gesetz vorgesehene Reaktion auf wiederholt ausgesprochene Meineide. Allerdings ignoriert er dabei ganz wesentliche Richtlinien rabbinischer Rechtsprechung: es gibt nämlich kein Gericht, kein geordnetes Verfahren, in welchem den Beschuldigten die Möglichkeit einer Verteidigung eingeräumt wird, keine Befragung von Zeugen (ein ganz wichtiger Bestandteil jedes Verfahrens), und auch kein formelles Urteil. In seiner Selbstermächtigung schwingt er sich zum alleinigen Richter und zudem auch gleich zum Vollstrecker seiner Entscheidung auf.
Rabbi Joshua, die „Testperson“ wird nicht näher eingeführt, er entstammt dem Kreis der Weisen, die Rabbi Jochanan umgeben. Da der Name auch unter den gelehrten Rabbinen häufig ist, entzieht er sich einer genauen Einordnung. Er meldet sich vorerst freiwillig, um den Wahrheitsgehalt der den Weisen zugetragenen Schilderungen zu prüfen, ist dann doch ängstlich besorgt, der Gastgeber könne mit ihm widerfahren wie mit allen anderen Gästen, wird von diesem aber beruhigt und als weiser Mann gepriesen. Schliesslich bekräftigt er den Gastgeber nicht nur in seinem Tun, er empfiehlt diesem sogar, das Strafmass im Namen der Weisen, die ihn entsandt haben, zu verdoppeln, was den Regeln krass widerspricht, wie unten noch auszuführen sein wird.
Die durchwegs namenlosen Gäste stehen als Vertreter für durchaus übliche soziale Konventionen: die höflich gemeinte Ablehnung, der Aufforderung zum Essen tatsächlich nachzukommen. Man will nicht den Eindruck erwecken, man sei nur gekommen, um sich den Bauch vollzuschlagen. Der solcherart ausgedrückte Anstand wird tatsächlich nur vorgeschoben und – besonders verwerflich – noch mit einem religiösen Schwur verbunden, natürlich nur zur Unterstreichung der Ernsthaftigkeit. Die Verfehlungen der Gäste sind also mehrfache, nämlich die gänzlich unwahre Behauptung, der vorgeschobene Widerwille, verbunden mit einem Meineid, einem Vergehen nicht nur gegen den Gastgeber, sondern in erster Linie gegen G’tt!
Interessant ist die Person des Rabbi Jochanan ben Zakkai; er ist nicht nur die einzig historisch gesicherte Figur im Text, er ist eine gewichtige und prägende. Umso mehr erstaunt es, dass die Erzählung quasi um ihn herum gesponnen wird, ihm selbst aber nicht einmal die kleinste Rolle zukommt. Wir werden eingangs darüber informiert, dass das seltsame Betragen des Gastgebers ihm und seinen Weisen zu Ohren gekommen sei und der ganze Kreis darüber verärgert (wohl auch verwundert) gewesen sei. Sie – allgemein – stellen die Frage, wer denn bereit sei, die Angelegenheit zu überprüfen, worauf Joshua sich freiwillig dazu bereit erklärt. Eine Beteiligung des Jochanan wird nicht erwähnt. Auch gibt es keine Reaktion auf den Bericht des von seiner Mission zurückkehrenden Joshua, nicht von den Weisen und nicht von Jochanan. Das verwundert doch sehr. Eigentlich hat die Erzählung somit ein open-end; es gibt keine Wertung der doch zuvor so neugierigen Mitglieder des Kreises. Richtigerweise müsste hier eine abschliessende Auslegung des Gehörten erfolgen, zumindest eine Disputation der Anhänger des Jochanan über den Gehalt der Geschichte, die Richtigkeit oder Verfehlung im Verhalten des Antipater. Und schliesslich war eine Stellungnahme des Rabbi Jochanan selbst unbedingt zu erwarten, ist dieser doch einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit.Wozu wird er im Text also überhaupt erwähnt, wenn ihm doch keinerlei Rolle zukommt? Um die Wichtigkeit dieses Lehrbeispieles herauszustreichen, das doch eher scherzhaften Charakter hat?
Wer ist Rabbi Jochanan ben Zakkai?
Der Mann lebte im ersten Jahrhundert der Zeitrechnung, während des Überganges von der Tempelzeit zum rabbinischen Judentum. Er gilt als Schüler des bedeutenden Rabbi Hillel, zu seinen Schülern zählen ihrerseits bedeutende Rabbinen, wie der berühmte Eliezer ben Hyrkanos oder Jehoshua ben Chananja.5 Im Jahre 66 der Zeit kam es nach kleineren Aufständen zum offenen Krieg mit Rom. Die unklaren Verhältnisse im römischen Reich vor und nach dem Tod Neros begünstigten vorerst die Aufständischen, die sich immerhin vier Jahre gegen die Übermacht behaupten konnten. Im Jahre 70 gelang es schliesslich Titus, Jerusalem zu erobern, womit die letzten Reste von Eigenstaatlichkeit beseitigt waren und mit dem Brand und der Plünderung des sogenannten Zweiten Tempels auch das religiöse Zentrum verloren ging. Dass das Judentum diese Katastrophe überhaupt überwinden konnte, ist einer kleinen Gruppe von Schriftgelehrten um den berühmten Jochanan ben Zakkai zu danken.6
Die Gründungslegende (beschrieben in Talmud Gittin 56 a-b) berichtet über seine legendäre Flucht aus der belagerten Stadt in einem Sarg, indem er sich tot stellte und es so schaffte, die Wachen zu täuschen. Er suchte den römischen Heerführer Vespasian auf, der just zu diesem Zeitpunkt zum neuen Kaiser ausgerufen wurde. Von diesem erbat Jochanan den Ort Jabne (in der Nähe des heutigen Tel Aviv gelegen), um dort ein Lehrhaus zu gründen. Somit wurde die kleine Stadt zum Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit. Ob die Fluchtgeschichte der Wahrheit entspricht oder „gut erfunden ist“, lässt sich nicht feststellen. Die Flucht in einem Sarg ist ein wiederkehrendes Erzählmotiv. Die Begegnung mit Vespasian unterstreicht jedoch Jochanans kompromissbereites Verhalten den Besatzern gegenüber.7 Dies belegen auch seine bekannten Dialoge mit dem römischen Befehlshaber Antigonos.8
Jochanan soll Vespasian um die Rettung des gesamten Geistes des Volkes Israel gebeten haben – nicht nur ein Akt politischer Klugheit, sondern Symbol für die Zeitenwende vom alten Opferkult hin zur Gelehrsamkeit. Neben dieser verdienstreichen Tätigkeit sagt man Jochanan nur Gutes nach: abgesehen von seiner legendären Freundlichkeit, Gelehrsamkeit (er hat nie über Anderes als religiöse Lehren gesprochen, kein profanes Gespräch geführt, niemand ist ihm je im Lehrhaus zuvorgekommen)9, wird seine rationale Auslegung der Schrift hervorgehoben. Er habe das Judentum gegen Anfeindungen von aussen abgeschirmt. Da man ihn auch mit mythischen Traditionen in Verbindung bringt, wird er als Überträger einer Geheimlehre genannt. Er erfreute sich nicht nur allgemeiner Beliebtheit, er kannte angeblich alle Schriften und wird zudem in zahllosen Traktaten auch namentlich als Autorität erwähnt. Umso mehr erstaunt der Umstand, dass ihm hier gar keine Rolle zukommt, er nur als „graue Eminenz“ im Hintergrund bleibt. Das kann nur dazu dienen, dem Text neben der Heiterkeit auch eine wertende Rolle zuzuordnen, obwohl der rabbinische Dialog sehr kurz ist und zwischen Antipater und Joshua stattfindet, es somit keine Stellungnahme der unbekannt bleibenden „Weisen“ oder ihres grosse Autorität geniessenden Leiters gibt, was doch zwingend zu erwarten war.
Rabbinischer Dialog
Hier wird kein Dialog zwischen Mitgliedern der Weisen oder mit deren geistigem Führer Jochanan geschildert – dazu kommt es gar nicht, anstatt dessen wird der relativ kurze Diskurs zwischen dem Gastgeber und seinem Gast Joshua in Form einer Rückblende dargestellt, worüber der Letztere seinen Entsendern berichtet, ohne dass dies weiter erörtert wird. Generell liefen die rabbinischen Debatten nach dem Muster ab, dass man sich in den sogenannten Lehrhäusern traf und eine religiöse, oftmals auch eine rechtliche Frage zwecks Klärung zur Diskussion gestellt wurde. Zweck ist die Weiterbildung des Rechtes beziehungsweise die Auslegung einer Textstelle. Die diskutierenden Rabbinen begegneten dabei einander mit grosser Höflichkeit. Das Lehrgespräch basierte auf Argument und Gegenargument, wobei man bemüht war, die eigene Position durch Zitate aus Textstellen zu stützen. Das rabbinische Judentum ist in allen Zeiten durch Diskussionskultur geprägt und lebt von dieser. Unterschiedliche Meinungen werden dabei nicht nur erörtert, sondern von den anderen Teilnehmern auch akzeptiert und als Element der Wahrheitssuche gesehen.
Gerade diese Elemente haben wir im gegebenen Fall nicht: es gibt zwar ein Gespräch, der Gast fragt um Aufklärung des seltsamen Verhaltens in den anderen Fällen, das in seinem Falle ja nicht stattfindet, er erhält auch die einfache Erklärung. Damit ist die Angelegenheit im Sinne der religiösen Rechtsauffassung des Gastgebers geklärt, ohne Abwägung von Für und Wider, ohne Versuch einer Darstellung der Position der Gäste und deren innerer Absichten oder Motivation. Es wird nicht der Versuch unternommen, zu erforschen, ob diese sich der Tragweite ihrer Vorgangsweise überhaupt bewusst sind, ob sie erkennen, dass die so einfach hingesagte Beschwörung überhaut den Tatbestand des Meineides, also eines ganz schweren Vergehens darstellt. Wohl erklärt Antipatros, dass er den falsch schwörenden Gästen unter Berufung auf die Schrift entsprechend gleich vierzig Hiebe verpasst. Joshua stimmt dem nicht nur zu, sondern fordert ihn auf, die Strafe zu verdoppeln, was wiederum dem gesetzlichen Strafmass widerspricht, da es damit bei weitem überzogen wird.
Strafkanon und literarische Erwähnungen
Der Strafen gibt es zahlreiche, auf viele Delikte steht die Todesstrafe, so bei allen Delikten, die sich gegen G’tt richten: G’tteslästerung, Götzendienst, Zauberei, falsche Prophezeiungen, sogar auf die Verletzung des Sabbatgebotes steht der Tod. Bei Delikten gegen die Mitmenschen werden viele als so schwer angesehen, dass sie ebenso mit dem Tode bestraft werden, nämlich Mord, Ehebruch, sexuelle Vergehen, Gewalt gegen die Eltern und falsche Zeugenaussagen. Der Vollzug erfolgt nach einem formellen Richterspruch meist durch Steinigung, also durch eine grössere Menge an Vollstreckern. Daneben gibt es Körperstrafen, besonders die beliebte Auspeitschung, für deren Anwendung sehr strikte Regeln bestehen.
Neben der Bestrafung war auch durchaus die Wiedergutmachung, etwa bei Beschädigungen, gebräuchlich, die dem Geschädigten mehr nützt als die Züchtigung des Täters. Der – stets öffentlich durchgeführte – Strafvollzug hatte schon damals beabsichtigte mehrfache Wirkung: neben der Genugtuung dem Gesetz gegenüber, also Wiederherstellung des sogenannten Rechtsfriedens, sollte die Strafe einerseits dem Täter die Unrichtigkeit seines Tuns vermitteln und diesen von der Begehung weiterer Straftaten abhalten, aber auch für die Volksgenossen, die der Vollstreckung beiwohnten, eine abschreckende Mahnung sein – also sowohl general- als auch spezialpräventive Wirkung entfalten, um es mit modernen Begriffen auszudrücken.
Da es die Einrichtung der Verwahrung von Straftätern in Ermangelung von Gefängnissen nicht gab, kam auch noch die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft in Betracht, für den Bestraften mit ungeahnten Folgen verbunden. Er ging all seiner Rechte verlustig, verlor somit auch sein gesamtes Gut, war also vogelfrei (eine Wirkung, die bis weit ins Mittelalter hinein auch in europäischen Staaten bestand). Wer solcherart ausserhalb der Rechtsgemeinschaft stand, genoss keinerlei Schutz, er konnte von jedermann sogar straffrei getötet werden. Daneben bestand auch noch die Möglichkeit des Verkaufes in die Sklaverei. Der Prügelstrafe werden einige Textstellen gewidmet. So begrenzt Deut 25,2-3 die Anzahl der Schläge mit vierzig. Diese Obergrenze hat zwei bemerkenswerte Hintergründe: der Bestrafte sollte durch die Anwendung nicht getötet werden, das ist nachvollziehbar. Er solle aber durch die Bestrafung nicht entwürdigt werden – das erscheint seltsam, ist doch der öffentliche Vollzug einer Auspeitschung zumindest aus moderner Sicht nicht nur körperlich schmerzhaft, sondern geradezu besonders stark die Würde beeinträchtigend.
Um die Höchstzahl nicht zu überschreiten, gibt es die Einschränkung, wonach nur 39 Schläge verabreicht werden – man könnte sich doch verzählen, somit wäre die Gefahr des Übermasses gebannt. (Makkot 22b:2, 22a:15). Der Apostel Paulus berichtet, man habe ihm gar fünfmal die „40 weniger einen“ verabreicht. (das klingt schon fast nach masochistischer Lust an der Strafe?) (Kor 2,11,24). Für die Reduktion auf 39 gibt es eine weitere nachvollziehbare Begründung, die nicht im unbeholfenen fehleranfälligen Zählverhalten liegt: die Zahl 39 ist durch drei teilbar. Die Schläge wurden in drei Tranchen zu je 13 verabreicht. Üblicherweise wurde der Delinquent an eine Säule gebunden und erhielt die Schläge somit in drei „sets“ auf verschiedene Körperstellen, von vorne und von hinten (zum Beispiel Makkot 23a:8). Es gibt auch Textstellen, die ausführen, es sei sehr wohl noch ein vierzigster Schlag, quasi als Draufgabe, ausgeführt worden. (Makkot 2b:5). Während der Prozedur wurden übrigens geeignete Schriftstellen verlesen – ob der Gezüchtigte in der Lage war, diesen gehörige Aufmerksamkeit zu schenken, darf bezweifelt werden.
Makkot
Dies ist ein eigener Traktat im Babylonischen Talmud, der sich nur mit Strafen und deren Anwendung befasst.10 Es gab Regeln, die erlaubten, die Anzahl von vornherein einzuschränken, nämlich dann, wenn man den Verurteilten „…schätzte, keine vierzig auszuhalten, so ist er frei“ (siehe auch Makkot 22a:16). Ebenso delinquentenfreundlich ist die Regelung, dass dann, wenn dieser sich vor oder während der Prozedur selbst beschmutzt, die Strafe ganz oder deren Rest erlassen sei. (so etwa in Makkot 22b:13, 23a:18, 23a:15). Es gab auch die Möglichkeit, ein geringeres Ausmass zu verhängen, zum Beispiel für das nur geringfügige Beschneiden des Bartes (nur ein set gemäss Makkot 21a:5, oder zwei: Makkot 21a:4)), oder höhere für den Genuss verbotener Tiere (vier sets gemäss Makkot 16b:8). In gravierenden Fällen konnte sogar eine Verdoppelung der Anzahl erfolgen, so bei falscher Zeugenaussage (Makkot 4b:10). Und wenn sich nun die Frage erhebt, wie denn das mit der Höchstzahl vereinbar sei, die ja auch dazu dient, eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung zu vermeiden: dafür gibt es ein probates Mittel, nämlich die Aufteilung der Durchführung in zwei Teile. Man wartet die Heilung nach der ersten Runde ab und vollzieht dann erst die zweite (Makkot 22b:7): eine echt salomonische Lösung.
Mit dieser doppelten Anzahl sind wir schon nahe an unserem Text, der doch auch eine doppelte Anwendung empfiehlt, vierzig für den Gastgeber und nochmal vierzig im Namen der Weisen. Bedenklich ist aber noch eine andere Seite: wer richtet hier? Der eigenmächtige Gastgeber, der das Strafmass bestimmt und auch gleich den Vollzug selbst vornimmt. Er verletzt damit ganz bewusst Grundprinzipen rabbinischer Rechtsprechung. Eine wörtlich genommene, unreflektierte Gesetzesanwendung ohne jede Abwägung ist bedenklich und gefährlich zugleich und wird von keinem Text in dieser Form gutgeheissen. Der Gastgeber erscheint eher von blinder Wut oder Rachsucht getrieben. Der Text gibt uns keinen Anhalt dafür was diesen eigentlich befähigt, sich zum Richter aufzuwerfen. Mag sein, dass er sich persönlich durch die übertriebene, vielleicht unterwürfige, jedenfalls falsche Höflichkeit beleidigt fühlt, an der, wie er ohnehin weiss, kein Wort wahr ist, kommen doch die Gäste in Wahrheit nur um des unentgeltlichen Schlemmens willen. Das berechtigt ihn sicher, diese moralisch zu verurteilen. Aber der falsche Eid unter Berufung auf die Thora ist eine schwerstwiegende Verfehlung gegen G’tt, die nach einem geordneten Verfahren schreit und keineswegs Selbstjustiz rechtfertigt. Die Gäste sind wohl weniger Täter als vielmehr Opfer einer Verbindung von üblicher Alltagshöflichkeit gepaart mit religiöser Rhetorik. Eine ernsthafte Abwägung, ob hier tatsächlich eine schädliche Neigung vorliegt (Hang zum bewussten Meineid) oder es sich um unbedachte – ja gar nicht einmal ernstgemeinte – leichtfertig dahingesagte Äusserungen handelt, wie sie jedem und jeder im ersten Überschwang entgleiten können, ob es sich somit überhaupt um ein strafwürdiges Verhalten handelt, wird hier nicht vorgenommen. Weder von Seiten des Gastgebers noch von dem erkundenden Joshua oder seinen Auftraggebern.
Vielleicht ist nur intendiert, eine Warnung vor unbesonnenen Schwüren oder auch nur schwurähnlichen Äusserungen zu geben. Im heutigen Jugendjargon wird jeder zweite Satz einer Schilderung mit dem Zusatz: „ich schwör Dir“, bekräftigt, oft noch unter Berufung auf Gesundheit oder Ähnliches, ohne jedes Bedenken, dass es sich dabei um eine formelle Eidesleistung handeln könne. Eben dies soll der Text als Lehrbeispiel auch verhindern: leichtfertige Aussagen, deren Erfüllung von vornherein nicht beabsichtigt ist, zu tätigen oder gar mit einer religiösen Schwurformel zu untermauern. Den wenigsten Besuchern war wohl daran gelegen, hier einen formellen Eid abzulegen – wozu auch. Zu gross war doch die Gefahr, der Gastgeber werde sie unter Hinweis auf den getanen Schwur vom Genuss des Mahles ausschliessen und auf die Rolle von Zusehern reduzieren. Bei einer Gegenüberstellung der bisherigen Ergebnisse wird der Verdacht erhärtet, dass es sich doch um eine scherzhafte Belehrung handelt.
Analyse
Rein formal liegt eine durchaus klassische rabbinische Fallschilderung vor. Zweck dieser Schilderungen ist keineswegs deren Unterhaltungswert (wenn dieser auch im gegenständlichen Falle durchaus hoch ist), sondern natürlich im Lehrwert der Aussagen. Es gibt eine kurze Schilderung des Sachverhaltes, die eigentlich auf ein ganz grobes Fehlverhalten des Gastgebers schliessen lässt, der augenscheinlich grundlos seine Gäste zu verprügeln pflegt. Dabei ist allerdings der Einleitungssatz zu beachten, wonach man sich als Gast an die Spielregeln des Gastgebers zu halten hat (was schon die Höflichkeit gebietet). Dieser Hinweis lässt darauf schliessen, dass es tatsächlich doch die Gäste sind, die etwas Falsches tun. Zu überprüfen gilt es daher, worin der Verstoss gegen die Anstandsregeln oder gar das Gesetz liegt, und wem dieser anzulasten ist. Das wird durch einen Abgesandten überprüft, der sich selbst aus eigener Überzeugung wohlverhält, daher tatsächlich keine Strafe zu befürchten hat und auch keine bekommt. Er befragt den Gastgeber zu seinem ungewöhnlichen Verhalten, der ihn dazu aufklärt und schliesslich auch die Bekräftigung der Richtigkeit seines Tuns durch den Überprüfenden erhält.
Der rabbinische Dialog findet somit zwischen Antipater und Joshua statt. Die Erwähnung des Jochanan, des ursprünglichen Unmutes dessen und seiner Getreuen über den vermeintlich unbotmässigen Gastgeber und Entsendung eines Kontrollors sind somit nur eine Rahmenerzählung, haben diese doch mit der Wertung selbst nichts mehr zu tun. Joshua holt auch vor seiner Empfehlung der Verdoppelung des Strafmasses deren Zustimmung nicht ein, spricht zwar in deren Namen, aber aus eigenem Gutdünken. Die Erzählform bewirkt die Einfügung der Schilderung von Vorschrift und Einhaltung der Erfüllung in eine Alltagssituation (auch weitere Schilderungen im Traktat behandeln Verhaltensregeln in Gesellschaft namentlich bei Essenseinladungen). Dem Text kommt also eine didaktische Funktion zu. Die Schilderung des eigentlichen Inhaltes ist denkbar knapp. Auch der Dialog selbst ist kurz und enthält keine satirischen Momente, vielmehr eine strenge Berufung auf das Gesetz. Dies kommt auch bei der strikten Einhaltung des Strafmasses zum Ausdruck.
Die Ironie offenbart sich schon durch den Beginn der Schilderung: es ist absolut unglaubwürdig, dass jemand Menschen einlädt, um sie dann wegen einer relativen Nichtigkeit zum Abschied zu prügeln. Auch würde sich solches Verhalten alsbald herumsprechen und Nachforschungen nach sich ziehen beziehungsweise bewirken, dass niemand diese seltsamen Einladungen annimmt. Die ganze Geschichte strotz vor Übertreibung. Für die Anwendung von Körperstrafen gibt es sehr genaue Vorgaben zur Verhängung ebenso wie zur Durchführung (Gerichtsbarkeit, Beiziehung von Zeugen, medizinische Überwachung). Die Anwendung von Zwangsgewalt „in Ausübung des Gesetzes“ durch eine Privatperson widerspricht rabbinischer Rechtsprechung. Ebenso das Zusammenfallen von Richter und Henker in einer Person. Ganz abgesehen davon, dass der Gastgeber wohl physisch nicht in der Lage wäre, mehrere Personen mit jeweils 40 Streichen zu bedienen. Vielleicht symbolisch mit einigen wenigen angedeuteten? Schon gar nicht möglich ist die Verdoppelung des gesetzlichen Masses, wie von Joshua angeregt – auf welcher Basis denn? Gegen ihn und die Seinen hat sich ja niemand versündigt. Wenn er also noch eine volle Ladung draufgibt, ist das doch nur als Scherz zu sehen. Die Geschichte beginnt mit einer wilden Übertreibung und endet mit einer noch grösseren.
Man bringt hier den Lesern auf heitere Art die Problematik des voreiligen oder leichtfertigen Schwures näher. Die religiöse beziehungsweise rechtliche Frage ist somit eine durchaus ernsthafte, nur die Verpackung grenzt ans Groteske. Es darf natürlich auch die Frage gestellt werden, ob Leser oder Zuseher es tatsächlich ernst nehmen und beherzigen, wenn ihnen für einen so locker hingesagten Schwur, der vom Sprecher vielleicht gar nicht als solcher wahrgenommen wird gleich achtzig Hiebe angedroht werden: eine wohl tödliche Anzahl. Nimmt man eine solch überzogene Drohung dann eigentlich wahr? Einen unwahren Schwur zu tun oder sich von vornherein mit der Absicht tragen, diesen nicht einzuhalten, widerspricht dem g’ttlichen Gebot. Exodus 20:7 sagt: „Du sollst den Namen des Herrn, deines G’ttes nicht missbrauchen.“ Die Gäste, die den Schwur leisten, nicht hungrig zu sein und nicht essen zu wollen, verletzen das Gebot nicht absichtlich, auch werden sie vom Gastgeber gedrängt, richtig zu essen. Dies abzulehnen wäre nicht nur gegen den Sinn der Einladung, es wäre auch unhöflich. Das Dilemma liegt somit einzig in der Schwurformel. Die Mischna (Nedarim 3:1) spricht von vier Arten von Gelübden, welche die Weisen für nichtig erklärten, darunter zum Beispiel Gelübde der Übertreibung – um gerade solch dürfte es sich doch handeln. Die Gäste schwören nicht, ein Gebot zu übertreten, sondern nur, nichts essen zu wollen. Der Schwur wird hier als leere Geste entlarvt, worauf der Gastgeber mit aller Härte antwortet, die das Gesetz (theoretisch) zur Verfügung stellt (er ist ja tatsächlich kein Richter) Ist ein Schwur, hinter dem gar keine Ernsthaftigkeit steht, dennoch bindend? Aus Sicht der Rabbinen wohl schon, die Geschichte warnt doch davor, religiöse Werte zu banalisieren. Bei all der Übertreibung und der vermutlich beim Leser ausgelösten Heiterkeit bei der blossen Vorstellung, dass der Einladende beim Abschied unter der Türe steht und auf die Vorbeigehenden eindrischt, ist der Ernst des Anliegens nicht zu übersehen.
Die Geschichte entlarvt leere Höflichkeitsfloskeln, kritisiert aber ebenso übertriebene Frömmelei und warnt überdies vor einer überzogenen Anwendung starrer juristischer Regelungen. Das ist ihr pädagogischer Wert. Humoristische beziehungsweise satirisch überzogene, somit geradezu absurde oder groteske Szenarien sind der rabbinischen Literatur keineswegs fremd. Sie werden eingesetzt, um durchaus tiefgehende religiöse, rechtliche oder ethische Problemstellungen aufzuzeigen und – wie hier – eine scheinbar probate Lösung zu bieten. Zum Unterschied von Satiren in der klassischen antiken Literatur zielt die Form der rabbinischen Satire aber nie auf blossen Unterhaltungswert ab, sie soll durchaus erziehen. Auch die spätere Literatur bietet solche Lehrbeispiele Im Sefer hasidim finden sich moralisierende, heitere Anekdoten. Hier wird eine halachische Vorschrift (Verbot des Meineids) durch eine erheiternde und satirisch reichlich überzogene Schilderung in einem eher kurzen Text dem Publikum auf mühelose und doch recht anschauliche Weise nähergebracht (wer nur so dahingesagt schwört, bekommt ordentlich Dresche dafür!) Die völlig überzogene Groteske stellt sich zuletzt doch als tiefgründiges Lehrbeispiel dar. Ein verzeihlicher Verstoss eher gegen ethische Ansprüche wird als schwerer Gesetzesbruch gedeutet, der nach strengster Bestrafung schreit. Wichtigster Inhalt ist nicht so sehr die unvorsichtige Übertretung der Regel, vielmehr das gravierende, somit abschreckende Strafmass.
Satire taugt bei gezielter Anwendung durchaus zur Belehrung. Der Leser ist gefordert, sich zu fragen, ob er nicht gelegentlich unbedacht eine Schwurformel verwendet, dort, wo diese keineswegs angebracht, weil nämlich gänzlich überflüssig ist. Die Erzählung mahnt zu überlegtem Handeln in religiös-rechtlicher Sicht, zu ethisch richtigem Verhalten gegenüber einem Gastgeber, aber auch zu vorsichtiger Anwendung von Strafnormen nach einem regelkonformen Gerichtsverfahren unter Ablehnung von Selbstjustiz aus falsch eingeschätzter Machtvollkommenheit. Die Verbindung von Humor mit tiefsinniger Auslegung ist eine Eigenart rabbinischer Problemdarstellung und -lösung, die ihre Wirkung auf den angesprochenen Adressatenkreis wohl nicht verfehlte.
Nachlese
Dubrau 2009
Dubrau, Alexander, Rabban Jochanan ben Zakkai, in Das wissenschaftliche
Bibellexikon im Internet, Deutsche Bibelgesellschaft 2009,
http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/22632/, abgefragt 15.04.2025.
Sefaria
https://www.sefaria.org/Tractate_Derekh_Eretz_Rabbah.6.2?lang=bi,abgefragt
15.04.2025.
Stemberger 20119
Stemberger, Günter, Einleitung in Talmud und Midrasch, C.H.Beck, München, 2011.
Stemberger 20195
Stemberger, Günter, Der Talmud, Einführung Texte Erläuterungen, C.H.Beck,
München 2019.
Anmerkungen
1 Originaltext und Engl. Übersetzung in Sefaria Derekh Eretz Rabbah 6:1
2 Sefaria, Derekh eretz rabbah 6:2.
3 Sefaria, Randnote zu Derekh eretz rabbah 6.
4 Stemberger 20119, S. 254.
5 Dubrau2009, S. 1.
6 Stemberger 20195, S. 9.
7 Stemberger 20195, S. 171.
8 Dubrau 2009, S. 1-2.
9 Stemberger 20195, S. 132.
10 Stemberger 20195, S 140f und Stemberger 20219, S. 131.