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Erno Erbstein (1898 –1949) Fussballpionier, Shoah- Überlebender, Unfallopfer

Fabian Brändle

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Ernő Erbstein, 1938.
Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://de.wikipedia.org/wiki/Ern%C5%91_Erbstein#/media/Datei:Egri_Ern%C5%91.jpg

Inhalt

Ernő Erbstein (auch Ernest Egri-Erbstein) wurde im Jahre 1898 in Nagyvárad (Grosswardein, Österreich-Ungarn, heute Oradea, Rumänien) geboren. Über Herkunft, Kindheit und Jugend ist trotz der akribischen Nachforschungen des Biographen Ernő Erbsteins, Dominic Bliss, sehr wenig bekannt. Noch im Teenageralter zog sich Erbstein das Leibchen des Budapester AK (Budapesti AK) über. Der Verein war eher Durchschnitt in der ungemein starken ungarischen Meisterschaft und geriet prompt in sportliche und wirtschaftliche Nöte. Ernő Erbstein, laufstark, phasenweise grob, ja überhart und physisch austrainiert, kam in erster Linie in der Läuferreihe des BAK zum Einsatz. Nachdem BAK abgestiegen war, verliess der frustrierte Ernő Erbstein den Verein und das Land, um im Jahre 1922 in Arad in Rumänien anzuheuern. Weite Teile des neuen Nationalstaats Rumänien hatten bekanntlich vor 1918 zu Ungarn gehört, und es existierte eine bedeutende magyarische Minderheit namentlich in Siebenbürgen. Ernő Erbstein erhielt sogar ein Aufgebot für die rumänische Nationalmannschaft, kam aber als Ersatzmann nicht zum Einsatz. Im Jahre 1924 wechselte Ernő Erbstein zu Olympia Fiume (Rijeka), einem starken Profiklub. Fiume/Rijeka gehörte seit der Besetzung unter dem rechtsextremen, nationalistischen, irredentistischen Dichterfürsten und romantischen Kriegshelden Gabriele D‘Annunzio zum Italien des faschistischen „Duce“ Benito Mussolini. Nach lediglich einem Jahr wechselte Ernő Erbstein als Fussballlehrer zur AC Vicenza im Veneto, einem eher biederen Zweitligisten, ehe die so genannte Carta di Viareggio italienischer Sportfunktionäre von 1926 Ausländern das Kicken im italienischen „calcio“ aus xenophoben Gründen untersagte. Fremde Trainer freilich waren weiterhin (noch) willkommen. 

 

Ernő Erbstein spürte indessen den aufkommenden Antisemitismus in Europa und übersiedelte nach Palästina, wo eine recht schlagkräftige jüdische Profimannschaft gegründet worden war, die auch durch die U.S.A. tourte. Der harte, taktisch kluge Läufer spielte anschliessend selbst in Amerika für die Brooklyn Wanderers in New York. Im Jahre 1928 kehrte Ernő Erbstein trotz aller Warnungen als Trainer nach Europa zurück und übernahm mittelmässige italienische Teams, beispielsweise AS Bari, Nocerina, CS Cagliari, mit dem er in die Serie A aufstieg. In Lucca hatte er bei Lucchese Libertas noch mehr Erfolg. Er führte den Verein in die Serie A, etablierte sie dort im Mittelfeld der Tabelle und brachte mit Aldo Olivieri sogar einen künftigen Weltmeister (Torwart) von 1938 heraus. Im Jahre 1938 übernahm Ernő Erbstein das Topteam der AC Torino und führte dieses sogleich auf den zweiten Platz, ehe er wegen der faschistischen Rassengesetze das Land verlassen musste und zurück nach Ungarn ging, wo er die eliminatorische Judenverfolgung teilweise in „Arbeitslagern“ überlebte. Erbstein wirkte in dieser Zeit weiterhin aus der Ferne als Berater der AC Torino, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg sofort zum „Toro“ zurück und baute das „Grande Torino“ des charismatischen Präsidenten Ferruccio Novo rund um die bei-
den Nationalspieler Ezio Loik und ­Valentino Mazzola auf, jenen „Toro“, der Italiens „calcio“ während der 1940er Jahre beinahe nach Belieben dominierte, ehe das gesamte Team und der Funktionärsstab, darunter auch der Trainer Ernő Erbstein“, im Mai 1949 beim unheilvollen Flugzeugabsturz von Superga auf dem Rückflug von Lissabon tragischerweise ums Leben kamen. Erbstein hatte seine Mannschaft jeweils akribisch vorbereitet (System WM), führte illustrierte Notizbücher und arbeitete an den Schwächen der einzelnen Spieler. Er gilt heute als vergessener Pionier („forgotten pioneer“, Dominic Bliss) des modernen Weltfussballs. Ernő Erbstein war nur 51 Jahre alt geworden. 

 

Nachlese

Bliss, Dominic: Erbstein. The Triumph and Tragedy of Football´s Forgotten Pioneer. London 2014.

Wilson, Jonathan: The Names Heard Long Ago. How the Golden Age of Hungarian Football Shaped the Modern Game. London 2019.