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Einzelkämpfer gegen das Vergessen Federico Steinhaus und Meran Interview

Sabine Mayr

Federico Steinhaus, 1937 als Sohn von Lotti Goliger und Alfred Steinhaus in Meran geboren, war bis in die 2000er Jahre Präsident der von seinem Grossvater, Karl Steinhaus, 1919 mitbegründeten Jüdischen Gemeinde Meran. Unter den Rassengesetzen musste die Familie die Stadt 1939 verlassen. Federico Steinhaus studierte später in Florenz Politikwissenschaften. Unter seiner Leitung wurde das Jüdische Museum in Meran kürzlich neugestaltet.

 

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Federico Steinhaus. Foto: Privatarchiv Federico Steinhaus, mit freundlicher Genehmigung S. Mayr.

Inhalt

DAVID: Herr Steinhaus, Ihre Familie ist als eine der wenigen nach dem Krieg nach Meran zurückgekehrt. Gab es noch Kontakte zu anderen aus der einstigen jüdischen Gemeinde und ihren Nachkommen?

Steinhaus: Die wenigsten sind zurückgekommen. Ich bin 1937 geboren, in der Nachkriegszeit war ich ein 12-, 14-, 15-jähriges Kind. Meine Eltern waren beispielsweise mit Dr. Josef Kohn, unserem Hausarzt, und seiner Tochter Anna befreundet. Dr. Kohn war vor dem Krieg der Direktor des jüdischen Sanatoriums und auch der Arzt von Franz Kafka. Ferner waren wir mit Marco Schoki befreundet, dem Leiter der Bricha in Meran, der in dieser Hinsicht sehr viel geleistet hat. Unter den Juden, die überlebt haben und nach Meran zurückkamen, sind auch Mitglieder der Familien Götz und Bermann. Mein Vater war nach dem Krieg Sekretär der jüdischen Gemeinde.

 

DAVID: Ihre Mutter, Lotti Steinhaus, hat im berührenden, 1994 in der Edition Raetia erschienenen Band „Mein lieber Federico. Geschichte einer jüdischen Familie“ über das Leben der Familie Steinhaus in Karlsbad und Meran erzählt, über die Flucht und das Überleben als Internierte und im Versteck.

Steinhaus: Meine Mutter war ein lebendes Archiv. Sie hatte Erinnerungen an alle Tatsachen und Personen unserer Familie. Bereits in den 1980er Jahren habe ich ihr geraten: „Du weisst so viel. Warum schreibst Du nicht darüber?“ Sie hat ihr Wissen in Form eines Briefes an mich festgehalten, aber es war für sie ein sehr schmerzhafter Vorgang. Das Buch wurde ein Bestseller, bis heute zählt es zu den Lektüreempfehlungen an Südtiroler Schulen.

 

DAVID: Was wissen Sie über die Vorfahren Ihrer Mutter?

Steinhaus: Meine Grossmutter mütterlicherseits, Josefine Löwenhaar, wurde 1876 in Tarnopol in Galizien geboren. Sie war die Tochter von Rosa Kahane und Leiser Löwenhaar und heiratete Osias Goliger aus der Umgebung von Tarnopol, Sohn von Moses Goliger und Bassie Pasternak. Meine Mutter Chlothilde Goliger, wir alle nannten sie Lotti, wurde 1906 geboren. Meine Grossmutter besass im Karlsbader Residenzviertel ein mehrstöckiges Haus mit einem Geschäft. Ein Bruder des Grossvaters meiner Mutter aus Tarnopol hiess Jonas Pasternak. Aus dieser Linie stammen die Pasternaks aus Russland, darunter auch der Schriftsteller Boris Pasternak. Als dieser 1958 den Nobelpreis gewann, forschten Journalisten in den U.S.A. nach, ob es dort Angehörige gebe, und fanden Cousins von uns in New York. 

 

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Lotti und Alfred Steinhaus. Foto: Privatarchiv Federico Steinhaus, mit freundlicher Genehmigung.

 

DAVID: Was hat Ihre Mutter über ihre Kindheit und Jugend in Karlsbad erzählt?

Steinhaus: Meine Mutter hat nicht viel erzählt, weil ihre Kindheitsjahre für sie schmerzhaft waren, da sie 1911 eine Schwester verloren hat. Blanka wurde als 11-jährige Schülerin von ihrer Lehrerin bestraft und musste im Winter mehrere Stunden im Freien verbringen. An der dabei zugezogenen Lungenentzündung ist sie gestorben. Karlsbad (Karlovy Vary, heute Tschech. Republik) war ein internationaler, wichtiger Kurort, an dem Zionistische Weltkongresse stattfanden. Nach dem Zerfall des Kommunismus in der Tschechoslowakei bin ich zum ersten Mal mit meiner Mutter nach Karlsbad gefahren. Meine Mutter hat immer wieder hervorgehoben, wie sehr Meran Karlsbad ähnlichsehe. Wir haben im damals verwahrlosten Grandhotel Pupp gewohnt. 

DAVID: Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt?

Steinhaus: Meine Mutter hatte die Angewohnheit, zu Jom Kippur besondere Kekse zu backen, damit nach dem Besuch der Synagoge am Ende des Fastens gleich gegessen werden konnte. So hat sie meinen Vater kennengelernt. Mein Grossvater, Karl Steinhaus, 1879 in Tarnopol geboren, Sohn von Osias Steinhaus und Rosa Rosenfeld, führte mit seiner Frau Irma eine Boutique an der Alten Wiese, der Promenade für die Kurgäste, an der sich Kaffeehäuser und Geschäfte befanden. Meine Grossmutter, Irma Ellenbogen, wurde 1878 in Csejte (heute Čachtice) in der Slowakei geboren. Ihre Schwester Olga Mandel starb 1998 in Meran im Alter von 108 Jahren.

 

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Irma Steinhaus-Ellenbogen mit ihren Söhnen Alfred (li.) und Ernst in den 1920er Jahren. Foto: Privatarchiv Federico Steinhaus.

 

DAVID: Wann und warum haben Ihre Grosseltern ein weiteres Geschäft in Meran eröffnet?

Steinhaus: Da die Hochsaison in Meran im Winter und in Karlsbad im Sommer war, haben meine Grosseltern 1909 eine Galanterie- und Lederwarenhandlung an der Winterpromenade in Meran eröffnet, die sich mit ihrem Geschäft in Karlsbad gut verbinden liess. Nach 112 Jahren, die Kriegszeit ausgenommen, wurde das von meinem Vater und dann von mir weitergeführte Geschäft vor Kurzem geschlossen. Als die Nazis im Jahr 1938 die Tschechoslowakei nach und nach überfielen, zogen meine Grosseltern und Eltern dauerhaft nach Meran, aber sie wurden durch die faschistischen Gesetze auch von dort ausgewiesen. Bis 1938 hat die Kultusgemeinde vielen Flüchtlingen mit Geld und ­kleinen Handelstätigkeiten geholfen. Am Vigiljoch oberhalb von Lana gab es auch ein jüdisches Schulheim, das von 1933 bis 1938 Kinder von Flüchtlingen beherbergte. Nach unserer Flucht aus ­Meran im August 1939 waren wir zunächst in der Provinz Potenza interniert, später in Venosa und Cortona in der Provinz Arezzo. Internierte haben in faschistischen Internierungslagern ein staatliches Taschengeld be­kommen und durften sich religiös oder zionistisch organisieren.

DAVID: Wie bewerten Sie das Verhalten von Südtirolern?

Steinhaus: Im September 1943 haben Südtiroler die Nazis wie Befreier begrüsst. Das ist erforscht und dokumentiert. Dass Südtiroler dabei behilflich waren, jüdische Einwohner Merans festzu-
nehmen und zu deportieren, ist ebenfalls dokumentiert. Nach dem Krieg wurden Wertsachen und Einrichtungsgegenstände der Verfolgten in Wohnungen von Südtirolern wiedergefunden.

 

DAVID: Wie entwickelt sich die heutige jüdische Gemeinde in Meran?

Steinhaus: Sie ist eine sehr kleine Gemeinde mit einer engagierten Präsidentin. Die Mitglieder leben in Südtirol und im Trentino und daher weit verstreut, was für das Gemeindeleben eher schwierig ist. Aber es wird versucht, die jüdische Kultur und Religion weiter zu stärken – was noch besser gelänge, wenn wieder mehr jüdische Gäste nach Meran kämen. 

 

DAVID: In Südtirol galten Sie lange als Einzelkämpfer in einem teilweise antisemitischen Umfeld. Als Erster haben sie die NS-Verfolgung der vernichteten jüdischen Gemeinde erforscht und dokumentiert. Auch Ihre weiteren Publikationen zur jüdischen Geschichte, zu Antisemitismus und Gedenkkultur, allesamt also mit historisch-politischem Schwerpunkt, brachten dem jüdischen Standpunkt in Südtirol öffentliche Wirksamkeit ein. Für Ihr Buch „Ebrei/Juden“ aus dem Jahr 1995 schrieb Simon Wiesenthal ein Vorwort. 

Steinhaus: Ich habe versucht, zu machen, was ich konnte, und hoffe, dass es etwas bewirkt hat und weiter bewirkt. Was ich erreicht habe, ist, dass sich die Haltung der Südtiroler Politik und im Allgemeinen der Südtiroler der jüdischen Kultusgemeinde gegenüber sehr geändert hat: zum Positiven. Wir hatten gleich nach Kriegsende die Magnago-Ära, eine Zeit, in der es sowohl in der Bevölkerung als auch in den Institutionen noch viel Antisemitismus gab. Zwei Südtiroler Politiker haben mir geholfen, diese Situation zu bekämpfen. Das waren der Bürgermeister von Meran Franz Alber und der Land­tags­abgeordnete der Südtiroler Volkspartei Hugo Frasnelli. Beide sind mutige Menschen und beiden bin ich dankbar verbunden für die Hilfe, die sie mir geleistet haben. Nach Silvius Magnago wurde 1991 Luis Durnwalder Landeshauptmann. Damals waren wir in einer Übergangszeit, aber mit der jetzigen Südtiroler Regierung und den Südtiroler Politikern haben wir die besten Erfahrungen gemacht. Wir haben keine Probleme und werden als Kultusgemeinde respektiert. Im Vergleich zu anderen italienischen und europäischen Regionen gibt es hier viel weniger Antisemitismus und Hass gegen Israel als woanders.

 

DAVID: Welche Erfahrung aus der Zeit Ihrer Präsidentschaft hat sich besonders eingeprägt?

Steinhaus: Meiner Ansicht nach war das Wichtigste, was wir als Kultusgemeinde erreicht haben, die Errichtung eines jüdischen Museums. Mitte der 1990erJahre haben wir erstmals an einem solchen Museum gearbeitet und es mithilfe einer Landesfinanzierung dann auch im Tiefgeschoss der Synagoge realisiert. Im vorigen Jahr hat uns das Land wieder eine gross­zügige Finanzierung zuerkannt, mit der wir das Museum umgewandelt haben. Die Darbietung war im Laufe der Zeit nicht mehr aktuell. Das neue Museum richtet sich hauptsächlich an die Jugend, damit sie erfährt, was geschehen ist und warum, und wie man Vorurteile und Ignoranz bekämpfen kann. In dieser Hinsicht kommen seit vielen Jahren sehr viele Schulklassen in die Synagoge und ins Museum. In der Zeit meines Vorsitzes sind noch viele ehemalige europäische Juden zu den Hohen Feiertagen nach Meran gekommen. Das fehlt uns heute. Die Zeit vergeht leider für alle.

 

Sehr geehrter Herr Steinhaus, vielen herzlichen Dank für das interessante Gespräch!

 

Sabine Mayr führte das Interview am 13. 8. 2025 für ­DAVID.

 

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Vermutlich Josefine Goliger-Löwenhaar mit drei ihrer Kinder: Lotti, Max und Gisela, Lela genannt. Lottis hier nicht abgebildete Brüder Karl und Ludwig wurden in der Shoah ermordet. Rechte: Privatarchiv Federico Steinhaus.