Die Familie Wyler in Uster
Die Stadt Uster liegt im kulturell und wirtschaftlich eigenständigen Zürcher Oberland wie ein eher nobler Zürcher Vorort; mit der S-Bahn ist sie in zehn Minuten erreichbar. Um 1830 war das damalige Grossdorf Uster noch ein Zentrum der radikaldemokratischen Zürcher Opposition („Ustertag“, Brand von Uster) und bis heute fühlen sich alteingesessene Ustermerinnen und Ustermer durchaus unabhängig von der Stadt Zürich. Sie blicken mit Stolz auf die bisweilen turbulente Vergangenheit und frühindustrielle Bauten wie Fabriken und einen Kanal. Zu den Besonderheiten des reformierten Uster zählt auch die starke freikirchliche Präsenz. Der Übergang zu Sekten ist allerdings fliessend; die im 19. Jahrhundert schweizweit gewährte Religionsfreiheit wurde weidlich ausgenutzt. Jüdinnen und Juden hingegen erhielten in der Schweiz erst später, 1866, die vollen Bürgerrechte, und tendenziell siedelten sie eher in städtischen „communities“ wie St. Gallen oder Zürich. Die Eheleute Max Wyler (1915–2015) und Ilse Wyler-Weil (1931–2018) lebten etwas isoliert in Uster und wurden gleichsam als Exoten immer wieder in Zürcher Zeitungen portraitiert. Die Wylers führten eine florierende Viehhandlung nahe beim Schloss.
Die jüdische Familie Wyler stammte aus dem aargauischen Endingen im Surbtal. Seit dem Jahre 1612 ist dort eine „Judenschaft der Grafschaft Baden“ nachgewiesen, die, zumeist arm, vom Hausier- und Viehhandel lebte. Wie funktionierte diese Interessensgemeinschaft? Der jüdische Händler wählte eine gute, trächtige Kuh aus, und der christliche Bauer pflegte sie. Das Kalb wurde dann verkauft und der Gewinn „ins Halbe“ geteilt. Der Bauer profitierte von Zug-, Milch- und Düngerleistung, während der Viehhändler nicht extra einen Stall mieten musste. Solche Geschäftsbeziehungen hielten sich oftmals über Generationen. Nach dem Erlangen der Niederlassungsfreiheit 1866 verliessen viele aargauische Viehhändler Endingen und Lengnau. Max Wylers Vater ging wohl um 1900 fort und gelangte 1918 nach Uster; die wachsende Grossstadt Zürich brauchte Fleisch und Milchprodukte. In Uster fing die Familie mit etwa 50 Stammkundenfamilien sehr bescheiden an; die kleine jüdische Gemeinde Winterthur bot Kontaktmöglichkeiten. Religiösen Rat und Unterweisung holte man sich in Zürich, das schon damals per Zug bestens erreichbar war. 1862 war dort die Israelitische Cultusgemeinde gegründet und im Jahre 1884 die Synagoge an der Löwenstrasse gebaut worden. So konnte die Familie auch in Uster ein traditionelles, frommes jüdisches Leben führen.
Uster 1947. Foto: Werner Friedli. ETH-Bibliothek_LBS_H1-009794, Link: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000351932. Quelle Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ETH-BIB-Uster-LBS_H1-009794.tif?page=1
Im Jahre 1933 teilten der noch nicht ganz zwanzigjährige Max Wyler und seine beiden Brüder Firmeninventar und Stammkundenbereiche untereinander auf. Max Wyler wäre lieber Tierarzt geworden, so aber kaufte er auf Berner Oberländer Tiermärkten Vieh ein und verkaufte je nach Bestellung in der Region. Ilse Wyler-Weil, im Jahre 1939 als Flüchtlingskind aus dem badischen Breisach in die Schweiz gelangt, fügte sich bestens in den doch eher beschaulichen Ustermer Alltag ein. Das Paar hatte vier Kinder und lebte religiös, so gut es eben ging. Das Geschäft umfasste auch einen kleinen Bauernbetrieb und mehrere Angestellte. Bis ins hohe Alter hinein blieb Max Wyler als Viehhändler aktiv. Er gehörte gleichsam zum Ortsbild von Uster und reiste weiterhin mit dem Auto zu den Viehmärkten, denn sonst wäre ihm das Leben „allzu langweilig geworden“.
Nachlese
Kaufmann, Robert: Die jüdische Familie Wyler in Uster. In: Doswald, Cornel/Claudia Fischer-Karrer/Peter Niederhäuser/Wolfgang Wahl: Zwischen Tradition und Innovation. Gesichter des Zürcher Oberlandes. Zürich 2025.