Wir stehen am Beginn eines neuen jüdischen Jahres – Rosch Haschana. Der Tag, an dem die Welt – nach unserer Überlieferung – geschaffen wurde. Kein kosmisches Jubiläum mit Feuerwerk und Sekt, sondern ein feierlicher Ruf an jeden Einzelnen: „Steh auf, Mensch, und schau dich um!“ Denn das ist es, worum es heute geht: Um das Aufstehen. Um das Hinschauen. Und um das Hinhören. Der Schofar ruft uns. Und vielleicht fragen sich manche: Was soll dieser altertümliche Klang? Warum diese Widderhörner – warum kein Chor? Keine melodiösen Gesänge? Weil der Schofar die Aufgabe hat, uns aus dem Alltag herauszureissen. Aus der Routine. Aus dem Trott, den wir oft für Leben halten. Der Klang des Schofars ist kein Konzert. Es ist ein Weckruf. Ein Ruf an unser Gewissen, ein Ruf an unsere Verantwortung. Und vielleicht ist es gerade seine Unvollkommenheit, die uns daran erinnert, dass es im Leben nicht um Perfektion geht – sondern um Echtheit.
Rosch Haschana ist nicht einfach nur „Neujahr“. Im Hebräischen heisst es „Jom Hadin“ – der Tag des Gerichts. Das klingt dramatisch, aber gemeint ist ein Gericht, bei dem niemand verloren gehen soll. Der Ewige fragt uns nicht: Hast Du alles richtig gemacht? Er fragt: Warst Du Du selbst? Hast Du gelebt mit Herz? Hast Du vergeben – anderen Mitmenschen und auch Dir selbst? Unsere Weisen lehren: „Teschuwa, Tefilla, u’Tzedakka – Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit – können das strenge Urteil wenden.“ Diese Worte sind eine Einladung, aktiv zu werden – für sich selbst und für andere. Umkehr heisst nicht, die Vergangenheit zu löschen – sondern, ihr einen neuen Sinn zu geben. In einer Zeit, in der so viele Menschen sich orientierungslos fühlen, sagt uns unsere Tradition: Du bist nicht verloren. Du bist gefragt.
Ein jüdischer Gelehrter hat einmal gesagt: „G‘tt gab dem Menschen ein Gedächtnis, damit er sich erinnern kann – und eine Zukunft, damit er sich bessern kann.“ Diese beiden Dinge kommen heute zusammen: das Erinnern – und die Hoffnung. Dabei stellen wir uns die Frage: Wem muss ich vergeben, damit ich wieder aufrecht gehen kann? Wen habe ich verletzt – vielleicht mit einem Blick, einem Wort, einem Schweigen? Welche Entscheidung in meinem Leben wartet darauf, endlich getroffen zu werden? Der frühere bekannte deutsche Rabbiner Leo Baeck sagte einmal: „Glauben heisst: in der Welt G‘ttes stehen und sich selber zur Frage machen.“ Und das ist es, was Rosch Haschana von uns verlangt: Dass wir uns selber zur Frage machen. Dass wir nicht nur hoffen, ein gutes Jahr zu bekommen – sondern dazu beitragen, dass es ein gutes Jahr wird. Im Talmud heisst es, dass an Rosch Haschana drei Bücher geöffnet werden: eines für die vollkommen Gerechten, eines für die vollkommen Schlechten, und ein grosses Buch für die dazwischen. Für uns. In dieses Buch schreibt nicht nur der Ewige – auch wir schreiben mit: mit jedem Gedanken, jedem Schritt, jedem Versuch, ein besserer Mensch zu sein.
Was wünschen wir uns für das neue Jahr? Den Mut zur Ehrlichkeit, auch wenn sie unbequem ist. Die Kraft zum Verzeihen, auch wenn es wehtut. Freude an der Tradition, auch wenn wir sie nicht immer ganz verstehen. Und den Glauben daran, dass das Gute nicht naiv ist – sondern notwendig. Denn wir Juden – wir leben von der Hoffnung. Nicht von der Vergangenheit allein. Sondern vom Vertrauen, dass auch morgen ein Anfang möglich ist. Am Nachmittag des ersten Rosch Haschana-Tages machen sich viele von uns auf den Weg an einen Fluss, einen Bach, ein Stück fliessendes Wasser. Dort, an einem ganz irdischen Ort, begegnen wir etwas ganz Geistigem: unserem eigenen Gewissen. Der Brauch heisst „Taschlich“, vom hebräischen „wetaschlich bemetsulot jam kol chatotam“ – „Du wirst all ihre Sünden in die Tiefen des Meeres werfen“, sagt der Prophet Micha (7:19). Aber was heisst das? Können wir unsere Verfehlungen wie Brotkrumen einfach abschütteln, ins Wasser werfen – und sind sie dann verschwunden? Nein. Es geht nicht um Magie, sondern um Symbolik. Wir gehen hinaus, weil wir innerlich aufbrechen wollen. Wir stehen am Wasser, weil wir bereit sind, das Alte loszulassen. Und wir werfen – nicht Sünden, sondern unsere Ausflüchte, unsere Selbstgerechtigkeit, unser Schweigen, wo wir hätten reden sollen.
Taschlich ist wie ein kleiner Exodus – wir verlassen für einen Moment unser gewohntes Denken. Und wir kommen zurück mit etwas weniger Ballast. Wenn wir am Wasser stehen, dann nehmen wir uns einen Moment der Stille. Denken nicht nur an das, was wir bereuen – sondern denken auch an das, was wir besser machen wollen. Wen wir anrufen sollten. Wem wir vergeben möchten. Und worauf wir im neuen Jahr hoffen. Denn Rosch Haschana sagt uns: Jeder Mensch hat einen Neuanfang verdient.
Möge dieses neue Jahr für uns ein Jahr sein, in dem wir nicht nur über das Leben reden – sondern es leben. Ein Jahr, in dem wir aufeinander zugehen. Ein Jahr, in dem wir still werden – und doch mutig sprechen. Ein Jahr, in dem wir lachen, weinen, beten, zweifeln – und trotzdem glauben.
Schana towa u-metuka – Ein gutes, süsses, gesegnetes Jahr für Sie alle!