„Die sind wie Amerikaner, nur schwermütiger“ lautet eine Beschreibung, und eine andere ergänzt: „Eben so eine Art Franzosen…“
Das klingt als Einleitung, zugegeben, noch etwas vage. Lokalisieren wir zunächst den Schauplatz. Wir befinden
uns in Saint Louis im U.S.- Bundesstaat Missouri und schreiben das Jahr 1869. Im grossen Flusshafen des Mississippi, in dem stündlich die imposanten Riverboat-Raddampfer anlegen, beginnt für zahlreiche Siedlertrecks aus dem Osten die gefährliche Reise in die unbekannten Weiten des Wilden Westens. Ein Cowboy soll dort aus Europa geflohene Juden abholen, über deren Wesen er nicht Bescheid weiss, weshalb er sich bei den Einheimischen über sie informiert. Mit Cherokees und Apachen kennen er und sein Pferd sich aus, aber wie erkennt man Juden? Als schwermütige Amerikaner, die ansonsten eher Franzosen gleichen? In Baltimore, berichtet eine Lady, habe sie welche gesehen, die Bärte und schwarze Kleidung trugen und sie an die Volksgruppe der Amischen erinnerten. Mit einem Colt könnten sie nicht umgehen, meint ein grobschlächtiger Kerl, dafür seien sie jedoch gebildet und würden „das Volk des Buches“ genannt. Ihre Religion sei ihm ein Buch mit sieben Siegeln, bekennt ein Südstaatengentleman, während er sich eine Zigarre anzündet, „Verglichen mit denen sind selbst die Mormonen Saloontänzerinnen…“
Um naheliegende Fragen nach politisch unkorrekter Darstellung ethnischer Gruppen vorzubeugen, muss man an der Stelle erklären, dass wir uns in einem humoristischen Comic befinden. Genauer gesagt auf der Seite neun desselben. Das Abenteuer heisst nicht ganz bezuglos Das gelobte Land und sein Hauptheld ist Lucky Luke, ein schlaksiger Cowboy mit glänzend schwarzer Rock’n’Roll-Tolle, der seinen Revolver schneller ziehen kann als sein Schattenbild das tut, und das seit 1946. Sein Schöpfer war ein Belgier mit dem Künstlernamen Morris (Maurice de Bévère), der neun Jahre lang auch die Texte zu den Geschichten verfasste, bis er 1955 mit dem Franzosen René Goscinny einen Besseren dafür fand. Goscinnys bekanntester Comic wurde ab 1959 die von ihm getextete und von Albert Uderzo gezeichnete Erfolgsserie Asterix. Goscinny entstammt einer jüdischen Familie, seine Vorfahren kamen aus Polen und der Ukraine, aufgewachsen ist er in Argentinien, den U.S.A. und Frankreich. Für Lucky Luke gilt, ebenso wie für Asterix, Isnogud oder andere von Goscinnys Figuren, dass sich die Dramaturgie stets parodistischer Überformung anpassen muss. Während manche Comics ethnische Klischees zu dekonstruieren suchen, setzt Goscinny, um dasselbe zu erreichen, auf deren Überbetonung. Somit konnte sich die Leserschaft in allen in den Geschichten vorkommenden Ethnien wiederfinden, ohne die sanfte, manchmal auch starke Überzeichnung zu hinterfragen. „Wir tragen unsere kulturelle Charakteristik wie eine Schutzschicht gegen die fremde Umgebung. Sie wärmt uns, wenn alles andere kalt und unvertraut ist“ schreibt der englische Philosoph Simon Critchley.1
37 Alben dauerte die Zusammenarbeit des kongenialen Duos, bis Goscinny 1977 verstarb. Seit dieser Zeit wechseln die Autoren und nach dem Tod von Morris 2001 übernahm Achdé (Hervé Darmenton) die graphische Darstellung. Das gelobte Land (La Terre Promise) entstand 2016 als 95. Album, die Geschichte stützt sich auf einen nicht verwendeten szenischen Entwurf von Morris, getextet wurde der Band erstmals von Jul (Julien Lucien Berjeut).
Ähnlich wie bei Asterix fusst das dramaturgische Prinzip bei Lucky Luke darauf, ein Grundstereotyp mit leichten Variationen zu wiederholen. In Das gelobte Land geleiten der Cowboy und sein Pferd Jolly Jumper wieder Immigranten durch die Gefahren des Westens sicher an ihren neuen Ort. Diesmal ist es eine ethnische Gruppe, die 70 Jahre lang in der Serie nicht vorkam, obwohl sie elementar zur Geschichte Amerikas gehört. „1869 hatten die meisten Amerikaner noch nie einen Juden gesehen“, heisst es zu einem Bild, auf dem das sinistre Paar aus dem Gemälde von American Gothic von Grant Wood im Vordergrund zu sehen ist, einem der meistzitierten Motive amerikanischer Malkunst.2 Im Folgenden wird erklärt, dass sich in jener Zeit zahlreiche Juden aus dem osteuropäischen Raum und Russland auf den Weg machten, um vor Not und Verfolgung in die U.S.A. zu fliehen. Dem Beispiel von Goscinny folgend, würzt Jul seine Geschichte mit kulturhistorischen Zitaten und dem Cameo-Auftritt von Prominenten. So erkennen die Leserinnen und Leser Albert Einstein, die Marx Brothers, Sigmund Freud, den Börsenbetrüger Bernard Madoff sowie die Vorfahren der Schöpfer der Comicserien Superman und Batman, die bezeichnenderweise in Gotham City einwandern. Vertreter der Psychoanalyse lassen sich in Analyst Gulch nieder, der wie stets liebevoll konzipierte Subtext unter dem Ortsnamen lautet: „Wer sich hier hinlegt, steht nicht mehr auf.“
Die von Lucky Luke eskortierte Familie Stern ist dem ultraorthodoxen Judentum zuzuordnen und besteht aus dem weissbärtigen Grossvater Moishe, dessen knapp vor seiner Bar-Mizwa stehenden Enkel Jankel, der zwanzigjährigen Enkelin Hanna sowie Moishes Frau Rachel, eine jüdische Mame, die auch in Telegrammen, die lediglich ihre Ankunft künden sollen, nicht mit praktischen Ratschlägen spart: „Herbst naht – stop – Geh nicht aus dem Haus ohne Mütze und Schal, die ich geschickt habe – Stop“. Ganz in der Tradition der Serie wird das Quartett als freundliche Karikatur gestaltet, dazu gehört auch die Intonation in den Sprechblasen: „Moishe, lejh mir dejnen Arm!“ Auch die Belletristik ist sich nicht zu fein, solche Stilmittel anzuwenden. So übersetzte man den von starkem deutschem Akzent geprägten „Kauderwelsch eines polnischen Juden“ des Barons de Nucingen aus Honoré de Balzacs Roman Glanz und Elend der Kurtisanen auch im Deutschen phonetisch, etwa wenn er feststellt: „Si heren jo gar nich zu!“3
Die Anspielungen auf jüdische Themen sind in Das gelobte Land mannigfach und appellieren mit Augenzwinkern an die versierte Leserschaft. Als er gefragt wird, ob er schon einmal kampiert habe, antwortet Moische: „Ich persenlich nicht, aber Loite aus mejner Mischpoche habn es schon getan…“, worauf seine Frau klarstellt: „Moische, das war in Egypten und ist schon 3500 Jahre her“. Ein Saloon heisst „Golden Calf“ und die textile Errungenschaft eines Verwandten wird so besprochen: „Hosen von Levi Strauss? Das wird eijne Plejte!“ Manche Details bieten Doppelbödigkeit. Mit Hannas Frage „Warum trägt dieser Mann einen Stern?“ ist der Sheriff von Chelm City gemeint, die schmerzvolle Assoziation zu einem ganz anderen Sechseck fällt natürlich nicht schwer. Allerdings ist es hier ein jüdischer Sheriff und das Album zeigt am Ende auch ein historisches Foto von Charles Moses Strauss (1840 – 1892), der 1882 in Tucson/Arizona als erster jüdischer Einwohner zum Bürgermeister gewählt wurde. Beschliesst bei Asterix das obligate Festbankett jede Geschichte, reitet Lucky Luke auch diesmal zur Melodie von „I’m a poor lonesome cowboy far away from home“ auf seinem Schimmel in den Sonnenuntergang. In diesem Fall ergänzt durch ein „Ojojojoj“ von Jolly Jumper. Muss man hinzufügen, dass der Kaktus, den sie passieren, sieben Arme hat?
Ähnlich wie bei den Fortsetzungsbänden der Asterix-Reihe wissen Lucky Lukes Fans, was sie in Das gelobte Land erwartet: Eine Geschichte im Stil des bewährten Prägemusters der Entstehungszeit unter Einbezug tradierter Running Gags. Klischees sind erlaubt, Bösartigkeiten streng verboten. Oberste Direktive ist es, humoristisch gut zu unterhalten. Man kann, wenn man will, darüber streiten, ob man manche ethnische Stereotype als rassistisch interpretieren will. Die Komödie ist jedoch, ob nun bei Jul, Goscinny oder Balzac, definitiv nicht g‘ttlich, sondern (allzu) menschlich konzipiert.
Das gelobte Land ist der Versuch, jüdische Thematik homogen in das Lucky Luke-Universum einzugliedern und darf als Bereicherung desselben angesehen werden. Welche Religion ausser der jüdischen hat schliesslich die Gnade, über die eigenen Unzulänglichkeiten lachen zu können? Denn, so formulierte schon Sigmund Freud, „sie kennen ihre wirklichen Fehler wie deren Zusammenhang mit ihren Vorzügen, und der Anteil der eigenen Person an dem zu Tadelnden schafft die sonst schwierig herzustellende subjektive Bedingung der Witzarbeit. Ich weiss übrigens nicht, ob es sonst noch häufig vorkommt, dass sich ein Volk in solchem Ausmass über sein eigenes Wesen lustig macht.“4
Das Lachen trennt hier also nicht, sondern es verbindet. „Es gibt bekanntlich nichts Entwaffnenderes als das Lachen“ bestätigt der französische Philosoph Henri Bergson.5 Aus Unterschieden werden durch das miteinander Lachen Gemeinsamkeiten. Schliesslich: Wenn man uns sticht, bluten wir nicht? Wenn man uns kitzelt, lachen wir nicht? Und sind wir nicht alle manchmal wie Amerikaner, nur schwermütiger. Eben eine Art Franzosen…?
Anmerkungen
1 Simon Critchley, Über Humor, Wien 2002, S. 82.
2 Alle Zitate, wenn nicht extra angeführt, entstammen: Achdé/Jul, Lucky Luke – Das gelobte Land, Berlin 2016. Lucky Luke erscheint im deutschsprachigen Raum bei Egmont Ehapa Media.
3 Honoré de Balzac, Glanz und Elend der Kurtisanen, München 2022, S. 303.
4 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Frankfurt am Main 1983, S. 91.
5 Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt 1988, S. 91.
Alle Abbildungen: Copyright Lucky Comics/ Egmont Ehapa Media, mit freundlicher Genehmigung.