Die Folgen des Holocaust werden gerne in die Vergangenheit verlegt, dabei haben Betroffene bis heute mit starken, existentiellen Emotionen zu kämpfen. Extreme Ängste und Verlassenheitsgefühle können jederzeit hochkommen. Wie damit umgehen?
Heute wollte mich Thomas Frankl, der als Kind versteckt war, dringend sprechen. Mein alter, geistig junger Bekannter wollte mir eiligst mitteilen, dass er „den ganzen Vormittag geweint“ habe; infolge des Lesens meines Artikels Du hast gerufen, der von Frankls manchmal exzessiven Telefongewohnheiten handelt. Ein Artikel, den er schon kennt, und der autorisiert war – aber der 90jährige vergisst gewisse Sachen manchmal. Einmal hatte er meinen Buchbeitrag Wir sind kein Holocaust-Museum über das Heeresgeschichtliche Museum Wien geistig verlegt, zu dem er Bilder seines Vaters beigesteuert hatte und wurde am Telefon etwas unwirsch. Ich musste erst zum Verlag, dann schleunigst zu ihm ins Altersheim laufen, um noch ein Buchexemplar zu bringen. An die Erlaubnis, dass ich die farbigen Bilder auch in schwarzweiss veröffentlichen durfte, erinnerte er sich dann glücklicherweise wieder! Schliesslich war Thomas Frankl nicht mehr unwirsch, sondern betrachtete freundlich das Buchcover von Kriege gehören ins Museum. Aber wie? und war von meinen guten Absichten überzeugt.
Aus Trauer weinen
In dem im DAVID erschienenen Artikel Du hast gerufen wird aufgezeigt, wie oft Thomas Leute anruft, ganz verzweifelt sofort jemanden sprechen will – eine befreundete, ihm zugeneigte Seele erreichen, bevor er quasi in einen seelischen Abgrund versinkt. Ein Verhalten, das der Schriftsteller Peter Paul Wipplinger eben als „Rufen“ bezeichnete. Mein Handy läutet: Thomas, erneut am Telefon, meint zuerst, er habe den ganzen Vormittag aus Trauer geweint, was mich seltsam stimmt, denn schliesslich habe ich den Artikel ja nicht geschrieben, um ihn traurig zu machen. Sondern auch, um ihm die ständigen Anrufe zu spiegeln, die mich manchmal erschöpft zurückzulassen. Niemand kann ein dermassen existentielles Defizit wie die wegen der Nazis fehlende Liebe seiner Eltern aus seiner Kindheit auffüllen. Die Bedrohtheit des Lebens eines Kindes von damals auflösen.
Ich schon gar nicht! Denn schliesslich habe ich eine Mutter, die denkt, man wäre gestorben, existentiell bedroht, im Krankenhaus… wenn sie einen nicht Stante Pede erreicht. Das tägliche mehrmalige Anrufen musste ich ihr mühsam abgewöhnen. Ein Jahr lang habe ich harten Herzens nicht abgehoben, alle Handy-Nachrichten gelöscht, die klangen, als wäre sie gerade am Sterben und Vergehen. Mit diesem speziellen Tonfall am emotionalen Kippen. Dann sah sie es endlich ein, dass sie mich nicht täglich bis zu zwanzigmal anrufen darf. Ich ging schon gar nicht mehr nach Hause, weil ich wusste, das Telefon würde ständig läuten. Wenn sie mich nicht erreichte, rief sie einfach alle fünf Minuten erneut an. Obsessives, überbordendes Verhalten aus extremer Einsamkeit als Kind heraus. Klammern, bis die andere Person keine Luft mehr kriegt. „Du bist eine Klette“, sagte ich zu ihr, denn ich komme mit ihrer oftmaligen Todesangst nicht zurecht.
Gut behütet
Das „den ganzen Vormittag aus Trauer“ geweint, wollte ich als Journalistin und als jahrzehntelange Bekannte nicht auf mir sitzen lassen und machte Thomas Frankl den Vorschlag, er hätte eventuell aus Rührung geweint. Aus Rührung, dass er so ein Schicksal hatte, als jüdisches Kleinkind sich vor den Nazis verstecken musste, sein Leben bedroht war – der Vater in Auschwitz, die Mutter ebenfalls versteckt, aber an einem anderen Ort als ihre Kinder. Aus Verlassenheit und Todesangst heraus suche Thomas Hilfe, momentane Ablenkung, sichere Momente, behauptete ich. Das Argument liess er auf sich einwirken. Nach langen Momenten der Stille kam schliesslich seine Reaktion: „Es tut mir gut, wenn ich weine, denn früher konnte ich gar nicht weinen.“ „Weinen ist auch ein Ventil“, bestätige ich, „es tut gut, etwas herauszulassen“. Erneute Stille in der Leitung. Inzwischen könne er schon „aus Freude“ weinen, resümierte er stolz. Aus Freude weinen?! Etwas getröstet für den Moment legte er auf.
Thomas hat sein späteres Leben der Erinnerung an seinen Vater gewidmet. „Früher war er nicht so, das kam erst in der Pension“, meinte seine Frau einmal kopfschüttelnd. Sie unterstützte ihn aber, während er in seiner kleinen Privatgalerie am Judenplatz Führungen machte und freundlich mit allen Menschen redete – immer den grossen, schwarzen Hut seines Vaters auf dem Kopf. Doch anstrengend war es bestimmt.
Am Abend des „Den ganzen Vormittag geweint“-Anrufs musste ich dann selbst weinen. Es ist so schwierig, einem „alten Kind“ Trost zu geben, man kann es nur versuchen, versuchen, versuchen. Die Riesenlücke an Liebe könnte vielleicht eine Therapeutin füllen, aber seine Ärztin von ESRA, der Wiener Initiative zur psycho-sozialen, therapeutischen und sozial-kulturellen Integration reagierte viel cooler. Sie meinte nur mehrmals, Thomas Frankl solle seine Galerie vergessen und an die Zukunft denken, als er aus Geldmangel und Alter heraus am Judenplatz schliessen musste. Es war so traurig. Ich schrieb wieder eine Reportage. Es nutzte nichts. Bis heute will niemand die Bilder seines Vaters Adolf (genannt „Dolfi“) Frankl übernehmen und ausstellen, die „Bürde“ tragen, finanziell einspringen. Thomas und seine Frau bleiben auf den hunderten Bildern sitzen. Eines schenkten sie gerade dem Altersheim Maimonides Zentrum, in dessen Gängen sehr schöne Bilder diverser Überlebender hängen.
Pressekonferenz zum Ende der Galerie Frankl am Judenplatz, organisiert von Kerstin Kellermann. Foto: Harald Stockinger, mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.
Adolf Frankl, Kinderbild, Thomas im alter von zwei Jahren. Mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.
Gemälde von Adolf Frankl. Rechte: Thomas Frankl. Abbildung mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.